10. Kapitel
10. Kapitel
Der Vormittag verstrich, ohne dass Mr Smug uns auch nur einen finsteren Blick zugeworfen hätte. In der Tat schien er uns sogar regelrecht vergessen zu haben. Weder hielt er nach uns Ausschau, noch beachtete er uns, als unsere Wege sich während der Pause kreuzten. Er schien uns nicht zu kennen.
Trotzdem ließen wir deshalb noch lange keine Unachtsamkeit walten, im Gegenteil: Misstrauisch geworden ließ ich ihn während der Pause nicht mehr aus den Augen, entdeckte jedoch nichts Sonderbares.
Auch als eine Aufsichtsperson Timo und mich zum Cafeteriaputzen begleitete (natürlich erst nach der sechsten Stunde), war von Smug keine Spur zu sehen. Da ich damit gerechnet hatte, dass er uns auf Tritt und Schritt verfolgen würde, damit wir ihm ja nicht entwischen konnten, machte mich seine Abwesenheit nur noch mehr nervös. Was plante er bloß für einen Hinterhalt?
„Hier. Fang besser an zu putzen, als Löcher in die Luft zu starren“, riet mir die Aufsicht und drückte mir einen Wischmopp in die Hand. „Besser, ihr werdet diesmal fertig, sonst wird die Direktorin wohl ein paar Worte mit euren Eltern wechseln müssen.“
„Wenn meine Eltern noch wissen, wer ich bin, ist ja alles gut!“, knurrte ich zur Antwort und machte mich an die Arbeit. Vor fast neun Jahren hatten meine Eltern mich an dieses Internat abgegeben und um ehrlich zu sein: Ich wusste nicht mehr, wer sie waren.
„Die sollen erst einmal versuchen, meine Eltern zu finden“, wisperte Timo mir zu und wir beide lachten über einen geheimen Witz, den unsere Aufsicht nicht verstand.
„Was ist eigentlich mit Lynns Eltern?“, erkundigte Timo sich leise.
„Sie besucht sie manchmal in den Ferien.“
„Dann wird ihren Eltern bestimmt auffallen, dass sie weg ist, oder?“
„Nein, denn bis dahin haben wir sie wieder befreit“, wisperte ich zurück.
„Über was redet ihr da?“, fragte die Aufsichtsperson und musterte uns, als würden wir kriminelle Pläne schmieden.
„Wir reden über Lynn“, erklärte Timo. Seine Offenheit erschreckte mich zuerst, bis mir klar wurde, dass Timos Auskunft eigentlich vollkommen harmlos war.
„Ist das nicht das Mädchen, das schon seit fast einer Woche die Schule schwänzt?“, fragte unsere Aufsicht.
„Ja. Nur dass sie nicht schwänzt, sondern spurlos verschwunden ist! Macht sich denn keiner Sorgen?“, fragte ich leicht verärgert.
„Nein, wieso denn? Das passiert doch häufiger. Früher oder später, wenn sie die Lust verloren haben, tauchen sie alle wieder auf. Ich sage euch: In spätestens einer Woche ist sie wieder hier.“
„Na klar!“, murrte ich und putzte grimmig weiter. Gut, sie hatte recht. Hin und wieder verschwanden ein paar Schüler, um eine Woche oder zwei alleine durch die Wälder zu trampen, aber dann tauchten sie auch wieder auf. Dass gelegentlich auch Schüler ermordet wurden, daran dachte wohl keiner, was?
Als ob meine düsteren Gedanken ihn herbeigelockt hatten, sah ich plötzlich Smug den Gang entlangkommen. Kein Anblick konnte mich schneller in die Flucht schlagen und von plötzlicher Panik ergriffen ließ ich den Wischmopp fallen.
„Ich muss aufs Klo! Und Timo auch!“, rief ich auf halbem Weg zur Tür, meinen Gefährten im Schlepptau.
„Hiergeblieben! Nicht beide auf einmal!“, rief die Aufsichtsperson und setzte uns nach, doch da waren wir schon auf dem Gang und hasteten Richtung Toiletten. Nur eins hatten wir nicht berücksichtigt: Auch Smug war ein guter Sprinter.
„Ich hole sie zurück!“, rief er der verdatterten Aufsicht zu und setzte uns mit großen Schritten nach.
„Oh verdammt!“ Beinahe währe ich gegen die Toilettentür gerannt, gerade noch rechtzeitig riss ich sie auf, zog Timo mit in eine der Kabinen und schloss hinter uns ab.
„Das Fenster!“, raunte er und stand auch schon auf der Toilettenschüssel. In diesem Moment kam Smug schlitternd vor der Tür zum Stehen.
„Ha, bis er ebenfalls durchs Fenster ist, sind wir allemal draußen!“, raunte ich, als ich hörte, wie Smug in die Nachbarkabine eilte. Schon war Timo nach draußen geklettert und reichte mir die Hand, als ich sah, wie Smugs Finger sich um die Kabinenwand legten. Was hatte er vor, doch nicht etwa in unsere Kabine klettern?
Klettern war der falsche Ausdruck. Ich war gerade mal halb draußen, als Smug mit einem Satz in unserer Kabine landete und mein Bein zu fassen bekam.
Mit einem Schrei versuchte ich mich zu befreien, während Timo an meinen Armen und Smug an meinen Beinen zog. Smug war stärker, aber ich war auf Timos Seite.
Nun, ich kann nicht sagen, dass einer von uns gewonnen hätte. Timo zog Mr Smug einfach gleich mit aus dem Fenster. Und dann rannten wir um unser Leben.
Mit im Wind flatternder Kleidung zog ich meinen Drahtesel aus einem der Büsche und schwang mich darauf, ohne langsamer zu werden. Timo, der erst anschob, sprang kurz darauf auch auf, und so radelten wir Smug davon. Das letzte, was ich von ihm sah, war sein gewitterwolkendüsteres Gesicht, als er aufgab und uns tödlich Blicke hinterher schoss.
„Und jetzt?“, fragte, Timo, als ich eine Straße später plötzlich abbremste. „Warum bleibst du stehen?“
„Wir sind so gut wie fertig mit Cafeteriaputzen! Wenn wir jetzt für nur noch fünf Minuten zurückgehen, sind wir fertig. Wenn wir jetzt allerdings nicht zurückkommen, knüpft die Direktorin uns morgen auf.“
„Die Schule ist ab jetzt gemeingefährliches Terrain“, ermahnte Timo mich, aber ich wollte nicht hören.
„Smug denkt sicher, wir wären auf und davon. Noch mal guckt der nicht nach, so viel steht fest.“
Also pirschten wir, meinen geliebten Drahtesel im Schlepptau, zurück, kamen jedoch nicht weit. Denn als wir gerade am Sekretariat vorbeigehen wollten, hörten wir Stimmen von drinnen.
„Langsam sehe ich keine andere Möglichkeit mehr. Wir müssen Ann ihr Fahrrad wegnehmen, so lange, bis sie wieder zur Vernunft gekommen ist“, sagte die Direktorin gerade.
Was? Mein Retter in der Not, mein Bike? Mir wegnehmen?, schoss es mir durch den Kopf. Das würde ich nicht zulassen!
Timo, der meinen Gesichtsausdruck nur allzu richtig deutete, hielt mich vorsichtshalber fest, aber noch machte ich keine Anstalten, unüberlegt irgendwo reinzustürmen. Viel eher fragte ich mich, woher die Direktorin wissen konnte, dass ich schon wieder abgehauen war.
„Ihr habt recht“, bestätigte nun auch den Stellvertretende Schulleiter. „Wir hätten ihr heute Morgen nicht erlauben dürfen, dieses Teil mitzunehmen. Das kam mir gleich merkwürdig vor!“
„Ich schlage vor, wir beseitigen dieses Fahrrad so schnell wir möglich“, bestimmte zu meinem Entsetzen Smug. Was machte der denn hier? „So schnell wie möglich!“, wiederholte er. „Damit entgeht sie nur ihrer gerechten Strafe!“
„Na dann los. Suchen wir sie.“
Mehr hörte ich nicht, denn da radelte ich auch schon, Timo auf dem Gepäckträger, im Höchsttempo davon.
„Wo willst du denn hin?“, erkundigte Timo sich vorsichtig, nachdem ich aufgehört hatte, Reden über Privateigentum und Ungerechtigkeit zu schwingen.
„Zu dir nach Hause, wie wir es heute Morgen eigentlich geplant hatten“, grummelte ich, immer noch leicht angeschlagen von dem Gedanken, in welcher Gefahr mein Drahtesel nun schwebte.
„Ich hoffe nur, meine Eltern sind noch nicht da“, meinte Timo.
„Das hoffe ich allerdings auch.“
„Mist, wo ist nur dieses Haus? Im Telefonbuch stand Elbenstraße zwölf!“, maulte ich, als ich zum dritten Mal an derselben Stelle vorbeiradelte. „Irgendwo hier muss diese Straße doch sein, das weiß ich genau!“
Schließlich hielt ich an und fragte einen Fußgänger, der uns reichlich komisch ansah, dann aber sehr präzise den Weg beschrieb.
„Hier ist es“, stellte ich zufrieden fest. „Erkennst du es wieder?“
„Nein. Ich erinnere mich eigentlich an gar nichts aus meiner Vergangenheit“, antwortete Timo nüchtern, während er mir half, mein Bike in einem Busch zu verstauen. Das war inzwischen schon Tradition. Es schutzlos irgendwo rumstehen zu lassen, war unvorstellbar.
Kurz darauf stand ich ratlos vor einer verschlossenen Tür, aber Timo lief einfach an mir vorbei, bückte sich fast routinemäßig, griff nach dem Topf mit den Veilchen, der neben der Tür stand, und hielt plötzlich inne. Irritiert richtete er sich wieder auf und kratzte sich den Kopf.
„Was war das denn?“, fragte ich irritiert und musterte die Veilchen. Ob Veilchen auf Dämonen eine anziehende Wirkung hatten?
Timo stand immer noch neben mir, ebenfalls verwundert. „Ich weiß nicht. Ich habe einfach nicht nachgedacht …“
„Du hast nicht nachgedacht …“, murmelte ich, bückte mich ebenfalls und pflückte eine Blume. „Hier.“ Ich hielt sie ihm unter die Nase. „Merkst du etwas Besonderes?“
„Nein, wieso?“ Nun sah Timo mich an, als hielte er mich für verrückt. Erst da begriff ich und klatschte mir eine Hand vor die Stirn. „Natürlich! Aus Gewohnheit!“ Überrascht lachend hob ich den Blumentopf hoch, und tatsächlich: Darunter lag ein Schlüssel.
„Interessant, du weißt also doch noch etwas von deinem früheren Leben!“, stellte ich klar. Kaum zu fassen, wie viele Menschen ihre Schlüssel unter Blumentöpfen versteckten! Obwohl man Smug natürlich nicht wirklich zählen konnte.
„Nein, ich kann mich wirklich an nichts erinnern.“ Timo schüttelte den Kopf. „Ich habe davon nichts gewusst.“
„Klar! Das eben war doch kein Zufall!“ Gut gelaunt schloss ich die Tür auf, zögerte jedoch mit dem Eintreten.
„Na, Angst, dass auch meine Eltern Fallen aufstellen?“, grinste Timo, obwohl „meine Eltern“ ein wenig befremdend aus seinem Mund klang.
„Nein, natürlich nicht!“, verteidigte ich mich und errötete leicht. Dann trat ich mit einem wild klopfenden Herzen, das meine Worte Lügen strafte, ein. Wartete einen Moment, blickte mich um, aber nichts passierte.
„Mach schneller!“, drängte Timo. „Besser, die Nachbarn sehen uns nicht. Bevor sie glauben, sie hätten einen Geist gesehen.“ Er kicherte.
„Das ist nicht lustig! Wenn wir auffliegen, hocke ich wahrscheinlich im Knast und du im Zoo! Also rein mit dir!“ Ich schob den immer noch amüsierten Timo ins Haus und schloss eilig die Tür.
Da mir Timos Gekicher langsam auf die Nerven ging, die eh schon überspannt vor Aufregung waren, legte ich ihm kurz entschlossen die Hand über den Mund, zuckte jedoch zusammen, als er zubiss.
„Timo!“, fluchte ich, besorgt meine Hand musternd. Aber diesmal blutete ich nicht.
„‘Tschuldigung. Ich bin ein bisschen angespannt“, murmelte Timo und sah sich unruhig um. Das Lachen war ihm inzwischen vergangen.
„Hier ist alles falsch“, wisperte er. „Da ist plötzlich diese Sehnsucht. Hilf mir, Ann. Es fühlt sich alles so … komisch an.“
Ich wusste nicht, was zu Tun war, und so umarmte ich ihn einfach so lange, bis sein Herzschlag sich beruhigt hatte, genau wie meiner.
„Ähm, vielleicht solltest du deine Eltern doch wiedersehen“, schlug ich zögernd vor, aber Timo schüttelte nur den Kopf. Es bedurfte keiner Worte, um seine Bedenken kundzutun: Er war tot, kein Zustand, in dem man seinen Eltern gegenübertreten sollte.
Schweigend standen wir da, dann nahm ich seine Hand.
„Ich möchte bei dir bleiben, das weißt du, oder?“, sagte Timo plötzlich. Das machte mich so verlegen, dass ich nur errötete und nichts mehr sagte, bis wir in einem Zimmer ankamen, das so aussah, als könne es mal Timo gehört haben.
Der Boden war aufgeräumt, dafür stapelten sich in den Regalen zwischen den Büchern eine Menge Spielsachen, sieben Sätze Kartenspiele, ein paar Waffen und Werkzeuge, die ich keinem Kind in die Hand gedrückt hätte, und unter dem Bett ein richtiges Fahrrad. Bei seinem Anblick schmolz ich beinahe dahin, kriegte mich jedoch schnell wieder ein.
„Sieh mal, hier.“ Geduldig zog Timo mich vom Bett weg und zeigte auf ein Buch auf dem Schreibtisch, das an ein Tagebuch erinnerte. Es war fast ganz voll und mit ordentlicher, kleiner Schrift bedeckt. Die aufgeschlagene Seite allerdings war gewellt, als hätten Tränen sie durchweicht, und ein krakeliger Satz stand dort: Wir finden dich. Halte durch.
Daneben lag der Zeitungsartikel, ebenfalls gewellt, zerrissen und wieder zusammengeklebt. Timos Todesanzeige sah reichlich mitgenommen aus.
„Interessant“, sagte Timo tonlos. Das alles schien ihn mehr zu berühren, als er zugeben wollte, aber genauso sehr schien es ihn zu verwundern.
„Wie … wiederfinden? Sie wissen doch, dass du tot bist“, murmelte ich, ebenfalls ratlos.
„Rätsel lösen wir später“, bestimmte Timo und schlug kurzerhand eine Seite noch ziemlich am Anfang auf.
Freie Dämonen
-leben in kleinen Gruppen
-töten vor allem am Anfang wahllos Menschen, selten befreien sie auch andere Dämonen
-begehen meist Selbstmord, wenn kein Hass sie mehr am Leben hält
Stand dort. Höchst interessant, aber auch befremdend. Warum um alles in der Welt hatte Timo etwas über Dämonen gewusst und es aufgeschrieben? Aber bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, lenkte Timo meine Aufmerksamkeit auf eine weitere Stelle:
Unfreie (gebundene) Dämonen
-werden im Laufe der Zeit ruhiger
-bei Missbrauch wild und nicht zurechenbar
-tiefe Zuneigung zu Mörder, egal welche Behandlung
-können durch Beschädigen des Zeichens vom Menschen getrennt werden
-sterben nicht nur bei ihrem eigenen, sondern auch beim Tod ihres Menschen
(-freie Dämonen können nicht wieder gebunden werden)
Um ehrlich zu sein, hätte ich das Buch am liebsten mitgenommen, um nach weiteren nützlichen Informationen zu suchen, andererseits behagte es mir nicht ganz, darüber zu lesen. Es war so unbeteiligt geschrieben, wie von einem Außenstehenden, der Dämonen nur studierte, jedoch weder Gefühl noch Rücksichtsnahme in seine Worte steckte. So war ich irgendwie froh, als wir plötzlich die Tür hörten, und uns fortpirschen mussten. Das Buch ließen wir da, und unbemerkt hinauszukommen war eine Leichtigkeit.
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