1. Kapitel
Kapitel 1
Mit einem Flimmern erlosch das Licht in den Augen des Unbekannten. Er sackte in sich zusammen, zurück blieb nur ein seltsam verkrümmter, lebloser Körper. Sein schwarz wirkendes Blut kroch langsam, wie ein abscheuliches Lebewesen, über sein Hemd und mein Messer, auf dessen Schneide das dunkle Blut das schimmernde Silber verdrängte.
Einen ewig währenden Herzschlag lang stand ich da, mit Blut bespritzt und vom verräterischen Mond beschienen, dann drehte ich mich um und rannte. Wie in Trance rannte ich vor der Leiche weg, rannte aus Mr Smugs Garten, rannte die schmale Straße entlang, rannte quer durch das kleine Städtchen, rannte, bis ich das Internatsgebäude erreichte, rannte fast gegen die Tür, bevor ich sie mit zitternden, blutverschmierten Fingern aufschloss, rannte die Treppe hinauf und in mein Zimmer, wo ich schließlich nach Luft ringend und vor Erschöpfung zitternd zusammenbrach.
Bestimmt eine halbe Stunde verbrachte ich verkrümmt auf dem Fußboden, alleine, mitten in der Nacht, innerlich schreiend vor Schmerz, als das Entsetzen über meine Tat mich zu zerreißen drohte. Doch keine einzige Träne kullerte über meine Wange, kein Schluchzer kam über meine Lippen und der Schrei blieb in mir stecken, wie ein Parasit, der begann, mich von innen aufzufressen.
Mein Gesicht, ja, mein ganzes Auftreten wirkte, als hätte der Tod seine schmutzigen Spuren auf mir hinterlassen. Es dauerte eine ganze Weile, bevor ich mich aufraffte und ins Bad schlich, um die blutigen Spritzer zu beseitigen, die es bis auf meine Kleidung geschafft hatten. Ich polierte mein Messer, ja sogar meinen Schlüssel, bis sie glitzerten und strahlten, ganz im Gegensatz zu meinem tintenschwarzen Gewissen. Dabei hatte ich nur allzu oft gelernt: Kämpfen und Töten ist legal, wenn nicht sogar wichtig, wenn man angegriffen wird.
Nicht umsonst war ich auf einer Kampfschule.
Doch – wer von uns hatte angegriffen? Wer hatte das Messer zuerst gezogen? Es war alles so schnell gegangen. Dabei war ich doch nur dort gewesen, weil ich mir Sorgen um Lynn gemacht hatte. Also hatte ich mich, schlau wie ich war, mitten in der Nacht in Mr Smugs Garten gepirscht, um nachzusehen, ob sie vielleicht in seinem Haus war. Und dann …
„Er stand plötzlich einfach vor mir! Ich meine, was zum Teufel hatte der Kerl um ein Uhr morgens in diesem verdammten Garten verloren?“, fluchte ich, bevor ich mir bewusst wurde, was für einen Schwachsinn ich da gerade von mir gab. Mit zusammengebissenen Zähnen packte ich meine nassen Klamotten und huschte zurück in mein Zimmer.
Kurz darauf lag ich mit weit aufgerissenen Augen auf meinem Bett. An Schlaf war nicht zu denken, die Bilder waren noch zu frisch, zu scheußlich, unerträglich. Es gab nichts, das ich tun konnte, um alles auszublenden, nichts, um meine Gedanken auszusperren, nichts, um das tausendfache Echo zum Verstummen zu bringen, das mir immer wieder „Mörder, Mörder Mörder“ zuraunte. Außer … außer vielleicht …
Hastig sprang ich auf und lief, von einem Echo finsterer Gedanken verfolgt, die Treppe hinunter, öffnete so leise wie möglich die Tür von einem Mitbewohner und zog seine Nachttischschublade auf. Hier fand man für jede Gelegenheit das Richtige. Auch diesmal.
Wie der Blitz war ich wieder in meinem Zimmer, schloss die Tür zwei Mal ab und sank erneut auf mein Bett.
„Nur dieses eine Mal, versprochen“, flüsterte ich, bevor ich die Schlaftabletten nahm.
Die Sonne war noch nicht einmal aufgegangen, als ich aus einem traumlosen Schlaf erwachte. Trotzdem war es hell in meinem Zimmer, da ich das Licht angelassen hatte. Nur eine Ecke war ungewöhnlich dunkel. In dieser Ecke war etwas.
Ich blinzelte und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Es war immer noch da. Nur das Es jetzt verdächtig nach einem Jungen aussah. Und zwar nach einem, der dem, den ich heute Nacht ermordet hatte, aufs Haar genau glich. Und doch war er irgendwie anders.
Jetzt halluziniere ich!, dachte ich. Kein Wunder, nach dieser Nacht!
Doch die Halluzination wirkte so bedrohlich echt, dass sich alles in mir sträubte. Das war doch lächerlich! Aber … in Träumen kneift man sich, und Illusionen … fasst man einfach an. Dann werde ich schon sehen, wie echt sie ist!, überlegte ich und machte wild entschlossen einen Schritt auf das Trugbild in meiner Zimmerecke zu. Im nächsten Moment wich ich jedoch schon wieder zurück, um möglichst viel Abstand zwischen mich und den Jungen zu bringen, der nun langsam einen Schritt auf mich zukam. Grimmig biss ich die Zähne zusammen. Schluss damit! Ich streckte meine Finger aus, um den Jungen zu berühren, doch da wich er wieder zurück. Ha! Also doch eine Fata Morgana!, schoss es mir triumphierend durch den Kopf und mutig, wie ich nun war, kam ich noch einen Schritt näher.
„Bist du dir sicher, dass du das willst?“, fragte plötzlich die Fata Morgana. Eine sprechende Fata Morgana?, fragte ich mich. Aber bisher war alles so gut gelaufen, wieso also nicht.
„Absolut“, antwortete ich, wenn auch unsicher, worüber ich absolut sicher war, und berührte den Jungen. Er war keine Fata Morgana. Er war keine Illusion und auch kein Trugbild. Er war fest, fühlte sich warm und echt an, wie ein Mensch. Das war der Moment, in dem ich wegrennen wollte, doch da hatte der seltsame Junge mich auch schon gepackt und mein Körper erstarrte.
Zu meinem Erstaunen machte sich keine entsetzliche Kälte breit, die mich lähmte, sondern viel eher durchflutete mich Wärme. Konzentrierte sich an meinem Hals und verschwand dann wieder so plötzlich, wie sie gekommen war. Mit ihr verschwand auch die Starre, die mich gelähmt hatte.
„Du gehörst jetzt zu mir, Ann.“ Der Junge lächelte mich äußerst seltsam an, wobei sein Gesichtsausdruck leicht jemanden in die Flucht schlagen konnte. Auch ich wäre beinahe aus der Tür gerannt, wäre da nicht der freundliche Ausdruck in seinen Augen gewesen.
„Wenn du nicht ganz so sehr die Zähne fletschst, wirkt das Lächeln durchaus freundlicher“, riet ich und verschluckte vor Schreck fast meine Zunge, aus Angst, das Ungeheuer zu verärgern. Doch der Junge legte nur den Kopf schräg und hörte auf, seine Zähne zu blecken, was meine Nerven ungemein entlastete.
„Wer bist du und was machst du hier?“, fragte ich, nach diesem Erfolg etwas mutiger.
„Ich bin hier, weil du hier bist. Und wer ich bin … ich hatte gehofft, dass du das wüsstest, jetzt, wo ich zu dir gehöre.“
„Was soll denn dieses „ich gehöre zu dir“ heißen? Habe ich unter Einfluss der Schlaftabletten irgendein Formular unterschrieben?“ Mit ziemlicher Sicherheit stand ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch, aber in so einem Zustand weiß man ja nie.
Da lachte der Junge ein raues, wildes Lachen. Es klang nicht freudvoll.
„Psst!“ Schnell hielt ich ihm den Mund zu, schreckte jedoch zurück, als mir siedendheiß einfiel, was bei der letzten Berührung geschehen war, und wen ich da eigentlich gerade vor mir hatte. Den Typen hatte ich doch heute Nacht ermordet! Was trieb der überhaupt noch hier?
„Sieh mal“, sagte der Junge auf meinen Hals deutend. „Das zeigt, dass du zu mir gehörst.“
„Was?“ Irritiert kramte ich in meiner Schreibtischschublade nach meinem Handspiegel. So unwirklich hatte ich mich noch nie gefühlt, fast so, als wäre ich unter Drogen. Das würde auch erklären, warum ich so seltsam ruhig war.
Meine Hand zitterte nicht mal, als ich den Spiegel hob und vorsichtig einen Blick riskierte. Normalerweise hatte ich nämlich keine komischen Muttermale an meinem Hals. „Und … woher weißt du das überhaupt?“
„Bin mir nicht ganz sicher. Ich weiß es eben.“
„Ach so“, sagte ich Schultern zuckend, warf noch einen Blick in den Spiegel – und erstarrte. An meinem Hals befand sich ein kleiner, blauer Kreis, wie ein Tattoo, nur so groß, dass ich ihn sogar mit meinem Daumen verdecken konnte.
„Und das habe ich auch“, sagte der Junge stolz, nachdem sein Gesicht hinter mir im Spiegel auftauchte. Schon wieder schaute er so unheimlich drein, dass ich den Spiegel schnell wieder weglegte.
„Weißt du wenigstens deinen Namen?“, erkundigte ich mich.
„Nein. Denk dir einen für mich aus.“ Wieder bleckte er die Zähne zu einem Lächeln und streckte die Hand nach meinem Hals aus. Aber ich wich schnell zurück.
„‘Tschuldigung.“ Verlegen sah ich auf den Boden, da ich mich nicht traute, in die seltsam blitzenden Augen zu sehen. Ist das ein Fluch?, fragte ich mich. Werde ich jetzt immer von dem Jungen, den ich getötet habe, verfolgt? Schon der Gedanke daran ließ mich erschaudern.
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