10| Teddybäraugen
Mit klopfendem Herzen hastete ich, so schnell es mir mein Bein erlaubte, den Flur entlang und hätte am liebsten vor Freude losgeheult, als ich vor meiner Zimmertür stand. In der Hoffnung, dass Amber nicht zugeschlossen hatte, drückte ich vorsichtig die Klinke herunter und war unglaublich erleichtert, als sich die Tür mit einem leisen Knarren öffnete. Das Handy hielt ich noch immer fest umklammert in meiner panisch zitternden Hand und scannte den Raum akribisch nach einem geeigneten Versteck ab. Der Gedanke, das Handy der toten Frau in der Hand zu halten ließ mir einen kalten Schauer über den Rücken laufen und das Wissen, dass ich es nicht einmal haben dürfte, half der ganzen Situation nicht im Geringsten. Bevor es mir Ashville in die Hand gedrückt hatte, war es mir einigermaßen gelungen, die Bilder der toten Frau zu verdrängen, doch nun war der Schutzwall gebrochen. Wie ein hyperaktives Hamsterbaby wuselte ich im Zimmer herum, immer darauf bedacht Amber nicht zu wecken, die mit ihrem Buch in der Hand eingeschlafen war. Aufgrund fehlender Alternativen ließ ich das Handy kurzerhand in meinem Kleiderschrank zwischen den chaotisch angeordneten Kleidungsstücken verschwinden und schloss ihn hastig wieder.
Etwas umständlich krabbelte ich auf mein Bett, deckte mich zu und steckte mein verletztes Bein unter der Decke hervor. Meine verbundene Hand legte ich auf meinen Bauch und schloss kurzerhand die Augen, doch anstatt meines lang erwarteten Schlafes empfing mich ein dunkles Reich aus grausigen Erinnerungen, die mich wie ein schwarzes Loch verschluckten. Erschrocken öffnete ich die Augen wieder und blickte mich schwer atmend im Zimmer um, während ich mich durch positives Zureden zu beruhigen versuchte.
Keine Sorge Lou, du bist hier in Sicherheit. Der Mörder kann dir nichts antun, da er nicht mal existiert.
So oft ich es mir auch einzureden versuchte, ich konnte es einfach nicht hinnehmen, auch wenn ich es noch so gern wollte. Die Vorstellung eines einfachen Unfalls war weitaus beruhigender als die eines freilaufenden, kaltblütigen Mörders. Sobald ich die tote Frau vor mir sah, so konnte ich ganz deutlich auch das Messer erkennen, das in ihrer Brust gesteckt hatte. Ich war ihr so nah gewesen, den Griff so klar gesehen – ich war mir einfach sicher, dass es ein Messer gewesen war. Die Bilder des Messers riefen ebenfalls die Erinnerungen an die Unmengen an Blut wach, die eine Lache um die Frau gebildet und meine Kleidung besprenkelt hatten. Hektisch schlug ich die Decke zur Seite und setzte mich auf. In mir tobte ein Sturm, der mich zu zerreißen drohte und ich fühlte mich furchtbar unwohl in meiner Haut und den fremden Klamotten.
Mit der Hoffnung die Situation ein wenig zu verbessern, humpelte ich auf den Kleiderschrank zu und kramte nach bequemen Sachen, einem Handtuch und Duschbad, da ich mir die letzte Nacht einfach nur vom Leib waschen wollte. So schnell ich konnte, schob ich mich aus dem Zimmer auf den Flur hinaus und machte mich auf den Weg zum Gemeinschaftsbad. Ich fühlte mich so verletzlich, angreifbar und hatte das Gefühl jeden Moment durchzudrehen. Zum Glück begegnete ich niemandem, was wahrscheinlich an der frühen Uhrzeit lag.
An meinem Ziel angekommen, schlüpfte ich durch die Tür zu den Mädchenduschen und streifte mir die Kleidung vom Körper. In der Hoffnung einen wasserfesten Verband zu tragen, stellte ich mich unter die Dusche, die ich mir eiskalt einstellte, um mich etwas beruhigen zu können und nicht nur meinen Körper, sondern meine heißlaufenden Gedankengänge abzukühlen. Das stechend kalte Wasser prasselte auf meinen Körper, der sofort von einer Gänsehaut überzogen wurde, doch das störte mich nicht. Ich ließ den Kopf nach vorn hängen und blieb einfach unter dem Strahl stehen, der sofort Wirkung bei mir zeigte: Langsam begann sich mein Puls zu beruhigen und meine Gedanken sich zu ordnen. Ich lauschte dem plätschernden Wasser und schloss die Augen.
Die letzte Nacht war die wohl ereignisreichste, erschreckendste und nervenaufreibendste die ich je erlebt hatte. Noch immer fühlte sich das Geschehen so surreal an, als wäre es nur ein Traum oder Film gewesen, doch das war es leider nicht. Nein, es war die bittere Realität. Warum musste gerade heute eine solch schreckliche Tat stattfinden? Warum war ich diejenige gewesen, die die Leiche gefunden hatte? Und warum wollten die Bilder einfach nicht mehr aus meinem Kopf verschwinden? Es machte keinen Unterschied, ob ich die Augen offen oder geschlossen hielt, die grausigen Erinnerungen hatten sich in mein Blickfeld gepflanzt und wollten mich nun nicht mehr loslassen. Sobald ich allein war und meinen Gedanken freien Lauf gewährte, prasselten sie auf mich nieder wie ein ungewollter Hagelschauer.
Wenn ich das Bild der Leiche vor mir sah, konnte ich auch klar und deutlich das Messer erkennen. Ich war so nah an dem toten Körper gewesen, dass sich sämtliche Details und Kleinigkeiten in mein Hirn eingebrannt hatten. Mir war egal, was Sheriff Rodgers sagte – ich war sehr wohl in der Lage ein Messer von einem Fahrzeugteil zu entscheiden, auch wenn er mir solche Geistesleistungen nicht zutraute. Das Bild des Messers hatte sich ebenso auf meiner Netzhaut eingebrannt und ich konnte seine Existenz nicht länger infrage stellen. Doch warum sollte die Polizei einen Mord als Autounfall deklarieren? Wollte sie unnötige Sorgen vermeiden und im geheimen nach dem Mörder fahnden? Aber warum war Rodgers dann so fies und beleidigend gewesen, wenn meine Hinweise sie weiter gebracht hätten? Warum sonst sollte man einen Mord vertuschen? Was hatte man daran zu gewinnen – oder zu verlieren? Ein kalter Schauer erfüllte meinen Körper und ich fühlte mich wie in einer Krimiserie, gespickt mit Verrat, Verleumdung und Unehrlichkeit. Doch das hier war das normale Leben – keine fiktive Handlung.
Mit jedem Gedanken, den ich weitersponn, wuchs meine Neugier mehr und mehr und ich drohte beinahe zu zerplatzen. Oder war es doch mein Fehler gewesen? Hätte das Messer wirklich nur ein Fahrzeugteil gewesen sein können? Ich schüttelte energisch den Kopf. Auch die Geschichte, die mir Rodgers einzureden versucht hatte, ergab keinen Sinn. Warum sollte man mit einem Fahrzeugteil in der Brust in den tiefen dunklen Wald spazieren? Was hatte man davon? Und wie kann es sein, dass die Ermittlungen so schnell eingestellt wurden? Es musste noch mehr dahinterstecken – und meine Neugier war definitiv geweckt.
Nachdem ich eine gefühlte Ewigkeit unter dem Strahl gestanden und nichts getan hatte, trocknete ich mich ab und schlüpfte in eine olivgrüne Jogginghose und mein schwarzes Queen-Shirt. Meine tropfenden Haare trocknete ich nur notdürftig ab und ließ sie mir einfach über die Schultern hängen. Die kühle Dusche hatte ihren Zweck erfüllt – ich hatte mich etwas beruhigt, doch es ging mir nicht wirklich besser. Ein Pluspunkt war natürlich, dass ich mich nicht mehr so fühlte, als würde ich jeden Moment eine Panikattacke erleiden. Meine brodelnden Gedanken wurden durch das Eisbad weggefegt, sodass nun eine unheimliche Leere an ihre Stelle getreten war. Auch der Kleidungswechsel ließ mich ein wenig besser und weniger befremdlich fühlen. Glücklicherweise schien mein Verband wirklich wasserfest gewesen zu sein, da er nach wie vor seinen Zweck erfüllte und nicht vollkommen durchnässt wie eine Windel von meiner Hand baumelte.
Als ich die schwere Tür hinter mir ins Schloss fallen ließ und auf den Gang hinaustrat, blickte ich geradewegs auf einen breiten Rücken, der von einem orangen Shirt mit einigen Wasserspritzern bedeckt war. Der Typ vor mir rubbelte sich gerade die braunen Haare trocken und schien mich gar nicht zu bemerken. Mit gesengtem Blick wollte ich gerade an ihm vorbeigehen, als ich meinen Namen hörte. „Lou?" Überrascht drehte ich mich um und blickte geradewegs in Henrys Teddybäraugen. Er hatte aufgehört seine lockigen Haare zu verwuscheln, die ihm wirr in alle Richtungen abstanden und ein wenig explodiert aussahen. Langsam ließ er sein Handtuch sinken und kam ein paar Schritte auf mich zu. „Was hast du eigentlich die Nacht im Wald gemacht?", fragte er neugierig und legte den Kopf ein wenig schief. Da Henry länger als wir auf der Party geblieben war, hatte er mich wahrscheinlich in den Wald gehen sehen. Ich musste schwer schlucken, als ich an die Ereignisse der letzten Zeit dachte. Wie ein Film strömten die Erinnerungen auf mich ein, die ich eben noch so gut verdrängen konnte. Das Blut, der leere Blick, das Messer, die Kinder auf dem Foto – es kam alles zurück. Das Blut, welches überall an meinem Körper geklebt hatte. Die Leiche, die mir so nah gewesen war. Das Leben, das in meiner unmittelbaren Nähe ihr Ende fand.
„Hey Lou! Was ist los? Ist alles in Ordnung?" Ich spürte, wie meine Augen zu brennen begannen und versuchte die Tränen zurückzuhalten – vergeblich. Es war alles zu viel. Als die erste heiße Träne meine kühle Wange hinabrann, wand ich den Blick ab und kniff die Lider zusammen. Wenig später spürte ich eine angenehme Wärme in meinen Körper hineinkriechen, als ich in eine sanfte Umarmung gezogen wurde. Eine Hand legte sich an meinen Hinterkopf und ich vergrub meinen Kopf in Henrys Schulter, während ich den Tränen freien Lauf ließ.
„Egal was es ist, es wird wieder gut. Hörst du? Alles wird wieder gut." Er begann damit mir langsam über den Rücken zu streicheln, was eine enorm beruhigende Wirkung auf mich hatte. Wir standen eine ganze Weile so da, ehe meine Tränen allmählich versiegten und ich mich etwas widerwillig von ihm löste. Besorgt schaute er mich an und lächelte traurig. „Willst du darüber reden?", fragte er mich und nahm mir mein Duschzeug ab. Das war eine gute Frage. Ich wusste nicht, ob ich bereit dazu war, mit jemandem über die Geschehnisse zu sprechen. Normalerweise war das nicht meine Art und ich beschäftigte mich allein mit meinen Problemen, bis ich eine Lösung für sie fand. Doch das hier war eine ganz andere Hausnummer. „Ich weiß es nicht", flüsterte ich und starrte auf den dunklen Holzboden.
„Weißt du was? Ich habe eine Idee. Komm mit!" Ehe ich irgendetwas erwidern konnte, packte er meine unverletzte Hand und zog mich hinter sich her, doch es war zu schnell für mein Bein. Ich stöhnte schmerzerfüllt auf, als es zu sehr belastet wurde und zog meine Hand zurück. Verwirrt drehte sich Henry um und fokussierte mein Bein mit geweiteten Augen, als er mein schmerzverzerrtes Gesicht bemerkte. „Scheiße Lou! Was ist denn mit dir passiert? Das tut mir verdammt doll leid!" Als seine warmen Augen einen gequälten Ausdruck annahmen, schüttelte ich schnell den Kopf und beteuerte, dass alles okay sei.
„Dann trag ich dich eben", beschloss er und hob mich unvermittelt in die Luft, sodass mir sofort ein saftiges Déjà-vu ins Gesicht geklatscht wurde. Mit zügigen Schritten eilte Henry den Flur entlang und die Treppe herunter. Den verwirrten Blicken einzelner Personen, die unseren Weg kreuzten, ignorierte er vollkommen. Als wir durch die große Tür nach draußen traten, war es bereits vollkommen hell und ich beschloss mein aussichtsloses Schicksal zu akzeptieren, während ich von Henry mit großen Schritten über den Kiesweg zum Parkplatz getragen wurde. Er machte an einem roten Mini halt und fischte geschickt seinen Autoschlüssel aus der Hosentasche, ohne mich fallen zu lassen. Vorsichtig öffnete er die Beifahrertür, schob mich auf den weichen Sitz und schnallte mich an, ehe er die Tür schloss und sich auf den Fahrersitz plumpsen ließ. „Wohin willst du fahren?", fragte ich Henry, dessen Haare immer noch aussahen, als hätte er in eine Steckdose gefasst. „Zur besten Therapie in aussichtslosen Situationen." Er drehte den Kopf zu mir und grinste bis über beide Ohren. Fragend hob ich eine Augenbraue, was er mit einem glücklichen Lachen quittierte, das ansteckend war und mir sogar ein sanftes Lächeln auf die Lippen zauberte.
Immer noch grinsend startete er den Motor und fuhr vom Parkplatz.
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Und schon wieder Sonntag. Wie die Zeit vergeht...
Es ist Henry Time! Yes! Freut euch schon mal auf nächsten Sonntag mit einem sehr Henry reichen Kapitel.
Könnt ihr Lous Emotionen nachempfinden? War der Kleiderschrank das richtige Versteck für das Handy? Und wohin will Henry wohl fahren? Mal sehen, ob ihr es erraten könnt.
Wie immer freue ich mich über Feedback, Rückmeldungen und konstruktive Kritik.
Lasst doch ein Sternchen da, wenn es euch gefallen hat.
Bis nächsten Sonntag.
Lg JewelMind
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