06| Nachtwanderung
Die Dunkelheit umhüllte mich wie ein Umhang, als ich in die rabenschwarze Nacht hinaustrat. Dankbar atmete ich die milde Sommerluft ein und lief über den Kiesweg hinaus auf den Campus. Der Mond legte eine silbrig schimmernde Decke über die Landschaft und verpasste ihr ein mystisches, geheimnisvolles Aussehen. Meine Schritte durchschnitten die Ruhe, als der Kies unter meinen Sohlen knirschte. Diesmal nahm ich mir ein wenig Zeit, den großen Campus zu bestaunen. Bei meinen bisherigen Besuchen war ich immer mit etwas anderem beschäftigt gewesen. Heathers Taschen zu tragen beispielsweise.
Der lange Kiesweg, auf dem ich mich gerade befand, schlängelte sich einmal quer über eine große Rasenfläche, die von vielen Blumen, Büschen und Bäumen bestückt war. Bänke und andere Sitzmöglichkeiten erlaubten einen idyllischen Aufenthalt zwischen dem Lernstress. Etwas weiter hinten konnte ich sogar einen Sportplatz ausmachen, hinter dem sich eine große Tribüne empor hob.
In der Richtung des noch immer flackernden Lagerfeuers schlängelte sich ein Wald den Hügel hinunter und übte eine unsichtbare Magnetkraft auf mich aus. Wie eine Motte zum Licht begann ich in Richtung des Waldes zu schlendern und kreuzte auf meinem Weg die betrunkene Horde am Lagerfeuer, die mir enthusiastisch zugrölte. Augenrollend lief ich an ihnen vorbei und war wenig später an meinem Ziel angelangt. Der Wald schluckte das silbrige Mondlicht nahezu komplett, weshalb ich zwischen den Bäumen nichts als Dunkelheit erkennen konnte. Ich angelte mit der rechten Hand mein Handy aus der kleinen Tasche, die mein Rock praktischerweise besaß, und schaltete die Taschenlampe ein. Vorsichtig ließ ich den Strahl in den dunklen Wald wandern und folgte ihm wenig später. Neugierig musterte ich meine Umgebung und fühlte mich endlich frei. Mir war nicht bewusst gewesen, wie sehr ich diesen kleinen Waldspaziergang gebraucht hatte. Unmittelbar schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen, während ich einen Schritt über eine vor mir wuchernde Baumwurzel machte. Genüsslich atmete ich die frische Waldluft ein und wagte mich immer tiefer in den Wald hinein.
Bis auf ein paar knackende Äste und vereinzelte Eulenrufe, war der Wald von einer beinahe unheimlichen Stille erfasst. Aber nur beinah. Anders als viele andere Menschen, erfüllte mich die Dunkelheit nicht mit Furcht. Schon als Kind hatte ich es geliebt mit meinem Dad auf Nachtwanderungen zu gehen. Nicht selten hatte er mich versucht zu erschrecken, doch bis auf die ersten paar Male, musste ich über seine Bemühungen nur kichern. Ein trauriges Lächeln zierte bei dieser Erinnerung meine Lippen. Mom hatte unsere Nachtwanderungen nie wirklich gutgeheißen. Sie plagte immer die Angst, dass mir etwas passieren könnte. Generell hatte mein Dad sie des Öfteren nicht in unsere Freizeitgestaltung eingeweiht. Sie wäre ausgerastet, hätte sie von unseren Kletter- und Erkundungstouren erfahren. Da ich meiner Ansicht nach ein ziemlich gutes Immunsystem hatte, musste meine Mom ihre Fürsorglichkeit auf andere Weise an den Tag legen. Und schwupps - die Helikoptermutter war geboren. Hatte ich nur einen kleinen Kratzer, war sie vor Sorge krank gewesen und hatte jegliche Mittel dafür aufgebracht, damit sie so schnell wie möglich verschwanden. Ich will mich nicht beschweren, es half wirklich und die Verletzungen waren im Handumdrehen wieder weg. Mein Vater hatte sogar extra eine Salbe entwickelt, mit der meine Wunden schneller heilen würden. Sie konnte wahre Wunder vollbringen.
Ein sanftes Plätschern riss mich aus meinen Gedanken. Neugierig hob ich den Kopf und konnte das Geräusch erneut vernehmen. War hier vielleicht ein Fluss in der Nähe? Mit gewecktem Interesse beschleunigte ich meine Schritte ein wenig und versuchte dem Geräusch zu folgen, das langsam aber sicher lauter wurde. Sehr gut, ich befand mich also auf dem richtigen Weg. Mit vorgestrecktem Kopf versuchte ich zwischen den Bäumen etwas zu erkennen - und tatsächlich. Nur wenige Meter vor mir schien der Wald zu enden, sodass der silbrige Glanz des Mondes das Waldstück vor mir erleuchtete. Zufrieden machte ich die Handytaschenlampe aus, behielt es aber in der Hand, um es griffbereit zu haben. Neugierig linste ich durch die immer weniger werdenden Bäume hindurch, als sich mir nach und nach der Blick eines Sees bot. Noch konnte ich ihn nicht vollkommen sehen, da der Wald zu meiner Rechten einen großen Teil meines Sichtfeldes blockierte, doch das Bild des tanzenden Mondlichtes auf der sich leicht kräuselnden Wasseroberfläche erreichte mich schon jetzt. Moment mal. Wieso kräuselte sich das Wasser, wenn doch niemand hier war?
Entschieden machte ich einen Schritt nach vorne und zuckte erschrocken zusammen, als der Ast unter mir knackend nachgab. Etwas verdattert starte ich auf den Waldboden und dann wieder auf den See, der- Moment mal. Stirnrunzelnd machte ich ein paar weitere Schritte auf das Wasser zu, während ich akribisch die Wasseroberfläche abscannte. Das Kräuseln war etwas stärker geworden und mir war es, als hätte ich etwas abtauchen sehen. Oder jemanden. Schwer schluckend lief ich noch näher an den See heran und versuchte etwas zu erkennen. Erfolglos. Je länger ich auf das sich spiegelnde Mondlicht schaute, desto entschlossener wurde ich, dass ich es mir nur eingebildet hatte. Es hätte ja auch einfach nur ein Blatt sein können, das in das kühle Nass gesegelt war. Oder ein Schatten. Aber ich hatte plätscherndes Wasser gehört und jetzt war davon nichts zu sehen oder zu hören. Wo war es also hergekommen? Und die Bewegungen der Wasseroberfläche? Die konnten schließlich auch nicht so einfach aus dem Nichts auftauchen. Ich schüttelte den Kopf. Ich war wirklich viel zu paranoid und dichtete mir aus den kleinsten, nicht vorhandenen Dingen absurde Geschichten zusammen. Mit etwas weniger Entdeckergeist und einem unguten Gefühl im Magen drehte ich mich um und lief wieder zurück in den Wald hinein.
Grübelnd schlurfte ich zwischen den Bäumen hindurch und ließ meine Gedanken erneut abdriften. So sehr ich es auch versuchte, die Bilder von der sich kräuselnden Wasseroberfläche und dem dunklen Schatten, den ich abtauchen gesehen habe, wollten einfach nicht aus meinem Kopf verschwinden. Wie in Dauerschleife spulte sich die Erinnerung immer und immer wieder ab. Die wohlige Geborgenheit, die mich noch vor einigen Minuten umgeben hatte, war wie weggeblasen. Stattdessen fühlte ich mich etwas unbehaglich und beschleunigte meine Schritte. Ich wollte einfach nur in mein Bett.
Gerade noch so konnte ich einen panischen Aufschrei vermeiden, als ein Rabe dicht an mir vorbeiflog. Mit klopfendem Herzen schaute ich um mich. Ich erkannte mich kaum wieder. So ängstlich und schreckhaft war ich normalerweise gar nicht, doch wenn ich an den See dachte, lief mir ein kalter Schauer über den Rücken, der meinen Körper mit Gänsehaut bedeckte. Nicht einmal bei meiner ersten Nachtwanderung war ich so ängstlich gewesen. Nur wenn ich ein unbekanntes Geräusch gehörte hatte, wollte ich nach der Hand meines Vaters greifen, die mir immer so viel Sicherheit vermittelt hatte. Traurig schaute ich neben mich und wünschte mein Dad wäre auch jetzt für mich da. Hätte ich gekonnt, würde ich nach seiner Hand greifen. Bevor sich meine Augen mit Tränen füllen konnten, sammelte ich mich wieder und stapfte weiter. Es dauerte nicht lange, bis ich erneut in meine Gedankenwelt eintauchte und wieder bei der Erinnerung an meine erste Nachtwanderung landete.
Mein Dad hatte mir auf dem Weg nach Hause erzählt, dass mich heute noch eine Überraschung erwartete. Neugierig wie ich war, wollte ich es natürlich wissen und hatte ihn so lange genervt, bis er mir von der Nachtwanderung erzählte. Gespannt hatte ich seiner spannenden Erzählung gefolgt, die das ganze wie das größte Abenteuer meines Lebens wirken ließ. Das konnte er schon immer. Menschen für sich begeistern, sie zu inspirieren. Meiner Meinung nach hatte diese Eigenschaft entschieden zu seinem Erfolg beigetragen.
Nachdem er mir seinen geheimen Plan verraten hatte, musste ich ihm hoch und heilig schwören, dass ich Mom nichts davon erzählte, da sie es uns sonst verbieten würde. Ich gab ihm mein Indianerehrenwort und bereitete mich auf unsere geheime Mission vor. Ich hatte mir meinen Wanderrucksack geschnappt, den ich bei jeder unserer Erkundungstouren trug, und alles reingeworfen, was ich als nützlich erachtet hattee. Und das war eine ganze Menge. Zum Schluss war er bis oben hin vollgestopft gewesen, hauptsächlich mit Süßigkeiten. Eine gute Verpflegung durfte bei einem so großen Abenteuer natürlich nicht fehlen. Entschlossen hatte ich den Rucksack, der nun mein halbes Körpergewicht ausmachte, auf meinen Rücken verfrachtet und war stolz zu meinem Vater stolziert. Als ich dabei jedoch auf meine Mom traf, war ich so schnell wie möglich wieder in mein Zimmer gerannt. Ich wollte schließlich unsere Mission nicht aufs Spiel setzten.
Als es dann endlich so weit war, sprudelte ich vor Vorfreude regelrecht über und mein Dad musste mich bremsen, um mich davon abzuhalten schon früher nach draußen zu rennen. Auf der Wanderung erzählte er mir von der Arbeit und wie sehr es ihm Spaß machte zu forschen. Ich erzählte ihm, dass ich später genauso cool werden würde wie er, woraufhin er nur lachen musste.
Als ich eine warme Träne an meiner Wange spürte, verblassten die schönen Erinnerungen und der dunkle Wald erschien erneut vor mir. Hastig wischte ich mir meine Wange trocken und schob mir eine braune Haarsträhne hinters Ohr, die sich aus meinem ohnehin schon katastrophalen Dutt gelöst hatte. Als ich jedoch um mich schaute, setzte mein Herz einen Schlag aus. Ich war so in Gedanken versunken gewesen, dass ich gar nicht auf den Weg geachtet hatte. Verdammt, Ich hatte mich verlaufen. Mitten im Wald. Mitten in der Nacht. Allein.
Frustriert stöhnte ich auf und drehte mich um meine eigene Achse, in der Hoffnung irgendeinen vertrauten Anhaltspunkt zu finden - vergeblich. Es sah alles gleich aus. Die Nadelbäume standen dicht an dicht um mich herum und verboten mir jegliche Sicht auf einen Ausgang. Ich merkte wie sich mein Puls beschleunigte und ich auf einmal wieder hellwach war. Meine Sinne waren bis auf das Äußerste geschärft und schienen jedes kleine Detail wahrzunehmen. Das Zirpen der Grillen und Rauschen in der Ferne. Die frische, modrige Waldluft. Das leise Knacken der Äste, die von einem herumstreifenden Tier zu stammen schienen. Nervös schloss ich für einen Moment die Augen und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Ich atmete tief durch und blendete die Geräuschkulisse einfach aus. Es dauerte nicht lange, bis sich eine Idee in das Innere meiner Gedankengänge festgesetzt hatte.
Mit neuer Hoffnung entsperrte ich mein Handy, dessen helles Licht mir sogleich die Netzhaut zu verbrennen schien. Mit zusammengekniffenen Augen schob ich die kleine Sonne der Helligkeitsanzeige etwas weiter nach links. Erleichtert atmete ich auf, als meine Augen den Bildschirm ohne bleibende Schäden betrachten konnten, während ich die Karte der Umgebung laden ließ.
„Komm schon", feuerte ich mein Handy an und wünschte, ich hätte mein Highspeed Datenvolumen noch nicht aufgebraucht. Warum musste ich mir auch ständig Memes ansehen?
Gebannt fixierte ich den Ladebildschirm und folgte den kreisenden Bewegungen des kleinen Rings auf dem Bildschirm. Gerade als ich frustriert aufstöhnen wollte, wurde mir meine Umgebung angezeigt. Ein freudiges Lächeln huschte über mein Gesicht und ich begann etwas weiter rauszuzoomen, sodass ich wenigstens wusste, in welcher Richtung die Uni lag. Mit meinen Fingern drehte ich die Karte einige Male und dann mich selbst, bis ich die Orientierung wiedergewonnen hatte.
Mit meinem Handy als Navi, begann ich mir zügigen Schritten wieder zurückzulaufen. Auch meine enorme Schreckhaftigkeit war wieder verflogen. Zum Glück. Mit dem Blick auf dem Bildschirm marschierte ich immer weiter, bis mir meine Mom einfiel. Wollte sie mir nicht Bescheid geben, sobald sie zu Hause war? Wie spät war es überhaupt. Als mein Blick auf die Uhr fiel, weiteten sich meine Augen. Schon fast um zwei? Morgen war doch mein erster richtiger Tag hier und ich wollte auf keinen Fall mitten in der Vorlesung einschlafen. Das würde kein guter Start werden.
Meine Schritte wurden immer schneller, während ich meine Nachrichten checkte. Und tatsächlich, Mom hatte mir bereits vor mehr als drei Stunden geschrieben, dass sie gut angekommen war und mich jetzt schon vermisste. Mit einem Lächeln auf den Lippen begann ich ihr zu antworten.
Eine plötzliche Erhöhung im Boden ließ mich straucheln und das Gleichgewicht verlieren. Mein Handy glitt mir aus den Fingern und fiel den kleinen Hang hinab, genauso wie ich. Als ich nach vorne fiel, knallte mein Schienbein unsanft auf einen Stein auf, der sofort einen stechenden Schmerz durch meinen Körper schickte. Der Boden vor mir fiel steil ab, sodass ich einen relativ langen Fall hatte, als mein ganzer Körper auf dem Boden aufschlug. Notdürftig versuchte ich den Sturz auf dem felsigen Untergrund abzufangen, geriet mit meiner Hand jedoch in eine Spalte, sodass sie seitlich wegknickte als ich auf sie fiel und mit meiner rechten Gesichtshälfte unsanft über den Boden schrammte.
Der brennende Schmerz in meiner Hand entlockte mir einen kurzen Schmerzensschrei, während meine Wange sich zu erhitzen begann. Mein Herz pochte in einem unnatürlich schnellen Tempo, während ich vor Schmerzen zitternd auf den Felsen lag. Noch immer hatte ich die Augen fest zusammengepresst, in der Hoffnung es würde irgendwie helfen. Ich vernahm ein kräftiges Rauschen und der Tinnitus wurde von einem ganzen Sinfonieorchester vorgetragen.
Als ich die Augen mit zusammengebissenen Zähnen öffnete, schaute ich geradewegs auf einen reißenden Fluss, dessen Wasser von einem Wasserfall in die Tiefe stürzte. Gott, ich war so mit meinem Handy beschäftigt gewesen, dass ich nicht einmal das mitbekommen hatte.
Ich lag in einer Art tiefer gelegene Ebene, deren felsiger Untergrund nicht unbedingt angenehm war. Mühsam versuchte ich mich aufzusetzen, schrie jedoch sofort auf, als ich meine rechte Hand abstützen wolle. Der stechende Schmerz vernebelte mir die Sinne und ließ mir kurz schwarz vor Augen werden. Verdammt, jetzt bloß nicht ohnmächtig werden. Es bestand durchaus die Gefahr in den reißenden Fluss gezerrt und von ihm davon getragen zu werden. Nein danke.
Langsam machte sich auch meine Wange und mein Schienbein bemerkbar, dessen brennender Schmerz mich erschrocken nach Luft schnappen ließ. Ich biss die Zähne zusammen, kniff die Augen zu und versuchte mich auf die andere Seite zu rollen, sodass ich mein Gewicht auf die unverletzte Hand verlagern konnte. Mit einem Schwung warf ich mich auf die andere Seite und wimmerte laut auf, als ich wieder auf dem Boden ankam. Hölle, tat das weh! Die Augen immer noch zusammengekniffen, stützte ich nun meine linke Hand auf und versuchte mich ein Stück hochzustemmen. Einhändig gestaltete es sich nur sehr schwierig die Position zu halten und da ich auch mein Bein nicht wirklich aufstellen konnte, ließ mich frustriert zurückfallen. So würde ich nie hier wegkommen.
Mein Schicksal akzeptierend, öffnete ich langsam meine Augen. Und dann schrie ich.
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Das neue Kapitel ist da und endet mit einem ganz schönen Cliffhanger. Hehe.
Was sagt ihr zu Lou's kleiner Nachtwanderung? Und was wird ihr wohl den Anlass zum Schreien gegeben haben? Wie wird es jetzt weitergehen? Lasst es mich in den Kommentaren wissen.
Wie immer freue ich mich immer sehr über Feedback, Eindrücke und Verbesserungsvorschläge.
Lasst doch ein Sternchen da, wenn euch das Kapitel gefallen hat❤️
LG JewelMind
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