Zwanzig
Mikael wartet schon in der Küche, als wir mein Zimmer verlassen. Die Episode im Badezimmer hat mich längst nicht zu 100 Prozent verlassen, aber ich beschließe mir davon nicht meinen Abend ruinieren zu lassen. Dann muss ich Darren eben für das nächste Mal eine andere Kleidergröße nennen.
Für das nächste Mal. Wird es das überhaupt geben?
„Stew", ertönt da auch schon die Stimme meines Bruders, als ich gerade dachte, wir kämen ungeschoren davon. Er legt mir eine Hand auf die Schulter und dreht mich zu sich um. Sein besorgter Blick mustert mich und ich schrumpfe darunter beinahe zusammen.
Er beißt sich auf die Lippe, schaut immer wieder zu Mariah, die sich seelenruhig die Schuhe anzieht. Ich weiß längst, was er mir sagen will. Also schüttle ich nur unmerklich den Kopf.
„Mach dir keine Sorgen, Mikael", flüstere ich.
„Mir geht es gut." Jedenfalls so halbwegs. Seufzend schüttelt auch Mikael den Kopf. Mein Herz klopft heftig und will doch tatsächlich, dass ich hier und jetzt anfange zu flennen. Nein. Ich dränge die Tränen zurück, die bei seiner deutlich echten Sorge in mir aufkommen.
„Wann bist du zurück?", will er wissen. Ich zucke mit den Achseln.
„Kommst du überhaupt zurück?" Erneut ein Achselzucken. Mariah, die anscheinend doch mit einem Ohr zuhört, antwortet für mich.
„Stew kommt nach dem Ball mit zu mir." Mich sieht sie dabei eindringlich an. Ich glaube, wir denken an dasselbe. Ich werde heute Nacht nicht mit Darren in die Kiste springen. Wenn überhaupt werde ich eine Entscheidung fällen, ob ich ihm wieder Einlass in mein Leben geben soll.
„Kannst du auch dafür sorgen, dass sie etwas isst?" Mein Herz stoppt. Hat Mikael das gerade wirklich gesagt? Ich schnaube. Wir haben eine Vereinbarung, verdammt.
„Sie hatte kein gescheites Mittagessen, deshalb frage ich." Seine Hand auf meiner Schulter verkrampft. Ich verdrehe die Augen und merke mir, dass ich ihn morgen damit konfrontieren werde. Er kann doch nicht einfach unsere Vereinbarung brechen!
„Klar, mach ich." Mariah winkt meinem Bruder zu und öffnet dann die Haustür um schon mal vorzugehen. Sie weiß, dass Mikael und ich oft unter vier Augen reden. Nur den Grund dafür kennt sie nicht.
„Stew." Seine Stimme ist leise und dringlich. Ich kenne diese Stimme. Ich hasse es, wenn er meinen Namen mit dieser Stimme ausspricht.
„Nichts da, Stew. Mir geht es prima." Mit hoch erhobenem Haupt gehe ich an ihm vorbei und öffne ebenfalls die Tür.
„Wenn du mich dann entschuldigst." Ich werfe keinen Blick zurück, weil ich es nicht ertragen kann, die Sorge in seinem Blick zu sehen. Diese Sorge, die mich schier aufzufressen scheint. Ich kann schließlich nichts dafür. Könnte ich es ändern, ich würde es tun.
Darrens Wagen steht schon vor meinem Haus. Ich mache mir nicht lange Gedanken darüber, warum er nicht geklingelt hat – so wie es jeder Gentleman tun würde. Wahrscheinlich fürchtet er sich vor der Reaktion meines Bruders. Mariah sitzt schon im Wagen und sieht absichtlich woanders hin. Da sie ebenfalls kein Auto hat, ist sie wie ich auf Darren angewiesen, hat sich praktisch selbst dazu geladen mit zum Ball zu fahren. Irgendwie gut so, finde ich.
„Hey", sage ich und gehe langsam auf ihn zu. Keiner von uns weiß, wie er sich verhalten soll. Darren trägt einen Anzug, der im Licht der Abendsonne gar nicht aufhört zu glänzen. Seine Haare stehen unordentlich zu allen Seiten seines Kopfes ab, aber es wirkt, als habe er es genau darauf angesetzt.
Ich lächle leicht, als er mir einen Begrüßungskuss auf die Wange gibt. Fast schon wie früher – jedenfalls hoffe ich das insgeheim.
„Du siehst toll aus", sagt Darren. Er kann die Augen nicht von mir nehmen.
„Du auch", gebe ich zurück. Es stimmt. Unbehaglich kratze ich mich am Hals. Dann öffnet er mir die Befahrer-Tür seines Wagens und lässt mich einsteigen. Ich werfe Mariah einen ‚Das-ist-so-merkwürdig'-Blick zu, dann lasse ich mich in den Sitz sinken.
Die Fahrt vergeht in Zeitlupe, so kommt es mir zumindest vor. Wir führen Small-Talk und vermutlich ist Mariah, die introvertierte Mariah, diejenige von uns, die am meisten redet. Als wir den Parkplatz der Schule erreichen, bin ich mir nicht mehr so sicher, ob das eine gute Idee war.
Meine beste Freundin verabschiedet sich mit einem „Man sieht sich drinnen", von uns. Dann stehen wir allein neben Darrens Wagen.
„Das ist so seltsam", sagt er.
„Ohja." Ich atme tief durch und blicke ihm schließlich fest in die Augen.
„Auf Los geht's los." Ich gebe mich gefasster als ich es tatsächlich bin. Aber Darren scheint es nicht zu bemerken. Er nimmt meine Hand in seine und leitet mich dann zur Turnhalle.
Wir verbringen die erste Hälfte des Abends mit Tanzen. Einfach weil man sich bei der unglaublich lauten Musik nicht unterhalten kann – wofür ich plötzlich mehr als dankbar bin. Ich sehe Mariah auch nicht mehr, also hat sie sich entweder wirklich Noah gekrallt oder sie hängt in einer der Nischen mit unseren anderen Freunden ab. Ich hoffe für sie, dass ersteres passiert ist.
Immer wieder werfe ich einen Blick über Darrens Schulter und halte Ausschau nach Khan. Ich weiß nicht sicher, ob er hier ist – darüber haben wir gar nicht gesprochen. Dennoch sehnt sich ein Teil von mir nach seiner Anwesenheit. Natürlich, das ist Schwachsinn. Ich tanze gerade mit Darren, meinem Ex-Freund, der wieder mein Freund werden will und doch suche ich in der Menge nach einem bestimmten anderen Gesicht.
„Willst du was trinken?", fragt Darren irgendwann, beziehungsweise schreit es viel mehr in mein Ohr. Ich nicke, spare mir die Stimme. Wieder nimmt er meine Hand und leitet mich zur Bar, die heute Abend von einigen unserer Mitschüler betrieben wird. Darren grüßt einen Kerl, den ich nicht kenne und füllt uns dann zwei Plastikbecher mit einer pinkfarbenen Flüssigkeit.
Sobald wir beide unserer Becher in den Händen halten, verlassen wir den lauteren Bereich, um unsere Freunde zu suchen. Sie stehen tatsächlich in einer der Nischen nahe der Tribüne unserer Sporthalle und unterhalten sich. Mariah ist nirgendwo zu sehen.
Dafür entdecke ich Khan, der sich angeregt mit Ashton unterhält. Als Darren die beiden unterbricht, um seinen besten Freund zu begrüßen, fällt Khans Blick auf mich. Und dort geht er für eine ganze Weile nicht wieder weg.
Wider Erwarten fühle ich mich nicht unwohl unter seinem Blick, der mich praktisch auszuziehen scheint. Gut, vielleicht fällt wirklich niemandem auf, dass mir dieses Kleid eine Nummer zu groß ist.
Khan selbst wirkt in seinem schwarzen Hemd wie ein Gott. Ehrlich, die hochgekrempelten Ärmel seines Hemdes zeigen Venen an seinen Unterarmen, die deutlich hervor treten. Durch die kurzgeschorenen Haare, ist sein Hals komplett frei und mir fällt auf, dass dort unter seinem rechten Ohr ein kleiner Stern gemalt wurde – tätowiert? Das habe ich vorher nie bemerkt. Vielleicht ist es neu.
Zu spät realisiere ich, dass wir uns gegenseitig einen Blickekontest bieten. Rina, die ganz in meiner Nähe steht, stößt mir ihren Ellenbogen in die Seite. Verblüfft, dass sie auch hier ist, schenke ich ihr sofort meine Aufmerksamkeit. Mein Blick schweift nur ein paar Mal zurück zu Khan und innerlich würde ich mich jedes Mal am liebsten selbst ohrfeigen.
Was tue ich hier überhaupt? Während Rina mir erzählt, warum sie beschlossen hat, diesen Ball zu besuchen – irgendwas von, Anne hätte sie überzeugt – kämpfe ich mit den Tränen. Mal wieder. Wieso habe ich Khan so angesehen? Ich meine, klar, der Typ sieht gut aus. Das wissen hier alle. Insbesondere Anne, die ihm jetzt quasi die Ohren abknabbert.
Trotzdem verstehe ich diesen Drang nicht, den ich hatte, ihn unbedingt zu sehen. Ich bin mit Darren hier. Darren. Wenn ich es muss, dann tätowiere ich mir seinen Namen eben ins Gedächtnis. Ich gebe ihm eine zweite Chance, schon vergessen? Er ist mein Anker, meine Sicherheit, das, was ich Kontrolle nenne.
Ich kann nicht einfach anfangen Darren und Khan zu vergleichen oder Khan mit Blicken auszuziehen. Khan ist ein guter Freund. Ein sehr guter Freund. Und wir verstehen uns mehr als gut. Ich vertraue ihm mittlerweile fast mehr als den meisten meiner anderen Freunde. Dennoch ist es falsch.
Darren.
Moment.
Wo ist Darren überhaupt?
Er steht nicht länger bei Ash. Mein Plastikbecher ist mittlerweile halb leer und ich habe das Gefühl, da ist ordentlich was drin, denn mein Magen rebelliert leicht.
„Ash?", frage ich. Da die Musik hier nicht so laut ist, muss ich nicht mal brüllen.
„Stewilein." Ash grinst, hat offensichtlich schon ziemlich viel intus – seltsam, wo sie hier doch bloß alkoholfreien Punsch verteilen.
„Wo steckt Darren?", will ich wissen. Mit gehobener Augenbraue sieht Ash von mir zur Tanzfläche und wieder zurück. Aus ihm werde ich nichts rauskriegen, schätze ich. Dann aber beginnt er zu reden.
„Echt krass, dass er dich noch mal rumgekriegt hat, wenn du mich fragst", lacht er, seine Worte leicht verzerrt. Dass er mich noch mal rum gekriegt hat? Wie bitte?
„Warum?" Meine Hand um den Plastikbecher verkrampft ganz leicht. Seine Worte gefallen mir nicht.
„Nach allem, was so passiert ist. Echt, Stew, mein größter Respekt." Sein... Respekt? Bitte was?
„Was soll denn passiert sein?" Reden Jungs etwa auch über ihre Beziehungen?
„Naja, du weißt schon..." Er macht einen Schritt auf mich zu und verdreht die Augen.
„Nein, weiß ich nicht." Rina redet jetzt mit Anne, blickt aber auf, weil ich plötzlich lauter rede als beabsichtigt.
„Natürlich weißt du das", sagt Ash. Aus dieser Entfernung kann ich seinen Atem riechen. Er hat anscheinend ordentlich vorgeglüht.
„Nein, Ash. Also sag mir jetzt, was ich wissen sollte." Auch Anne und Khans Aufmerksamkeit liegt nun bei mir. Anne wirkt nachdenklich, fast schon überrascht. Mein Herz macht einen Satz, rutscht mir in die Hose. Was sollte ich wissen? Verschweigt mir Darren etwas? Als mir Ash nicht weiter antwortet, frage ich die Runde, wo sich Darren aufhält. Meine Stimme nicht länger gefasst. Sie bricht. Ich breche.
Es ist Khan, der mit dem Kopf hinter mich deutet. Dort steht jetzt Darren, einen weiteren Plastikbecher in der Hand.
„Was hab ich verpasst?", will er wissen. Mit einer einzigen Geste bedeute ich ihm mir zu folgen. Das werde ich nicht auf mir sitzen lassen. Mitschüler werfen uns befremdete Blick zu, als wir uns einen Weg durch die Menge kämpfen. Ich boxe nicht wenige einfach in die Seite, so aufgewühlt bin ich gerade. Draußen vor der Sporthalle bleiben wir stehen. Er lächelt mich an und ich stolpere. Was denkt er, will ich hier draußen mit ihm machen, verdammt. Gereizt ziehe ich die Highheels aus. Sie sind ohnehin unbequem.
„Ash meinte, es wäre echt krass, dass du mich rumgekriegt hast." Absichtlich betone ich das Wort ‚Rumkriegen'. Ich kneife die Augen zusammen.
„Warum?" Mit verschränkten Armen warte ich auf eine Antwort. Er sieht mir nicht in die Augen.
„Ach Stew. Das war doch nur Ashs Art, dich auf die Palme zu bringen", sagt er und lacht leise. Dennoch. Er sieht mir nicht in die Augen.
„Seine Art, mich auf die Palme zu bringen", wiederhole ich, lauter, oh so viel lauter. Vereinzelte Paare, die den Ball verlassen wollen, schenken uns im vorbeigehen mitfühlende Blicke.
„Ash meinte, nach allem was passiert wäre, würde ich seinen Respekt verdienen. Also lüg mich jetzt nicht an. Er kann nicht die Sexgeschichte meinen, du wärst zu stolz, um ihm davon zu erzählen." Ich werfe den Kopf zurück, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen. Was verschweigt er mir?
„Das..." Pause. Aha. Da gibt es also doch etwas.
„Spuck's schon aus."
„Ich..." Noch eine Pause. So schwer kann das doch gar nicht sein.
„Du erinnerst dich doch an die Party vor zwei Wochen", beginnt er, der erste vollständige Satz seit einer gefühlten Ewigkeit. Ich nicke.
„Ich... Wir... Also..." Super. Er soll es einfach aussprechen.
„Darren", sage ich mit Nachdruck in der Stimme. Er schweigt. Nochmal:
„Darren", gleichzeitig mit jemand anderem. Unisono rufen wir Darren. Es ist Anne, die auf uns zugeeilt kommt. Ich stocke und sehe zwischen den beiden hin und her. Darren öffnet den Mund.
„Es tut mir leid, Stew", sagt sie atemlos, als sie uns erreicht.
„Was tut dir leid?" Obwohl ein Teil von mir längst verstanden hat, was vor sich geht, so hält der andere Teil doch an dem fest, was Darren und ich hatten. Er würde nicht... würde er? Anne schlägt sich eine Hand vor den Mund.
„Darren?", frage ich noch mal, meine Stimme so leise, dass es kaum ein Flüstern genannt werden kann.
„Stew, es... Es ist einfach passiert." Er wirft Anne einen vorwurfsvollen Blick zu. Vorwurfsvoll, weil er mir nichts gesagt hätte, wäre sie nicht soeben aufgetaucht? Sehe ich das richtig?
„Was ist passiert?", krächze ich. Dann bemerke ich, wie nah die beiden bei einander stehen. Wie vertraut sie wirken. Montag in der Drama-AG. Annes Bemerkungen. Es passt alles. Und es stimmt mit dem überein, was die beiden als nächstes sagen.
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