Zehn
Am Ende der Stunde lässt Mrs. Bonnefelder einen Zettel umgehen, auf dem wir Vorschläge für das Theaterstück machen sollen, dass kurz nach den Winterferien prämiert werden soll. Bis dahin ist noch unglaublich viel Zeit und ich würde am liebsten sofort mit dem Proben anfangen. Als der Zettel zu mir kommt, stehen bereits drei Märchen und eine Kriminalstory in Krakelschrift darauf. Ich bemühe mich um etwas originelles, allerdings gefällt mir der Vorschlag „Modern-Little-Red-Riding-Hood" schon recht gut. Ich schreibe trotzdem den Namen meines liebsten Märchens und Disneyfilms auf den Zettel. Cinderella. Eine Versuch ist es wert.
Meinen Strich dahinter, fertig, dann gebe ich den Zettel an Darren weiter.
Dieser rümpft bloß die Nase, setzt einen Strich hinter Cinderella und kümmert sich dann wieder um sein Handy. Wow. Er ist echt ganz schön durch den Wind.
„Alles okay bei dir?", will ich wissen und versuche die Aufmerksamkeit von seinem Handy auf mich zu lenken.
„Ich denke schon", sagt er, aber es hört sich eher nach einem Grummeln an.
„Sicher?" Ich mag es nicht, wenn er mich anlügt, wenn er denkt, dass etwas nicht wichtig genug ist, es auszusprechen.
„Ja." Er verzieht das Gesicht zu einer Grimasse, die ein Lächeln darstellen soll.
„Vielleicht täte etwas Ablenkung gut..." Ein Zwinkern, dann hat er sich seine Tasche über die Schulter geschwungen und trottet davon. Ich blicke ihm einen Augenblick verblüfft hinterher. Das war unverblümt. Mir wird heiß und kalt zugleich. Obwohl ich nicht abgeneigt bin, ein bisschen mit ihm rumzumachen – manchmal komme ich mir genauso vor, wie er es ausgedrückt hat. Wie seine Ablenkung. Nichts weiter.
Ich zwinge mich zu einem gleichgültigen Gesichtsausdruck, straffe die Schultern und folge ihm dann. Vielleicht sollte ich ihn darauf ansprechen. Wir können doch nicht immer nur Sex haben. Ich möchte ins Kino, Bowling, meinetwegen Schlittschuhfahren, ein richtiges Date eben. Im Vorbeigehen fällt mein Blick auf Khan, der nachdenklich die Brauen zusammengezogen hat. Unsere Blicke treffen sich. Etwas blitzt in seinen Augen auf. Etwas wissendes. Bevor ich näher drüber nachdenken kann, eile ich aus der Aula.
Dieser Typ geht mir ganz schön unter die Haut.
Spät abends kehre ich von Darren heim und zu meiner Überraschung sitzt mein Bruder in der Küche. Er isst zu Abend. Allein sitzt er an unserem winzigen Esstisch. Seine schwarzen Haare glänzen vor Schweiß, die gebräunte Haut weist einige Kratzer auf. Ab und zu sehe ich viel zu viel von mir in ihm – wo wir uns doch rein gar nicht ähnlich sehen.
Ich blond und kalkweiß. Er das Gegenteil. Gedankenverloren schiebt er sich einen Löffel in den Mund. Ich will schon umdrehen und so schnell es geht in meinem Zimmer verschwinden, doch da bemerkt er mich und winkt mich zu sich.
„Wo sind Mum und Dad?" Es ist nichts seltsames, sie nicht mit ihm in der Küche zu sehen. Mikael runzelt die Stirn. Auch für ihn ist diese Situation Standard.
„Dad schreibt an seinem Roman – oder woran auch immer. Mum meditiert mit Mr. Jenkins. Du weißt doch, er hilft ihr spirituell rein zu sein. Wie jeden Montag." Mikael rückt einen Stuhl für mich zurecht und fischt einen Teller aus dem Holzschrank zu seiner Rechten. Dann öffnet er Töpfe und klatscht mir eine undefinierbare Pampe auf den Teller. Ich verziehe unauffällig den Mund.
„Du wirkst müde", sagt er und mustert mich. Eilig setze ich mich aufrechter hin. Schließlich schüttle ich den Kopf. Aber es stimmt. Der Nachmittag mit Darren hat mich leicht geschlaucht. Zwischen einigen sehr schönen Momenten haben wir uns gestritten.
Es ging um Homecoming. Er schämt sich, weil sein Team das letzte Spiel verloren hat. Dabei findet Freitag das nächste statt. Genau das habe ich zu ihm gesagt und dafür einen wütenden Blick und die Worte: „Du verstehst das nicht", geerntet. Natürlich. Als ich daraufhin sagte, ich verstünde ja nie was und sei auch nur für eine Sache gut, blitze so etwas wie Schuldbewusstsein in seinen Augen auf, doch ich hatte genug.
Also bin ich gegangen, ohne ein weiteres Wort abzuwarten. Am liebsten würde ich mich heulend auf mein Bett legen. Ich hätte fast angefangen zu heulen, als ich im Bushaltestellenhäuschen saß. Momentan läuft nicht alles nach Plan. Freitag darauf findet dann der Homecoming-Ball statt, aber im Augenblick weiß ich echt nicht, ob ich Lust darauf habe.
„Wie läuft die Schule?" Mikael reicht mir den randvollen Teller und weist mich mit einem Nicken an, zu essen. Sich selbst schaufelt er ebenfalls noch einen Teller voll, krempelt sich dann die Ärmel seines dreckigen weißen Hemds zu und tupft sich den Mund mit einer Serviette ab.
„Gut." Ich nehme einen zögerlichen Bissen und stelle fest, dass das undefinierbare schmeckt. Dennoch rebelliert mein Magen und knurrt. Mikael horcht auf.
„Hast du genug gegessen?" Sorge trübt seinen Blick.
„Klar. Ist nur schon eine Weile her", lüge ich und beiße mir auf die Zunge, ehe ich mir demonstrativ einen weiteren Bissen in den Mund schiebe.
„Stew...", setzt er an, aber ich unterbreche ihn sofort.
„Ich lüge nicht." Natürlich tue ich das.
„Frag Darren, ich hab gut zu Mittag gegessen." Hah, ich weiß genau, dass er das nicht tun wird. Das ist Teil unserer Abmachung. Darren wird aus dieser Sache herausgehalten. Er weiß nicht, wo ich war, bevor ich an seine Schule kam.
„Wenn du es nicht tätest-", Mikael stockt und schließt für einen Moment die Augen. Unauffällig suche ich nach einem Weg, den restlichen Teller auszuschütten. Mein Magen platzt bald.
„Versprich mir, dass du genug isst." Meine Hand um dem Löffel verkrampft und ich muss mich beherrschen, sie ruhig zu halten.
„Versprochen." Innerlich schüttle ich den Kopf. Unmöglich.
Es tut mir leid, möchte ich sagen, aber die Worte bleiben mir im Hals stecken. Genau wie die essbare Pampe. Mikael nickt und wartet bis ich aufgegessen habe – jeden Tropfen.
// Das ist kurz, I know, aber hier endet das richtige Kapitel, deswegen wollte ich nichts überschneiden
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