Sechs
Grandma und Grandpa Dexter brechen am nächsten Morgen um sieben Uhr auf, warten nicht mal ein liebevolles Familienfrüstück ab. Mums Vorschlag dahingehend weist Grandma Dexter mit einem affektierten: „Hermann braucht sein spezielles Lachsomelett. Und ich meinen Minztee." Niemand bietet ihr das eine noch das andere an, also müssen sie wohl oder übel ohne Frühstück fahren.
Wir sitzen am Esstisch, während Mikael Grandmas Koffer und Grandpas Rucksack nach draußen bringt.
„Du sagtest gestern, du müsstest uns noch etwas mitteilen?", fragt Dad, der sich dabei gähnend am Kopf kratzt. Normalerweise liegt er um diese Uhrzeit noch eine Weile schlummernd in seinem Bettchen.
„Ja." Grandma Dexter lächelt. Es ist dieses gruselige Lächeln, das nichts gutes verheißt.
„Hermann!", brüllt sie. Mein Großvater kommt zur Haustür hereingestürmt. Er atmet schwer, eilt auf seine Frau zu.
„Wen muss ich zusammen schlagen? Feuerwehr?", schnauft er. Sie verdient ihn nicht. Ich liebe meinen Großvater heiß und innig. Und er liebt Grandma Dexter heiß und innig. Ob sie das weiß? Dass sie ihn so total unter ihrer Fuchtel hat?
„Keine Feuerwehr, Hermann. Dafür haben wir doch Mikael." Mein Bruder macht einen komischen Laut, als die Haustür hinter ihm zufällt.
„Was ist mit mir?", murmelt er, ebenfalls todmüde. Ich reiche ihm eine Tasse Kaffee.
„Egal. Frederika?" Dad wringt sich die Hände. Und so stehen meine Großeltern vor uns, wie das Sensenpärchen, während wir sitzen. Sie ragen praktisch über uns auf. Dann platzt die Bombe.
„Es wird euch freuen zu hören, dass wir vorhaben, euch öfter zu besuchen. Jetzt, wo Ted und Meredith bald für eine Weile außer Haus sein werden, möchten wir gerne mehr von unseren Enkelkindern haben." Selbstverständlich Grandpas Worte. An Mikael und mich gerichtet.
Grandma fügt noch etwas wie: „Ihr könnt das Gästezimmer schon mal einrichten, denn wir kommen bald wieder." Sie kommen uns öfters besuchen. Uns. Ich unterdrücke ein Würgegeräusch. Reicht ja nicht, dass Mum und Dad uns allein lassen, nein, dann lassen sie uns gar nicht allein, sondern bestellen uns einen Babysitter. Niemand regt sich. Mum blickt perplex zwischen den beiden hin und her. Okay, vielleicht nicht ihre Idee. Dann stehen sie und Dad gleichzeitig auf und schieben die beiden aus dem Raum. Wir hören, wie sie in ihr Schlafzimmer gehen. Die Tür fällt mit einem lauten Knall hinter ihnen zu. Ich höre Mums anklagende Stimme.
„Warum habt ihr das nicht mit uns abgesprochen?"
„Ich wüsste nicht, dass es dafür einen Anmeldebogen gäbe", erklingt Grandmas Stimme daraufhin. Sogar aus der Entfernung kann ich ihre gehobene Augenbraue förmlich hören.
„Mum. Ich weiß nicht recht, ob das eine gute Idee ist. Stew muss sich erst an die neue Situation gewöhnen. Die Situation noch neuer zu machen, wird da nicht helfen." Ich verschränke die Arme vor der Brust. Leider haben sie irgendwie recht. Die Situation ist neu. Ich habe mich längst nicht an die Vorstellung gewöhnt. Noch einen neuen Faktor ertrage ich nicht.
„Können sie das nicht erst nächstes Jahr machen? Die Besuche meine ich?", frage ich an Mikael gewandt.
„Wenn ich endlich hier weg bin", füge ich leiser hinzu. In der Hoffnung, dass ich es hier weg schaffe.
„Papperlapap", höre ich meine Großmutter sagen, ehe Mikael auch nur den Mund öffnen kann.
„Sie muss sich an gar nichts gewöhnen. Ihr behandelt Stew wie ein Kind. Sie ist erwachsen." Ich beiße mir auf die Lippe. Am liebsten würde ich schreien: Her feelings are valid. Aber ich tue es nicht. Stattdessen sehe ich Mikael an. Er erwidert meinen Blick.
„Fühlt sich eher an, als ob die beiden uns wie Kinder behandeln, wenn du mich fragst", bemerkt er, als die Stimmen unserer Großeltern verstummen. Ein lautes Geräusch ertönt.
„Frederika!", meine Mutter. Dann wird die Tür zu ihrem und Dads Schlafzimmer aufgestoßen. Meine Großmutter rauscht aus dem Raum, Grandpa dicht auf ihren Fersen. Während sie uns falsch zulächelt und mit einem Blick zu verstehen gibt, dass sie uns bald wieder sehen wird – ich bemühe mich, nicht die Augen zu verdrehen oder schlimmer, in hysterisches Gekichere zu verfallen – lächelt er echt und zwinkert uns zu. Die beiden verlassen das Haus ohne Küsschen rechts und links, die Haustür fällt genauso laut zu wie Grandma Dexter es mag.
Ich sinke in mich zusammen und plumpse auf einen Stuhl. Mikael reicht mir seinen Kaffee und verwirrt wie ich bin, trinke ich ihn bis zur Hälfte aus. Mit Zucker und Milch. Mum und Dad sind immer noch in ihrem Schlafzimmer. Ihre Stimmen leise.
„Vielleicht sollten wir den Umzug", in Gedanken schnaube ich und ersetze das Wort Umzug mit Auszug, „nochmal überdenken", sagt Mum. Daraufhin erwidert Dad etwas, das ich nicht verstehen kann.
„Ja", erwidere ich laut an seiner Stelle. Mikael nimmt mir den Kaffee wieder weg und gießt sich neuen ein. Damit er ja nicht leer wird. Ich muss an Nadines Kaffee Metapher denken und lächle leicht.
„Wir werden das überleben, Stewy."
„Bitte nenn mich nicht Stewy", ich verziehe das Gesicht. Er übergeht meine Bitte.
„Wir haben bis jetzt alles überlebt, was diese Familie auf uns geworfen hat. Da werden wir wohl unsere Großeltern überleben. Und Mum und Dads Umzug."
„Du hast leicht reden", halte ich dagegen.
„Du bist schließlich schon erwachsen. Du brauchst Mum und Dad nicht mehr." Er hebt beide Augenbrauen.
„Das letzte mal, als ich nachgesehen habe, warst auch du schon 18. Ist ja nicht so, als wären die beiden plötzlich tot." Nennt mich dramatisch, aber genauso kommt es mir vor.
„Ich will einfach, dass alles so bleibt, wie es gerade ist. Ist das zu viel verlangt?" Meine Stimme ist fest, als ich an ihm vorbei aus der Tür in Richtung Schlafzimmer meiner Eltern schaue. Das die beiden immer noch nicht verlassen haben.
„Auch wenn es nicht ideal ist, wie es ist." Achselzuckend erhebe ich mich. Ich habe ein Date, für das ich mich vorbereiten muss. Seufzend stellt Mikael seinen Kaffee auf der Küchentheke ab. Ohne etwas zu sagen, zieht er mich in eine Umarmung.
„Veränderungen sind nicht partout etwas schlechtes."
„Spar dir deine komischen Zen-Weisheiten, Mikael. Ich will sie nicht hören." Dennoch erwidere ich seine Umarmung und schließe kurz die Augen, atme seinen wohligen Duft ein. Zuhause. Wenigstens wird er mich nicht verlassen.
Vier Stunden später holt mich Khan zuhause ab. Meine Eltern haben ihr Schlafzimmer erst vor einer Stunde verlassen, sind nicht verwundert darüber, dass ich ausgehen werde. Wir machen einen Abstecher bei Mariah, der ich heute Morgen eine Nachricht geschrieben habe, in der ich um den Schlüssel für die Eishalle gebeten habe, die an den Feiertagen geschlossen ist. Ich stehe alleine an der Haustür und nehme den Schlüssel entgegen, was gut ist, da Mariah mit den Augenbrauen wackelt und allerlei Anspielungen macht, die ich nun echt nicht gebrauchen kann. Ich bedanke mich, gebe ihr spielerisch einen Stoß in die Seite und eile dann kopfschüttelnd zurück zu Khan und seinem Wagen.
Khan trägt eine rote Wollmütze, die ihm unglaublich gut steht und die ich mit den Worten „Guten Tag, Herr Weihnachtsmann", kommentiert habe. Woraufhin er lachte und mir meine eigene Mütze vom Kopf riss. Außerdem trägt er einen Wollcardigan, Jeans und auf der Rückbank liegen Schlittschuhe, die ziemlich cool aussehen. Ich selbst habe mich ausnahmsweise für ein Kleid entschieden, das ich letztes Jahr von Mariah zu Weihnachten geschenkt bekommen habe. Darunter trage ich eine Leggings, Stulpen und meine geliebten Schlittschuhe liegen auf meinem Schoß.
„Wir sehen aus, als wären wir auf dem Weg in den Winterurlaub", meint Khan amüsiert.
„Obwohl ich sagen muss, dass mir dein Outfit gefällt. Irgendwie Prinzessinen-like." Bei diesen Worten färben sich meine Wangen rot und ich starre aus dem Fenster, damit er meine Verlegenheit nicht bemerkt. Die Eishalle liegt außerhalb der Stadt, mein Zuhause, Khans Zuhause und die Eishalle würden ungefähr ein Dreieck bilden, wenn man alle drei auf einer Karte einzeichnen würden. Wie erwartet steht außer Khans Auto kein anderer Wagen auf dem Parkplatz.
Sobald ich aufgesperrt habe, hüllt uns dieser vertraute Geruch nach Eis und Kälte ein und zum ersten Mal seit einer Ewigkeit freue ich mich, weil es kalt ist. Unser Date auf der Eisbahn verläuft relativ normal. Also, natürlich ist es berauschend, lustig und macht unglaublich Spaß. Fast schon, als hätte es das Schicksal so gewollt, und zwar nur so. Während wir Händchen haltend unsere Runden auf der ansonsten leeren Eisbahn drehen, reden wir. Und wie wir reden. Über alles und doch über gar nichts.
Richtig amüsant wird es dann, als diesmal nicht ich, sondern Khan hinfällt.
„Rollentausch, huh?", scherze ich, als ich ihm meine Hand hinhalte. Die er daraufhin ergreift und mich zu ihm runter zieht. Ich lande relativ unsanft auf meinem Hintern.
„Jetzt sind wir quitt." Seine Stimme ist rau, er leckt sich über die Lippe. Ich rolle gespielt beleidigt die Augen, kann das leichte Grinsen aber nicht davon abhalten, auf meinem Gesicht zu erscheinen. Er ist einfach... Charming.
„Mein Hintern wird nur langsam kalt", lache ich, in einem Versuch wieder aufzustehen, doch er hält mich am Arm zurück. Tatsächlich spüre ich förmlich, wie meine Hose nass wird.
„Dein hübsches Hinterteil wird schon nicht abfallen", sagt er, ehe er seine Lippen unverwandt auf die meinen drückt. Mein hübsches Hinterteil? Ich bin etwas überrumpelt, erwidere seinen Kuss allerdings – und wie ich ihn erwidere. Seine Lippen schmecken wie immer nach Weihnachten und Zimt und... Irgendwann sitzen wir nicht mehr auf dem eisigen Boden, er liegt und ich knie über ihm.
So werden zumindest nur meine Knie kalt, und sein kompletter Rücken. Wir küssen uns noch eine Weile, scheinen kein Ende zu finden. Schließlich lösen wir uns gleichzeitig von einander.
„Es wird wirklich langsam kalt", gibt er zu. Ich werfe den Kopf in den Nacken und lache.
Wir beschließen, die Eishalle Eishalle sein zu lassen und machen uns in Khans Auto auf den Weg in ein Restaurant hier in der Nähe, um uns aufzuwärmen. Mein Hintern ist glücklicherweise fast schon wieder komplett trocken. Das Viertel ist nicht ganz so nobel wie das Viertel, in dem Khan wohnt, aber die Straßen sehen mindestens genauso belebt und strahlend aus. Vor allem früh am Abend, wenn sich der Himmel in ein knalliges Purpur verwandelt. Kaum haben wir die erste Kreuzung erreicht, da vibiriert mein Handy leise vor sich hin. Ich fische das Teil aus meiner Handtasche und öffne den Bildschirm.
Hey Stewy,
Nächsten Freitag steigt meine Geburtstagsfeier, ich hoffe, du kommst auch? Details schicke ich dir noch mit einer Adresse, damit du auch nicht zur falschen Location fährst. Es wird voll, also bring genug Deo mit. Motto: Tiere. Aber nimm das nicht zu streng, letztes Jahr, war das Motto Beachparty und die Leute kamen mit ihren Surfboards. Als hätte ich extra einen Strand organisiert?! Im Dezember! Kannst auch gerne jemanden mitbringen, auch wenn ich mir denke, dass du viele noch von früher kennen wirst. Das wird super.
Ich freu mich, Ana.
Meine Augen werden groß. Für einen Moment kann ich nichts tun außer das Telefon in meiner Hand anstarren. Ana lädt mich also tatsächlich zu ihrem Geburtstag ein. Ich hatte angenommen, sie hätte das bei unserem Treffen nur gesagt, damit ich mich nicht schlecht fühle. Oder so. Aber sie meinte es ernst.
„Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen", lacht Khan.
„Keinen Geist, nur meine beste Freundin von vor über drei Jahren." Ich schließe die Augen und lasse den Kopf gegen die Sitzlehne fallen. Soll ich wirklich zu ihrem Geburtstag kommen? Kurz ziehe ich in Erwägung, Miss Nadine anzurufen und diese zu fragen. Sie weiß alles über Anas und meine Freundschaft, die nicht immer Sommer-Sonne-Regenbogen war. Und dennoch fühle ich mich verpflichtet dazu, zu erscheinen. Wir haben uns seit Ewigkeiten nicht gesehen, unser Treffen nach meiner Therapiestunde vor ein paar Wochen mal ausgeschlossen. Ich habe auch die anderen seit Ewigkeiten nicht gesehen. Nicht dass ich sie vermissen würde, aber Neugierde schlummert doch irgendwo in mir. Was wohl aus ihnen allen geworden ist...
„Sie hat mir geschrieben", erkläre ich, als Khan nicht weiter nachfragt.
„Wer hält eine Geburtstagsparty mit dem Motto Tiere?", stelle ich Laut eine Frage, die mir durch den Kopf schwirrt, seit ich ihre Einladung gelesen habe.
„Tiere?" Khan zieht beide Augenbrauen hoch, während er rechts abbiegt in eine Straße, die sehr belebt wirkt. Ich war noch nie hier. Nicht verwunderlich, immerhin habe ich in den drei Jahren, die ich hier lebe, bloß mein Zuhause, sein und Darrens Viertel, Mariahs Zuhause und die Schule gesehen. Ungefähr.
„Tiere." Ich schüttle belustigt den Kopf.
„Klingt extravagant."
„Alles okay bei dir?", will ich wissen.
„Du bist so still." Die einsilbigen Antworten, die Stille. Er seufzt. Laut.
„Schätze, ich denke etwas zu stark über deinen sogenannten Geist nach." Er parkt den Wagen am Straßenrand vor einem Restaurant mit der Aufschrift La Pizza. Sehr originell.
„Ana?", frage ich. Er zuckt die Achseln und steigt aus dem Wagen. Ich runzle die Stirn, folge seinem Beispiel aber.
„Was ist mit ihr?" Ich sehe zu, wie Khan eine Tasche vom Rücksitz nimmt, sie sich über die Schulter hängt und dann auf das Restaurant zumarschiert. Ich halte ihn am Arm zurück.
„Rede mit mir", fordere ich.
„Tut mir leid, Stew", er seufzt.
„Manchmal macht mich die ganze Geheimniskrämerei einfach ein bisschen verrückt." Die Geheimniskrämerei. Ich werde blass. Mein Herz rutscht mir in die Hose. Er seufzt erneut, nimmt meine Hand von seinem Arm und verschränkt seine Finger mit meinen.
„Ich versuche ständig, irgendwelche Puzzleteile zusammen zu setzen. Aber es ergibt nie Sinn. Du und deine Großmutter gestern. Deine beste Freundin von vor drei Jahren. Das Cheerleader-Training vor ein paar Wochen, das du gesprengt hast." Ich ziehe eine Augenbraue hoch.
„Im guten Sinne gesprengt. Dann unser Besuch im Krankenhaus. Die Situation auf Matts Party." Ich weiß, dass er damit auf mein ungegessenes Frühstück anspielt und werde vermutlich noch blasser. Plötzlich ist mir warm. Eigentlich kennt er mein Geheimnis doch längst? Er muss nur eins und eins zusammen zählen.
„Ich kenne dich mittlerweile so gut – und trotzdem habe ich manchmal das Gefühl, dich kein bisschen zu kennen." Nur weil ich ihm nichts von meiner Vergangenheit erzählt habe? Meine Vergangenheit sagt doch nichts über mich aus. Dennoch stehen die Worte „Warum vertraust du mir nicht", zwischen uns in der Luft. Mein Herz schlägt schneller, als ich einen Entschluss fasse.
„Komm mit", sage ich. Er sieht sich um.
„Wohin?" Ich atme tief durch.
„Komm mit und lerne meine Vergangenheit kennen." Wenn es das ist, was er unbedingt will.
♡♡♡
Weiß noch nicht, wann das nächste kommt, aber ich muss die Kapitel jetzt erstmal wieder hochladen, deshalb frühestens Sonntag und ansonsten vermutlich Mittwoch :) xxx
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro