Sechs
Ich genieße es dem Leben um mich herum zuzusehen und bin überrascht, wie schnell die Fahrt endet. Von meinem Handy lasse ich mich zu dem riesigen Ein-Familien-Haus in einer wirklich engen Seitenstraße führen, deren Häuser bis weit in den Himmel hinaufreichen und sehr sauber und weiß aussehen. Auch das, vor dem ich stehe, ist strahlend sauber und weiß. Blumen sprießen im Vorgarten, die marmorne Treppe glitzert verräterisch. Alle sieben Fenster, ich habe sie gezählt, leuchten von innen heraus.
Ich schlucke und spüre, wie mein Herz schneller schlägt. Ich bin gespannt, was mich hinter der Tür des Hauses, vor dem ich stehe, erwartet. Mit zitternden Hände öffne ich das kleine Tor des Vorgartens und spaziere dann hinauf zu einem kleinen Treppenabsatz. Ein Blick auf das Klingelschild bestätigt mir, dass ich auf der Treppe der Mayfields stehe.
Ehe ich es schaffe, die Klingel zu betätigen, wird die Tür auch schon aufgerissen. Eine hübsche Frau in ihren Vierzigern lächelt mich strahlend an. Sie trägt eine Krankenschwesterntracht und in ihren Augen liegt dieser Ausdruck, den ich automatisch bewundere – pures Glück. Ich lächle wie von selbst zurück. Obwohl sie bereits ausgehbereit aussieht, wirkt sie keineswegs gestresst. Erneut bewundernswert.
„Hi, ich... eh... bin Stew." Gut gemacht. Den ersten Eindruck versaut.
„Das habe ich mir schon gedacht. Komm doch rein, wir bereden alles drinnen – ich habe allerdings nicht viel Zeit." Da zieht sie mich auch schon am Ärmel zu sich ins Haus. Hinter mir fliegt die Tür mit einem lauten Rums zu. Etwas peinlich berührt bemühe ich mich im Flur schnell die Schuhe auszuziehen und ihr dann nach hinten in ein riesiges Wohnzimmer zu folgen. Im Vorbeigehen bemerke ich eine Treppe, die vermutlich in den zweiten und dritten und vierten und fünften und tausendsten Stock führt. Dieses Haus wirkt von innen sogar noch größer als von außen.
„Bitte entschuldige die Unordnung. Wir hatten die Woche sehr viel zu tun und kamen nicht zum Aufräumen." Sie bleibt im Türrahmen zur Küche stehen und ich folge ihr.
„Das kenne ich", lache ich und bin mir nicht ganz sicher, ob diese Antwort angemessen ist.
„Mein Mann ist heute Abend nicht zuhause, ich muss gleich arbeiten und mein großer Sohn geht auch demnächst weg. Ich hoffe, ich kann dich hier mit Aiden alleine lassen." Sie nickt in Richtung des kleinen Jungen, der in der Küche sitzt und, gemütlich ein Nutellabrot mampfend, zu mir hinüber blickt. Er sieht niedlich aus, so wie sich die Schokolade einem Bart gleichend um seine Mundwinkel zieht. Er hat braune Haare und funkelnde dunkelblaue Augen, fast schon schwarz, markante Gesichtszüge für sein Alter. An irgendwen erinnert der Kleine mich, bisher kann ich es bloß nicht einordnen.
„Natürlich. Deswegen bin ich ja hier." Jetzt sieht sie wieder mich an.
„Wie alt bist du? Entschuldige, dass ich dich einfach so hierher bestellt habe, ohne Details zu klären", sagt sie und hält sich eine Hand vor den Mund, um dank Aidens neugierigem Grinsen nicht in einen Lachanfall auszubrechen.
„Ich werde in zwei Monaten achtzehn, ma'm", antworte ich ihr brav und bemerke die hochgezogenen Augenbrauen.
„Du wirkst auf mich wie zwanzig, tut mir leid. Du darfst mich auch gerne Kerstin nennen, ich hab es nicht so mit Umgangsfloskeln." Erleichtert atme ich aus. Ich fühle mich in diesem Haus wohler als erwartet, auch wenn mir mulmig wird bei dem Gedanken, die Toilette zu suchen. Allein von diesem Wohnzimmer scheinen fünf Türen abzuführen, die mich ins Nirwana führen könnten.
„Pass auf, ich hole schnell meine Tasche runter und dann zeige ich dir, wo Aidens Zimmer und die Toilette sind. Falls du heute Abend Langeweile hast, darfst du gerne den Fernseher benutzen, ansonsten bedien dich am Kühlschrank und fühl dich wie zuhause." Ich schließe Kerstin direkt ins Herz mit ihrem sympathischen Lächeln und den glücklichen Augen.
Sobald sie Gesagtes getan hat, finde ich mich allein mit Aiden in der Küche wieder. Er hat bisher kein einziges Wort von sich gegeben und sieht mich nur stumm an. Irgendwie süß aber auch ein wenig angsteinflößend.
„Wie alt bist du?", frage ich und setze mich neben ihn. Laut Karsten darf er nach dem Essen eine halbe Stunde Fernsehen und soll dann eigenständig ins Bett gehen. Spätestens um zehn soll ich nachsehen, ob das Licht aus ist. Sehr einfach, wenn man mich fragt.
„Neun." Er grinst und entblößt seine von der Nutella verschmierten Zähne. Ich lache leise und suche in der Küche nach einem Taschentuch. Als ich ihm die Nutella von den Wangen und vom Mund geschmiert habe, sorgfältig darauf achtend mich nicht ebenfalls damit ein zu kleckern, schmeiße ich das Taschentuch in einen Mülleimer unter der Spüle und setze mich dann wieder hin.
„Willst du mich heiraten?", bricht es aus Aiden heraus und ich muss mir auf die Lippe beißen, um nicht in schallendes Gelächter auszubrechen. Das kam plump.
„Wenn du mich in zehn Jahren nochmal fragst, lässt sich darüber diskutieren", spiele ich sein Spiel mit und zwinkere ihm zu. Seine Augen werden ganz groß und seine Wangen färben sich nun nicht mehr braun sondern rötlich. In diesem Augenblick ertönt lautes Poltern, jemand kommt die Treppen runter. Mein Herz macht einen Satz, aus Nervosität? Angst? Vielleicht auch, weil ich nicht weiß, wer oder was mich erwartet.
Aiden verdreht die Augen und flüstert mir leise zu: „Das ist Khan. Aber pass auf, vermutlich wird er dich auch fragen, ob du ihn heiratest." Moment. Khan? Mein Herz macht einen Satz und ehe ich mich wundern kann, was das soll, ertönt auch schon seine Stimme.
„Mum? Weißt du, wo mein Gürtel ist?" Es ist also wirklich dieser Khan. Verrückt, dass ich ausgerechnet auf seinen kleinen Bruder aufpasse! Am liebsten würde ich mich selbst ohrfeigen. Vielleicht wäre etwas Vorbereitung auf diese völlig fremde Familie doch ganz praktisch gewesen. Selbstverständlich antwortet Khans Mum nicht und als er verzweifelt und nur mit Hose und Unterhemd bekleidet im Türrahmen zur Küche stehen bleibt und mich erblickt, setzt sich ein wissendes Grinsen auf seinem Gesicht fest. Irgendetwas sagt mir, dass er wusste, ich würde hier sein.
Ich beeile mich ihn nicht zu auffällig zu mustern. Hallo! Der Typ trägt nur ein Unterhemd und seine Hose ist offen.
Khan ist also Kerstins großer Sohn. Mit seinen nicht vorhandenen schwarzen Haaren sieht er Aiden auf den ersten Blick kein bisschen ähnlich. Dennoch erkenne ich ihn in ihm wieder – die Augen. Ich schließe kurz und unauffällig meine eigenen Augen, um mich zu beruhigen. Deswegen kam mir Aiden direkt bekannt vor. Das darf nicht wahr sein. Als ich sie wieder öffne, ergreift Aiden das Wort, während ich versuche nicht auf Khans Sixpack zu starren, dass durch das weiße Unterhemd mehr als deutlich wird.
„Du wirst sie nicht heiraten!", ruft Aiden besitzergreifend. Obwohl diese Situation mehr als bizarr ist, lege ich den Kopf schief und schmunzle über Aidens plötzliche Besitzansprüche. Als hätte Khan auch nur das geringste Interesse an mir oder einer Ehe.
„Heiraten?", will Khan wissen. Aiden nickt aufgeregt.
„In zehn Jahren." Das hat er also ernst genommen. Wow. Kleine Kinder sind ja sowas von süß. Ich schenke Khan ein Lächeln – zum ersten Mal ein echtes.
„Sein Antrag war so herzzerreißend, dass ich doch nicht nein sagen konnte!" Khan sieht mich überrascht an. Ich starre nur genauso zurück.
„Du solltest öfter lächeln, Blondie. Steht dir." Er macht eine Pilotenverbeugung und verlässt dann die Küche, wo ich perplex auf meinem Stuhl festzufrieren scheine. Das hat er gerade nicht gesagt. Dreißig Sekunden später, nicht dass ich mitzähle, ertönt wieder seine Stimme von weiter weg.
„Aber du hast nicht zufällig hier irgendwo einen Gürtel gesehen, oder?" Aiden neben mir verdreht wieder die Augen. Für einen Neunjährigen wirkt diese Geste sehr erwachsen.
„Der liegt auf dem Sofa so wie immer", brüllt er, ehe er mich um was neues zu essen bittet. Ich möchte mir gar nicht vorstellen, wie der Gürtel dorthin gekommen ist – wie er dort immer hinkommt. Während ich Aiden ein zweites Brot mit Nutella bestreiche und meinen angeekelten Blick dabei so gut es geht unterdrücke, merke ich, dass Khan wieder in den Raum kommt und uns beobachtet.
„Deine Mutter meinte, ich soll solange auf Aiden aufpassen bis du heim kommst", sage ich, ohne mich zu ihm umzudrehen. Natürlich erwähnte seine Mutter mit keinem Wort, wie ihr großer Sohn überhaupt heißt. Als wüsste sie, dass ich Khan kenne...
„Das stimmt." Dann steht er plötzlich ganz nah neben mir und ich halte erschrocken die Luft an, als er sich an mir vorbei neigt, um sich einen Apfel aus der Obstschale zu holen. Immer noch neben mir beißt er hinein und grinst, wackelt anzüglich mit den Augenbrauen, als könnte er sich vorstellen, welche Gedanken in diesem Augenblick durch meinen Kopf schwirren. Wenigstens trägt er inzwischen ein Tshirt und die Hose ist zu.
„Mach dir keine Sorgen. Spätestens um drei kommst du von hier weg." Vermutlich geht er auf die After-Party. Das würde allerdings bedeuten, dass er vor vier Uhr niemals hier auftaucht, wenn überhaupt. Diese Partys enden meistens mit einem Dutzend schlafender betrunkener Jugendlicher, die in Matts Wohnzimmer ihren Rausch ausschlafen.
Andererseits habe ich so genug Zeit, um meine Hausaufgaben zu erledigen und im Internet nach einem Kleid zu schauen, das ich mir für den Homecoming-Ball besorgen könnte – oder dass ich mir von Darren schenken lassen könnte. Jedes Mal wenn ich ihm unauffällig ein Bild von einem Kleid schicke, taucht es einige Tage später hübsch verpackt vor meiner Haustür auf. Es sind eben die kleinen Dinge, über die man sich am meisten freut.
„Gut zu wissen", sage ich leise zu Khan und schelle mich innerlich, weil meine Stimme so komisch angeschlagen klingt.
„Und geb Aiden nicht zu viel zu essen. Er verträgt das sonst nicht und kann nicht schlafen." Kopfschüttelnd fügt er hinzu: „Es sei denn du willst eure Flitterwochen schon mal vorholen." Daraufhin lache ich und schüttle ebenfalls den Kopf. Natürlich wird er das mit der Hochzeit nicht allzu bald vergessen. Aber sein Bruder ist süß und ich finde es toll, dass er mich anscheinend mag. Wenn ich deshalb öfter babysitten darf, bedeutet das Geld für mich – Geld, das ich dringend brauche.
„Obwohl ich ja nicht weiß, was Darren davon halten würde", Khans Stimme ist plötzlich etwas tiefer. Ich höre ihn seinen Apfel essen und spüre, wie mein Magen knurrt. Peinlich. Ich beeile mich die Aufmerksamkeit von meinem knurrenden Magen zu lenken, reiche Aiden sein fertiges Brot und sehe Khan dann neugierig an. Was hat er bloß immer wieder mit meinem Freund?
„Wer ist Darren?", fragt Aiden mit vollem Mund.
„Musst du nicht irgendwo sein, Khan?", will ich stattdessen wissen. Der zuckt die Achseln.
„Ich kann kommen und gehen, wann ich will." Sein selbstgefälliger Gesichtsausdruck gibt mir zu verstehen, dass er damit auf unser Gespräch von vorhin hinweisen will. Dieses Gespräch kommt mir so lange her vor. Beinahe bin ich versucht, zu sagen, dass ich ebenfalls kommen und gehen kann, wann ich will. Aber wir wissen beide, dass das nicht ganz der Wahrheit entspräche.
„Wer ist Darren?" Aiden fährt sich über den Mund, um notdürftig den Süßkram wegzuwischen.
„Ihr Freund." Khan zieht ein Taschentuch aus der Box, die ich schon vorhin benutzt habe, wischt Aiden damit den Mund ab. Ich registriere, wie lieb er mit seinem kleinen Bruder umgeht. Das würde nicht jeder in seinem Alter so tun.
„Du hast einen Freund?" Aidens Augen sind jetzt ganz groß – nicht mal verletzt, dabei hat er vor einer halben Stunde um meine Hand angehalten, viel mehr neugierig und interessiert. Wie gerne wäre ich auch wieder in seinem Alter, würde mir nicht zu viel bei meinen Gefühlen denken – würde generell nicht zu viel denken.
„Ja", sage ich und lache leise. Das klingt viel zu verblüfft aus seinem kleinen nutella-verschmierten Mund.
„Küsst ihr euch auch?"
„Eh... also... ja?" Hilfesuchend wende ich mich an Khan. Wenn Aiden mich jetzt gleich nach Bienchen und Blümchen fragt, sage ich ihm dann die Wahrheit? Ich habe einen größeren Bruder, mit kleinen Geschwistern kenne ich mich nicht aus... Oder mit dem, was man zu ihnen sagen kann und was nicht. Ich möchte ihn nicht verstören.
„Und du hast trotzdem zugestimmt mich zu heiraten?" Vorwurfsvoll lässt er das Brot sinken. Ich schweige und würde Khan am liebsten schlagen, weil er nicht endlich verschwindet. Dann sagt er etwas, das ich so nicht erwartet hätte.
„Das ist nicht richtig. Dieser Darren verdient es, dass du ihn heiratest." Oh mein Gott. Aber seine Vorstellung vom Leben gefällt mir. Wenn doch alles so einfach wäre, wie er denkt!
„So einfach ist das nicht, Aiden", erkläre ich ihm und lasse meinen Blick aus dem Fenster schweifen. Darren und ich sind jetzt seit ungefähr drei Jahren(fast vier)ein Paar und ich liebe ihn. Trotzdem bin ich mir nicht sicher, wie mein Leben in einem Jahr aussehen wird, ganz zu schweigen von zehn Jahren. Ich habe Angst, dass er einsieht, wie wenig Geld meine Familie wirklich hat, dass ich nicht studieren werde und er mich deswegen verlässt. Oder am schlimmsten, dass er jemanden findet, den er mehr liebt als mich. Wird er mich satt haben? All diese Ängste sind real und unaufhaltsam.
In diesem Moment schmeißt Khan den leeren Apfelstrunk mit einem lauten Plopp in einen Mülleimer am Türrahmen, nimmt noch einen Schluck Wasser von einem Glas, das auf der Spüle steht. Dann fällt sein Blick auf die Uhr.
„Viel Spaß beim Aussuchen von Blondies zukünftigem Ehemann", er hebt die Hand zum Abschied, zwinkert mir zu. Ich muss mich unwillkürlich fragen, ob er überhaupt meinen Namen kennt. Also stehe ich einige Sekunden zu lange schweigend da und sehe an die Stelle, an der er bis eben noch gestanden hat. Die Haustür fällt laut ins Schloss.
„Eh... Stew?" Aiden fuchtelt wie wild mit den verschmierten Händen. Er lacht.
„Tut mir leid." Schnell helfe ich ihm beim Saubermachen und schicke ihn dann in das Zimmer, das mir Kerstin vorhin gezeigt hat, um sich umzuziehen.
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