Neunzehn
Darren beschließt anscheinend, dass er mir genug Zeit gegeben hat. Als ich am nächsten Tag heim komme, liegt ein Päckchen vor unserer Haustür, auf dem in geschwungenen Buchstaben mein Name steht. Ich bleibe sage und schreibe fünf Minuten vor der geschlossenen Haustür stehen und starre das Paket an. Was soll das? Das ist unverkennbar Darrens Handschrift. Er hat kein Recht mehr, mit Pakete zu schicken.
Dennoch nehme ich es an mich und betrete die Wohnung. Mikael hat anscheinend Spätdienst, denn es brennt kein Licht. Ich mache mich sofort auf den Weg in mein Zimmer, um das Päckchen zu öffnen. Gleichzeitig höre ich, wie mein Handy klingelt. Während ich mit einer Hand nach einer Schere greife und in den Karton steche, drücke ich auf den grünen Knopf und den Lautsprecher gleich dazu.
„Hey, Stew", es ist Mariah, deren helle Stimme durch mein Zimmer schallt.
„Hi", sage ich, die Schere nun in meinem Mund, wodurch das Hi eher wie ein Hmpf klingt.
„Bist du beschäftigt?", will sie wissen.
„Darren hat mir ein Päckchen geschickt." Da schwingt unverhohlener Spott in meiner Stimme mit und etwas anderes, das ich nicht ganz unterdrücken kann. Sehnsucht. Ich sehne mich nach Darren. Ihn in den Pausen in der Schule zu sehen, zehrt ganz schön an meiner Selbstbeherrschung und an meinem Stolz.
Natürlich teilen wir uns längst nicht mehr einen Tisch. Mariah und ich sind sofort zu Andrea und ihren Freundinnen gewechselt und dort fühlt es sich gut an. Und natürlich will ich ihn zurück, ich will, dass unsere Beziehung so ist wie sie es noch vor einer Woche war.
Trotzdem kann er das alles nicht mit einem doofen Päckchen wieder gut-
„Oh mein Gott", quietsche ich.
„Was ist es?", fragt Mariah, ihre Stimme ebenfalls beinahe ein Quietschen. Ich antworte nicht, ziehe das Kleid aus dem Päckchen, das so atemberaubend schön ist, dass mir wahrlich die Luft zum Atmen fehlt. Irgendwann schaffe ich es tief Luft zu holen.
„Er hat mir ein Kleid gekauft." Wie er es immer tut, fällt mir auf. Am Freitag ist der Homecomingball. Für diese Veranstaltungen hat er mir in den letzten drei Jahren immer ein Kleid geschenkt.
„Mariah, er hat mir ein Kleid gekauft", wiederhole ich. Ich fahre mit den Fingern über den dreilagigen Stoff des Rocks. Die oberste Schicht ist scheinbar durchsichtig, die darunter sind dunkelgrün.
„Wie sieht es aus?" Sie wirkt aufgeregt. Ohne darüber nachzudenken, warum er mir dieses Kleid schenkt – wenn er denkt, deswegen würde ich mit ihm zum Ball gehen, hat er sich getäuscht – schicke ich Mariah ein Bild.
Das Bild wird dem echten Kleid nicht wirklich gerecht. Es leuchtet förmlich in diesem dunklen Waldgrün. Spitzenträger, die in komischen Mustern bis über den Rücken verlaufen, lachen mich an. Ich verliebe mich sofort in dieses Kleid und weiß, dass ich es tragen werde. Mir fällt auch sofort ein, welchen Schmuck und welche Schuhe ich dazu tragen werde.
„Seinen Modegeschmack muss Darren von dir haben", sagt Mariah in dem Moment, in dem ich bereits an meinem Schuhschrank stehe und die samt-schwarzen Stilettos heraushole. Ich schlucke und halte inne. Dann kehre ich zu meinem Bett zurück, wo ich das Handy hingelegt habe.
„Findest du, ich sollte das Kleid einfach so annehmen?" Plötzlich bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich möchte nicht, dass er denkt, er könne mich einfach um den Finger wickeln. So bin ich nicht.
„Aber auf jeden Fall!", kommt es prompt von der anderen Seite.
„Gibt ihm das nicht die falschen Signale?" Ich lasse mich aufs Bett fallen und breite meine Arme aus. Das ist alles furchtbar kompliziert geworden.
„Er hat dir ein Kleid geschenkt. Wenn er dich falsch versteht, nur weil du es trägst, ist das sein Problem." Ich erkenne Mariah kaum wieder.
„Das klingt sehr erwachsen", lache ich, obwohl mir nicht nach Lachen zumute ist. Sie übergeht meinen Kommentar.
„Du trägst dieses unfassbar geile Kleid und vertreibst jetzt jeden schlechten Gedanken aus deinem Hirn, Stew. Er verdient es nicht, dass du dir so viele Gedanken darum machst." Ich zucke mit den Achseln. Vielleicht hat sie recht. Das sage ich ihr auch.
„Natürlich habe ich recht. Übrigens dachte ich, wir gehen zusammen zum Ball. So als Protest an die Männer, die uns falsch behandelt haben." Erneut wundert es mich, wie reif Mariah klingt.
„Hast du die Selbsthilfe-Bücher deiner Mutter zum Frühstück gegessen?", frage ich.
Dann: „Klingt gut. Bis eben wusste ich zwar nicht mal, dass ich hingehen würde, aber..." Ich lasse den Satz in der Luft hängen, weil sie weiß, was ich ihr damit sagen will.
Die nächsten Tage vergehen im Schneckentempo. Man sagt immer, die Zeit verginge qualvoll langsam, wenn man sich auf etwas freut. Anscheinend vergeht sie noch langsamer, wenn man sich vor etwas fürchtet. Denn ich fürchte mich vor diesem Ball. Mein Licht bilden jeden Tag Mariah und überraschenderweise auch Khan. Er trägt weiterhin Flipflops(auch wenn mittlerweile seine eigenen)und aus Zusammenhalt habe ich beschlossen es ihm gleich zu tun.
Mittwochabend babysitte ich auch wieder Aiden, dabei ist Khan erneut zuhause und ich habe langsam das Gefühl, er arrangiert meine Babysittingtermine, um mir Geld zuschieben zu können. Diesen Samstag soll ich nämlich schon wieder kommen. Das oder er will mich in seiner Nähe haben.
Ich bin zum Glück einer der wenigen Menschen, die jede Möglichkeit annehmen, an Geld zu kommen. Ich spreche Darren nicht auf sein Geschenk an und ignoriere ihn, wenn er mich mal wieder anstarrt, als hätte ich ihn zutiefst verletzt und nicht anders rum. Irgendwann scheint er es nicht länger auszuhalten, denn Freitagmorgen steht er plötzlich vor meinem Spind.
„Stew", sagt er, als hätte er nicht mit mir gerechnet. Dabei steht er ja vor meinem Spind.
„Darren", antworte ich, schließe meinen Spind auf und ignoriere seine Anwesenheit, again.
„Wie geht es dir so?", fragt er. Ich verharre in der Bewegung.
„Small Talk, Darren? Wirklich?" Meine Stimme zittert leicht und verrät, wie es mir geht. Nicht gut. Aber das wisst ihr ja. Und Darren müsste es auch wissen.
„Ich möchte mich noch mal bei dir entschuldigen. Ich hoffe, du hast mein Päckchen bekommen. Es... ich hatte es schon bestellt vor der ganzen Sache, also konnte ich nicht anders als es dir vor die Tür zu legen." Er klingt so schüchtern, ehrlich zerknirscht. Ich starre ihn einen Moment lang an. Er wringt die Hände und schafft es kaum mir länger als zwei Sekunden in die Augen zu sehen. Nervös?
„Du weißt, dass das Kleid nichts von der ganzen Sache, wie du sie nennst, rückgängig macht?" Ich hole mein Geschichtsbuch aus dem Spind und schließe ihn dann geräuschvoll. Ein paar meiner Mitschüler drehen sich verstört in unsere Richtung, wenden aber die Blicke ab, als sie Darrens angriffslustigen Gesichtsausdruck bemerken. Es steht fest, dass das hier ein privates Gespräch bleiben soll.
Mit den Büchern vor der Brust wende ich ihm nun meine volle Aufmerksamkeit zu.
„Ich weiß. Aber vielleicht hat es dich einfach glücklich gemacht." Er fährt sich durch die Haare und seufzt. Ich verschweige ihm lieber, wie toll ich das Kleid finde.
„Hör zu, Stew. Gib mir eine zweite Chance. Jeder verdient eine zweite Chance. Ich habe an dem Abend letzte Woche Mist geredet – Mist getan. Nur eine zweite Chance. Eine einzige. Danach lasse ich..." Er stockt und schluckt.
„Danach lasse ich dich in Ruhe, wenn du es so willst." Wow. Ich sehe an seinen Augen, dass er es diesmal ernst meint. Mein Herz schlägt einen Salto und ich will es schon in die Schranken weisen, halte mich dann aber zurück. Eine zweite Chance. Darren will bloß eine zweite Chance. Soll ich ihn gewähren lassen? Verdient er es? Wie er sagt, jeder verdient eine zweite Chance...
„Bitte", flüstert er. Und damit hat er mich am Haken. Ja, Darren hat mich verletzt, verdammt er wollte eine Pause und hat unserer Beziehung damit den Kopfschuss gegeben. Aber das ändert nichts an den drei Jahren, die wir zusammen verbracht haben. Drei Jahre, die wir uns geliebt haben. Wir haben uns nicht oft gesagt, dass wir uns lieben, es war eine unausgesprochene Tatsache.
Er fehlt mir. Ich sehne mich nach seinen Armen, nach seinem Geruch, nach seiner Gesellschaft. Vor allem aber sehne ich mich nach diesen drei Jahren, die scheinbar viel zu kurz waren. Ich sehne mich nach einer Zukunft mit ihm. Ich sehne mich nach dem Glück, das wir hatten. Sehne mich nach diesem Gefühl, das mich von allen anderen Dingen in meinem Leben abgelenkt hat.
„Heute Abend. Bitte, Stew. Lass mich dich zum Homecoming Ball begleiten. Ein erstes Date. Als wären wir nie ein Paar gewesen." Er weiß genau, dass er mich längst überzeugt hat. Diese Sehnsucht nach... Sicherheit, ja, nach Kontrolle, sie hat mich überzeugt.
„Einverstanden." Ich atme tief durch.
„Hol mich um sechs ab." Und mit diesen Worten eile ich an ihm vorbei und blinzle Tränen weg. Tue ich das richtige? Im Gehen schreibe ich Mariah eine Nachricht.
Sorry, ich werde doch nicht mit dir zum Ball gehen. Denk dir deinen Teil, aber ich gebe Darren eine zweite Chance.
Mein Herz klopft so heftig, dass ich das Gefühl habe, gleich einen Herzinfarkt zu bekommen. Bevor ich den Klassenraum betrete, atme ich drei Mal tief durch und setze ein falsches Lächeln auf. Darren... diese Sache hat mich total aus dem Konzept gebracht. Er soll nicht wissen, was er mit mir anstellt. Niemand soll wissen, wie sehr ich an ihm festhalte. Mariahs Antwort kommt, kaum sitze ich neben Khan auf meinem Platz.
Bist du dir sicher, dass das eine gute Idee ist?
Ich seufze und ignoriere Khans interessierten Blick. Das geht ihn nichts an.
Jeder verdient eine zweite Chance.
Glaube ich. Sie schreibt, da sei sie sich nicht so sicher. Auch wenn Mariah nie etwas gegen Darren hatte, im Gegenteil, sie sorgte am Anfang dafür, dass wir auch wirklich zusammen kamen, merkt man ihr deutlich an, dass sie sauer auf ihn ist. Und ich kann es ihr nicht mal verdenken. Noch vor einer halben Stunde war ich selbst überzeugt, ich würde ihn nie und nimmer zurück nehmen.
Wenn er dich noch mal verletzt, kann er was erleben. Sag ihm das schon mal.
Ich grinse leicht. Das glaube ich ihr aufs Wort. Und Khans Blick nach zu urteilen, als er am Montag mit Darren geredet hat, ist Mariah nicht die einzige, die ein Hühnchen mit ihm zu rupfen hätte.
Mariah und ich beschließen trotzdem, uns gemeinsam fertig zu machen. Das haben wir auch in den letzten Jahren so gemacht, ein Streit mit Darren wird uns nicht von unseren Traditionen abhalten. Während sie mich schminkt, ruft sie mir immer wieder in Erinnerung, dass ich Darren nicht zu schnell wieder vergeben sollte. Und ehrlich, das habe ich auch nicht vor.
Ich habe mir vorgenommen, nach meinem Herzen zu handeln. Das, was mein Herz mir heute Abend sagt, das werde ich tun und basta. Irgendwann ist sie fertig und ich sehe endlich mal wieder aus wie ein Mensch. Heute erinnere ich nicht länger an das kaputte Mädchen von vor drei Jahren sondern an eine starke, junge Frau, die ihr Leben in die eigene Hand nimmt.
Im Badezimmer schlüpfe ich in das Kleid, das Darren mir geschenkt hat und erschrecke zu Tode, als es doch tatsächlich wieder an mir herunter rutscht. Zu groß. Zu groß? Aber Darren kennt meine Kleidergröße. Ein Blick auf das Etikett bestätigt das. Ich fische in meinem Badezimmerschrank nach dem Bodykleber und verbringe eine gefühlte Stunde damit, das Kleid an bestimmten Körperstellen festzukleben. Oh Gott. Es ist zu groß. Es darf nicht zu groß sein.
„Stew, alles okay da drin?", ertönt Mariahs Stimme von der anderen Seite der Badezimmertür. Ich hole tief Luft und spreche mit einer Stimme, die mir völlig fremd ist, ein Zittern unterdrückend.
„Klar, ich brauche nicht mehr lang." Dann betrachte ich mich im Spiegel und erschrecke erneut. Einem Menschen, der mich nicht gut kennt, wird nicht auffallen, dass ich das Kleid an meinem Körper fest getackert habe. Ich allerdings erkenne es auf den ersten Blick. Und es gefällt mir nicht. Auch Mikael wird es nicht gefallen. Hilfe.
Ich erkenne mich selbst kaum wieder. Mein Gesicht sieht unglaublich aus, unglaublich aufgeweckt, das mit dem Schminken kann Mariah echt gut. Meine blonden Haare fallen mir in lockeren Wellen über die Schultern und kräuseln sich etwas unter meinen winzigen Brüsten zu kleinen Locken. Ich starre mir aus schwarz-geschminkten Augen entgegen, die sich mit Tränen füllen, weil der Rest von mir so gar nicht nach mir selbst aussieht.
Ich klammere mich am Waschbecken fest. Mein Busen ist längst nicht mehr groß genug, um in dieses Kleid zu passen. Früher – früher hätte ich es vollständig ausgefüllt. Und obwohl es mir nicht mal über das Knie reicht, liegt das Kleid nicht eng an meiner Taille, sondern fällt herab. Es könnte absichtlich so geschnitten sein, aber ich weiß es besser. Ich bemühe mich darum, Fassung zu bewahren, um nicht auch noch mein Make-up mit unnötigen Tränen zu vermischen.
Was tue ich bloß? Nach einer weiteren gefühlten Ewigkeit verlasse ich das Badezimmer. Mariah wartet angespannt auf meinen Auftritt und zieht scharf nach Luft.
„Darren wird dich sofort ins Bett schleppen wollen", lacht sie, bemerkt meine brennenden Augen und das Zittern meines Oberkörpers nicht. Das zu große Kleid scheint wirklich nur mir aufzufallen.
„Hoffentlich nicht", krächze ich. Sie selbst sieht auch nicht schlecht aus, trägt ein blutrotes Kleid mit Flatterärmeln und einem Dekolletee.
„Sehr schick", sage ich und bemühe mich um ein Zwinkern. Mariah wird rot und rückt ihre Brille zurecht. Die dunkelbraunen Haare hat sie geglättet und geben ihr einen seriösen Touch. Wäre ich nicht so total daneben in diesem Moment, ich würde Noah eine Nachricht schreiben und ihm quasi in den Arsch treten, Mariah noch mal zu küssen. Auch wenn wir beide wissen, dass sie sich nicht für ihn so zurecht gemacht hat. Die Mariah, die ich kenne, würde sich niemals für einen Jungen verstellen.
„Hast du vor ihn zu verführen?", frage ich und suche in einem Kleiderhaufen neben meinem Bett nach der Tasche, die ich mitnehmen wollte.
„Wen?", fragt sie scheinheilig zurück. Ich lache leise, ein Kloß bildet sich in meinem Hals, als ich spüre, wie das Kleid an mir herum schlackert.
„Tu nicht so. Du siehst heiß aus, fast so als wärst du auf einer Mission." Die gefundene Tasche in der Hand drehe ich mich zu ihr um. Wieder errötet sie.
„Wie gesagt. Ein Mann, der mich nicht wertzuschätzen weiß, verdient mich nicht." Sie zuckt mit den Achseln und der sonst so zurückhaltende Gesichtsausdruck verlässt ihr Gesicht und wird durch ein Grinsen ersetzt.
„Was nicht bedeutet, dass ich ihm nicht zeigen kann, was er verpasst."
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weil ich gerade realisiert habe, wie weit wir noch am Anfang sind und just because... noch ein kapitelchen hrhr
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