Neunundzwanzig
Als mein Wecker zum Ende der vorletzten Stunde anzeigt, dass es jetzt noch fünf Minuten dauert bis das Vorsprechen beginnt, ist er immer noch nicht da. Dann muss ich da wohl alleine durch. Ich bin stolz, dass ich mich nicht noch mal übergeben musste und hoffe, dass es dabei bleibt.
Wir versammeln uns in der Aula, Mrs. Bonnefelder hat bereits ein Klemmbrett unter dem Arm und rückt immer wieder ihre Brille zurecht.
Darren und Anne sitzen nebeneinander in der ersten Reihe, tuscheln leise mit einander. Es wirkt eher wie ein Streit, aber da kann ich mich auch täuschen. Absichtlich habe ich mich in die vorletzte Reihe gesetzt, so weit weg von allen anderen wie möglich. Wenn ich nervös bin, bin ich nämlich keine gute Gesellschaft.
„Wir werden mit den Hauptrollen anfangen und dann über zu den Nebenrollen gehen. Ich möchte Cinderella und Prinz Charming immer zusammen sehen, damit wir ein Gefühl für ihre Chemie bekommen." Sie lacht über sich selbst. Das klingt schon komisch. Hat sie wohl selbst realisiert.
„Freiwillige vor." Ihre Stimme lässt die Aula erbeben. Eine Gänsehaut bildet sich auf meinen Armen. Irgendwie wünschte ich, Khan wäre hier. Wir könnten gemeinsam auf die Bühne gehen, genau so wie wir es geprobt haben. Stattdessen werde ich die Abschlussszene entweder mit Darren oder einem mir fremden Mitschüler vorspielen dürfen. Letzteres wäre mir deutlich lieber.
Ein paar Reihen vor mir melden sich ein Mädchen und ein Junge.
„Delilah, Jeremy. Sehr schön." Die beiden stehen auf und klettern die kleine Leiter zur Bühne empor. Es ist mucksmäuschenstill.
„Wir tragen die letzte Szene vor", sagt Delilah mit ihrer leisen, ruhigen Stimme. Um mich abzulenken – wem nützt es schon, wenn ich die Vorstellung der beiden analysiere – zücke ich mein Handy.
Drei neue Nachrichten. Die erste ist von Mariah:
Viel Erfolg. Schnapp Anne die Rolle vor der Nase weg.
Ich grinse und tippe mit zitternden Händen auf einen lächelnden Emoji zur Antwort. Dieser Emoji beschreibt so ziemlich das Gegenteil von meiner derzeitigen Gefühlslage. Danach noch einen bestimmt guckenden Emoji. Am liebsten würde ich schreien. Zu meiner Überraschung stammen die anderen beiden Nachrichten von Khan.
Hey Blondie.
Zehn Minuten später kam dann anscheinend seine zweite Nachricht.
Aiden ist krank. Ich konnte ihn nicht allein zuhause lassen.
Der arme Aiden. Hoffentlich hat er nichts schlimmes. Ich wünsche Aiden eine gute Besserung und frage Khan dann, wie er das Vorsprechen meistern will, wenn er nicht anwesend ist. Er ist nicht online, woraus ich schließe, dass er mich nicht allzu bald mit einer Antwort beglücken wird.
Vorne auf der Bühne hat Prinz Charming – Jeremy – seiner Cinderella – Delilah – mittlerweile einen Schuh angezogen.
Jeremy sagt: „Er passt." Irgendwie monoton. Delilah antwortet mit einem ebenso monotonen: „Er passt!" Schnell wende ich den Blick ab. Ich kann jetzt nicht urteilen. Mein Urteilungsvermögen wird bei sowas immer eingeschränkt. Die beiden fahren mit ihrem Stück fort, als mein Handy blinkt.
Mum ist gerade gekommen. Vielleicht schaffe ich's noch.
Vielleicht... Was? Ich grinse in mich hinein. Khan ist der perfekte große Bruder. Nicht jeder wäre zuhause geblieben, um auf Aiden aufzupassen. Vor allem nicht an einem Tag, an dem etwas stattfindet, das ihm wichtig ist. Manchmal habe ich allerdings das Gefühl, dass er zu selbstlos ist. Ich antworte, ohne darüber nachzudenken.
Charming, Mr. Charming.
Mein Herz macht einen Satz, als das Handy seine Antwort empfängt. Ein zwinkernder Smiley. Dann geht er offline, hoffentlich um sich in sein Auto zu setzen und über die Autobahn zu rasen. Vielleicht schafft er es noch.
Der Rest der AG klatscht, daraus schließe ich, dass die erste Vorstellung vorbei ist. Ich klatsche leise mit und lasse den Blick über die Reihen wandern. Unsere Theater-AG ist relativ groß. Wie viele wohl für die Hauptrollen vorsprechen wollen? Annes Arm schießt in die Höhe, kaum haben Jeremy und Delilah die Bühne verlassen. Da scheint jemand Adrenalin zu versprühen.
„Sehr schön, sehr schön." Mrs. Bonnefelder notiert sich etwas auf ihrem Klemmbrett – ob sie das nur macht, um seriös zu wirken? Nichts für ungut, dass was ich trotz meines Handy von den beiden mitbekommen habe, war nicht wirklich gut. Ich würde ihnen keine Hauptrolle geben, und das würde ich auch sagen, wenn mein Urteilsvermögen nicht getrübt wäre.
„Die nächsten?" Annes Hand steht noch immer in der Luft. Wow. Sie zieht Darren mit sich auf die Bühne, der nicht wirklich glücklich wirkt. Zwingt sie ihn zum Vorsprechen, um mir eins auszuwischen? Ich gebe mir innerlich eine Ohrfeige. Nicht alles im Leben dreht sich um mich.
„Wir führen dieselbe Szene vor", sagt Anne, sieht dabei allerdings mir in die Augen. Was denn, will sie Darren etwa absichtlich vor meinen Augen küssen? Ich wusste nicht, dass wir hier im Kindergarten sind. Das ist ein Theaterstück. Natürlich kommt es da irgendwann zu einem Kuss.
Ich sehe das ganze professionell. Das habe ich schon vor zwei Jahren so gesehen. Auf der Bühne bin ich nicht Stew. Auf der Bühne ist Anne nicht Anne sondern Cinderella. Und Darren ist ihr Prinz Charming.
Mrs. Bonnefelder nickt nur und richtet wieder ihre Brille. Anne räuspert sich. Die beiden beginnen.
„Entschuldigen sie, Miss", sagt Darren, reißt die Augen auf.
„Ich suche ein Mädchen." Ab diesem Moment wende ich mich ab. Auch wenn ich es ungern zugebe, es tut weh, seine Stimme zu hören. Sie hört sich so an wie noch vor einer Woche – selbstverständlich tut sie das. Als ich das nächste Mal zur Bühne sehe, probiert Anne gerade die Schuhattrappe an.
„Du bist es!", ruft Darren aus, überrascht mich damit. Scheint, als habe er doch irgendwo Schauspieltalent.
„Du bist es wirklich!" Er steht auf und greift nach Annes Händen, zieht sie an sich, während ein schüchternes Lächeln ihre Lippen zieht.
„Ich...", setzt sie an, dann drückt Darren seine Lippen auf ihre. Ganz einfach. Fast schon als hätte er das bereits tausende Male gemacht. Mein Herz krampft sich zusammen. Vielleicht habe ich vorhin geblufft. Es tut doch weh, die beiden beim Küssen zu beobachten. Ehe Anne in ihrer Rolle fortfahren kann, pfeift Mrs. Bonnefelder.
„Das reicht ihr Turteltäubchen." Sie schüttelt den Kopf. Anne grinst nur, wieder sucht ihr Blick den meinen. Ich presse die Lippen auf einander, unwillig ihr zu zeigen, dass mich das trifft. Es darf mich nicht treffen. Nie wieder.
„Noch jemand, der diese Rolle haben will?", fragt Mrs. Bonnefelder in die Runde. Ich hole tief Luft und melde mich dann.
„Stew, wie schön!" Zum ersten Mal an diesem Tag sehe ich meine Lehrerin lächeln. Schön, wenigstens ein Person hier zu haben, die sich über meine Anwesenheit freut. Ich habe keinen Partner, fällt mir etwas zu spät auf. Khan ist nicht hier. Er hat es nicht geschafft.
„Möchtest du einfach allein vorsprechen?", fragt Mrs. Bonenfelder, während ich mich der Bühne nähere.
„Immer die Extrawurst." Ein Kichern aus der ersten Reihe ertönt. Irgendwo hat sie ja recht. Ich blende Annes Kichern aus und nicke an Mrs. Bonnefelder gewandt verunsichert.
„Er ist nicht hier", sage ich überflüssigerweise. Bei diesen Worten schnellt Darrens Kopf in meine Richtung.
Ich werde also wohl oder übel allein vorsprechen. Tief durchatmend erklimme ich die Leiter und stelle mich dann in die Mitte der Bühne.
„Welche Szene möchtest du vortragen?" Mrs. Bonnefelder runzelt die Stirn und schreibt etwas auf ihr Klemmbrett. Meine Hände zittern, als ich in Gedanken das Drehbuch durchgehe. Ich kann es längst auswendig.
„Ich schätze, ich werde irgendwas ohne Prinz Charming vortragen. Die Szene, in der Cinderella eingesperrt ist." Kurz nachdem der Prinz bei ihnen eintrifft und genauso kurz bevor sie den Schuh anprobiert.
„Brauchst du den Elf?", fragt Mrs. Bonnefelder, wartet meine Antwort aber nicht ab und schickt einen meiner Mitschüler, der sich prompt gemeldet hat, mit einem Kopfnicken zu mir hinauf.
„Danke." Ich lächle, dann schließe ich kurz die Augen und konzentriere mich. Ich positioniere mich neben der einzigen Requisite auf der Bühne, einer im Raum stehenden Tür. Dann geht es los.
Ich schlage dagegen, nicht besonders heftig, aus Angst, sie könnte umfallen.
„Hallo? Stiefmama? Irgendwer?" Ich lege so viel Verzweiflung wie möglich in meine Stimme.
„Bitte", wimmere ich. Es dauert kurz, dann rinnt mir eine Träne über die Wange. An dieser Stelle würde jetzt meine Stimme durchs Mikrofon klingen und meine Gedanken laut aussprechen. So steht es zumindest im Skript. Ich sehe davon ab, diesen Part ebenfalls zu übernehmen. Stattdessen fange ich an zu weinen. Und ja, das kann ich richtig gut.
Die Stimme meines Mitschülers erklingt, Hohn unüberhörbar teil seiner Rolle.
„Goldlöckchen?" Mit tränenüberströmtem Gesicht fahre ich zu ihm herum. Er sitzt dort im Schneidersitz auf dem Boden und sieht mich an.
„Cinderella", korrigiere ich und schniefe, um meinen Missmut zu verdeutlichen.
„Ups." Er lacht leise. „Falsche Klientin, tut mir leid. Brauchst du Hilfe, Cinderella?" Mein Mitschüler, dessen Name ich nicht kenne, spielt ziemlich gut, fällt mir auf. Ich starre ihn kurz an.
„Sie haben mich eingesperrt", flüstere ich dann, gerade so laut, dass mich unsere Zuschauer noch hören können.
„Das sehe ich. Was schlägst du vor?" Er lehnt sich zurück.
„Kannst du die Tür öffnen?" Ein weiteres Schniefen meinerseits. Dann schlage ich nochmal demonstrativ dagegen.
„Hallo?" An dieser Stelle käme normalerweise die Stimme des Prinzen, der fragt, ob noch jemand in diesem Haus wohnt.
„Was bekomme ich von dir, wenn ich die Tür öffne?", will er wissen und zwinkert. Ich sehe ihn verwirrt an.
„Du willst jetzt aber nicht mein Erstgeborenes, oder? Denn tut mir leid, so wie es aussieht, wird es dazu nie kommen." Im Publikum ertönen vereinzelte Lacher. Das habe ich dazu gedichtet.
„Hätte wohl seinen Reiz." Er lacht ebenfalls.
„Aber nein. Das war eine rhetorische Frage. Ich kann die Tür nicht öffnen. Jedenfalls nicht so." Niedergeschlagen wische ich mir die falschen Tränen vom Gesicht und senke den Kopf.
„Wäre wohl zu einfach gewesen", sage ich.
„Wie kannst du mir dann helfen? Ein wunderschönes Abendkleid wird mir die Tür nicht öffnen." Demonstrativ streiche ich über die unsichtbaren Lumpen an meinen Beinen.
„Ich kann sie aufhalten. Dir Zeit schenken. Du musst herausfinden, wie du die Tür öffnest." Er steht auf, tritt einen Schritt zurück.
„Tipp: Versuchs mal mit Liebe – das hat bei Goldlöckchen auch funktioniert." Er zuckt die Achseln und verlässt dann langsam die Bühne. Ich bleibe am Boden sitzen. Meine Gedankenstimme aus den Lautsprechern würde nun anmerken, dass das wohl eher auf Dornröschen oder Rapunzel zuträfe. Wie dem auch sei. Ich schlage weiterhin an die Tür.
„Hilfe!" Unten würde erneut Charmings Stimme ertönen. Eine ganze Szene würde folgen, in der die Stiefschwestern den Schuh anprobieren, Stiefmutter ätzt, warum er denn nicht passen würde. Mrs. Bonnefelder unterbricht mich nicht, also improvisiere ich, was Cinderella in diesem Moment tut – ehe sie an die wahre Liebe, ihre Liebe zu Prinz Charming glaubt und die Tür endlich öffnen kann.
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True love... xxx
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