Dreiundvierzig
Nach diesem äußerst seltsamen Morgen macht mir Khan ein Frühstück, bei dessen Anblick mir das Wasser im Mund zusammen läuft. Gleichzeitig suche ich nach dem schnellsten Fluchtweg. Und während ich mit meinen Kopfschmerzen, dem Essen und den Erinnerungen an gestern Abend kämpfe, führt er praktisch einen Monolog über das Theater, über die Schule, sogar über Football. Als wolle er heile Welt mimen.
Doch für mich ist das in Ordnung. Heile Welt ist besser als die Welt, wie sie wirklich ist. Ich denke daran, was mir Miss Nadine vergangenen Donnerstag aufgetragen hat.
„Fang wieder an, Fotos von dir machen zu lassen. Wir wissen beide, dass du vor vier Jahren damit aufgehört hast. Aber später wirst du dich daran erinnern wollen, wie das Leben aussah, als du achtzehn warst."
Ich klärte sie natürlich nicht auf, dass ich erst in drei Wochen Geburtstag haben werde. Dennoch frage ich mich, ob ich diese Aufgabe nicht ernst nehmen solle. Im Nachhinein würde ich alles dafür geben, wenn es mehr Fotos aus meiner düstersten Phase gäbe. Damit ich nie wieder hinein rutsche.
Damit ich meine Welt wirklich als heile Welt begrüße und weiß, dass ich schlimmeres überlebt habe.
Später proben Khan und ich und gegen Abend kommt auch Aiden nach Hause – keine Ahnung, wo der war – einen weiteren Jungen im Schlepptau. Das muss dann wohl Nolan sein. Ehrlich, der Kleine ist nicht so schlimm, wie ich anfangs vermutet habe. Nur etwas bestimmerisch und selbstbewusst. Viel zu selbstbewusst. Dennoch lasse ich die beiden spielen, als es Zeit für meinen Babysittingjob wird. Als Khan noch mal nach oben geht, um seine Sporttasche zu holen, weil er und Paul gleich zum Training aufbrechen, gehe ich langsam und unauffällig auf seinen Dad zu.
„Du musst es ihnen sagen!", beharre ich leise, dabei weiß ich ja selbst nicht mal genau, was er eigentlich hat. Schuld mischt sich in seinen sonst so unbeschwerten Blick. Ich bin schon froh, dass ich gestern in meinem benebelten Zustand kein Wort darüber verloren habe, dass Paul todkrank ist.
„Bald", haucht er und ehe ich etwas erwidern kann, gesellt sich Khan zu uns. Der bemerkt zwar meinen anklagenden Blick, hebt aber nur beide Augenbrauen und drängt seinen Vater dann zur Tür hinaus.
Nolan und Aiden sind erstaunlich einfach zu Bett zu kriegen, meckern nicht mal, als es nur eine Folge Spongebob gibt, die sie schauen dürfen. Ich schaffe es auch diesmal, pünktlich nach Hause zu fahren – ohne dass mich Khan herum kutschieren muss.
In der Küche brennt noch Licht, als ich die Haustür aufschließe. Mikael. Sollte der nicht längst schlafen gegangen sein? Ich habe ihm heute Morgen eine Nachricht geschickt, die besagte, dass ich bei Mariah geschlafen habe und später von ihr zum Babysitten gefahren werde. Eine kleine Notlüge, aber nichts weiter schlimmes.
„Kannst du den Termin bei Miss Nadine auf einen anderen Tag legen? Wir haben da Probe-", frage ich, als ich die Küche betrete, halte dann aber erschrocken inne. Da sitzen sie alle, um den Tisch verteilt. Mum, Dad, Mikael. Im Moment läuft echt alles anders. Diese Familiensitzungen häufen sich ja nahezu.
„Welche Laus ist euch denn über die Leber gelaufen?", will ich wissen, vergesse ganz, weshalb ich überhaupt noch einen Fuß hier rein gesetzt habe und überlege stattdessen, mir noch einen Kaffee einlaufen zu lassen.
„Gut, dass du endlich da bist." Es ist Dad, der selbst mit einem Kaffee am Tisch sitzt. Kein Alkohol weit und breit. Haben sie etwa auf mich gewartet?
„Ich...", setzte ich an.
„Nimm bitte Platz, Stew." Mum. Sie sieht müder aus als sonst. Heute trägt sie auch wieder ihren geblümten Schlafanzug. Mikael ist der einzige, der hellwach von einem zum anderen blickt und die Arme vor der Brust verschränkt hält. Abwehrhaltung.
„Was ist los?", frage ich, als ich mir einen Stuhl zurück ziehe. Dann also kein Kaffee.
„Wir ziehen zurück", platzt Dad hervor. Mein Mund klappt auf. Und wieder zu.
„Wir ziehen... was?"
„Wir ziehen zurück in unser altes Haus." Aber-
„Warum?", bricht es aus mir heraus. Das ist ein Scherz. Richtig? Ein ziemlich schlechter Scherz noch dazu. Obwohl meine Lippe anfängt zu beben, nehme ich dieselbe Haltung ein wie Mikael. Er stößt mich unter dem Tisch mit dem Fuß an. Eine beruhigende Geste, so hoffe ich jedenfalls.
„Deine Mum wird wieder zu Miss Nadine gehen", erklärt mein Vater. Sachlich. Viel zu sachlich. Wäre er doch Anwalt geworden.
„Und was hat das damit zu tun?" Es kommt mir komisch vor, dass Mum zwei Wochen nachdem ich Miss Nadine von unserem Streit erzählt habe, plötzlich wieder in Behandlung geht.
„Ihre Sitzungen werden mehrmals die Woche stattfinden. Es wäre einfach... zu teuer, hier zu bleiben." Ein Kloß bildet sich in meinem Hals. Ich gehe nicht zurück. Um kein Geld der Welt. Lieber wohne ich unter der Brücke.
„Nein", sage ich. Ich kneife mir so fest in die Handflächen, dass ich das Gefühl habe, meine Hände zu spalten.
„Was meinst du mit ‚Nein'?" Dad nimmt einen Schluck Kaffee und zieht die Augenbrauen hoch.
„Weißt du nicht mehr, warum wir von dort weggegangen sind?", frage ich. Unfassbar. Wie kann er mir das antun wollen? Und noch dazu so kurz vor meinem Abschluss!
„Spinnt ihr eigentlich?" Meine Stimme ähnelt jetzt einem Kreischen.
„Ich werde nicht dorthin zurück gehen." Mum seufzt.
„Schätze, das kann keiner von dir verlangen", gibt sie zu und überrascht damit nicht nur mich, sondern ebenso sich selbst und auch die beiden Männer am Tisch. Ich halte mich am Tisch fest, weil ich im Inbegriff bin, einfach aus dem Raum zu stürmen. Dad neigt den Kopf zur Seite und sieht seine Frau an, als fiele ihm erst jetzt auf, dass sie ebenfalls anwesend ist.
„Was soll das jetzt heißen?", will ich wissen.
„Mikael wird hier bleiben. Er verdient genug Geld, um für sich zu sorgen." Ich reiße die Augen auf. Mikael schnappt nach Luft, wusste offenbar genauso wenig wie ich von dieser Tatsache.
„Vielleicht ist es das beste, wenn du bei ihm wohnst", sagt Mum, seltsam gefasst. Ich schnaube. Klar doch. Die Elternrolle haben sie ohnehin vor Jahren an Mikael abgetragen – warum also länger im selben Haus wohnen wie ich? Ich frage mich, ob sie vorhaben zu meinem Abschluss zu kommen. Oder ob sie da bereits nicht mehr wissen, wie ich heiße. Jetzt stehe ich doch auf. Mikael schweigt, offenbar zu sehr in Schock, um zu reagieren.
Sie werden wegziehen. Meine eigenen Eltern werden wegziehen. Es fühlt sich an, als würden sie mich abschieben oder rausschmeißen.
„Warum lasst ihr Mum nicht einfach einweisen?", frage ich leise. Es soll nicht mal eine Beleidigung sein, einfach eine ernstgemeinte Frage, aber sie sieht aus, als hätte ich sie geschlagen.
„Du weißt, wie sich das anfühlen würde", meint sie, kleinlaut. Ich nicke und balle die Hände zu Fäusten, um nicht in Tränen auszubrechen. Meine Familie mag keine 0815-Familie zu sein, die jeden Sonntag in die Kirche geht und sich liebt. Aber mein letztes Schuljahr in ihrer Gesellschaft zu verbringen, das dachte ich, würde ich zumindest noch erleben. Bevor ich ans College gehe und sie sowieso hinter mir lasse.
Anscheinend nicht. Meine Augen brennen und hatten die Kopfschmerzen vorhin aufgehört, so sind sie jetzt zurück – schlimmer als zuvor.
„Einverstanden. Ich bleibe hier und benutze Mikael als Ersatzpapi, wo ihr doch so tolle Eltern seid!"
Leiser dann und mit einem traurigen Lächeln füge ich hinzu: „Übrigens habe ich letzten Montag die Hauptrolle bekommen. Nicht, dass es euch interessieren würde."
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