65 - "Das Brautpaar lebe hoch!"
Der Hochzeitsmorgen
Sa. 14.9. a.d. 1571
Als ich aufwache, ist es seltsam still im Haus. Und im Zimmer. Und so leer in meinem Bett! Ich richte mich auf und schaue mich nach den Kindern um. Schnell husche ich zu einem der Fenster und öffne die Läden. Keine Kinder zu sehen. Und ihre Festgewänder sind auch verschwunden! Also ziehe ich mir Alltagskleidung an und laufe in die Diele. Auch niemand!
Was haben die heute mit mir vor???
Ich setze mich an den Tisch, wo eine Tasse Tee und Getreidebrei mit Früchten für mich stehen.
Aha. Verhungern muss ich also nicht.
Nach dem Frühstück trete ich einfach vor meine Tür mitten auf die Dorfstraße. Und wie ich es erhofft hatte, werde ich sofort gesehen. Der kleine Jasper kommt grade vom Brunnen, sieht mich und flitzt wie der Wind nach Hause. Nur einen Augenblick später kommt Irmel heraus und zu mir. Sie lächelt mich an – und führt mich sofort zurück in mein Haus.
„Na, ihr macht es ja spannend!"
„Ja, meine Liebe, heute brauchst du Geduld."
Wir setzen uns an den Tisch, und ich schaue sie erwartungsvoll an.
„So, Anna. Nun ist er da, der große Tag. Wir alle wollen, dass du diesen Tag in vollen Zügen genießen kannst. Darum haben wir uns heute morgen Deine Kinder herausgeholt, und auch deine anderen Gäste sind jetzt beim Vogt und im Pfarrhaus. Die Herzogin bittet auszurichten, dass sie sich heute morgen schon viel wohler gefühlt hat, und dass sie zu dir kommt und bei dir bleibt, sobald du darum bittest. Und ihre Zofe wird dir beim Ankleiden helfen."
„Wozu die Geheimniskrämerei? Ich bin so sehr erschrocken vorhin!"
Einen Moment ist Irmel still.
„Das ... tut mir leid, Anna. Vielleicht hast du recht und wir hätten etwas besser nachdenken sollen. Wir wollten einfach, dass du ganz lang schlafen kannst."
„Dann sag mir doch einfach, was mich erwartet."
Wieder zögert sie.
„Na gut. Linde und Grete werden den ganzen Tag für die Kinder zuständig sein. Wenn sie bei dir sein wollen, werden wir sie nicht hindern. Wenn du sie allerdings für eine Weile loswerden willst, werden sie dir sofort abgenommen werden. Dein Vater und Clara werden dich zur Kirche begleiten, wenn es soweit ist. Und von da an werdet ihr beiden sehr häufig einfach gefragt werden, wie ihr es am liebsten hättet. Wehre dich, wenn dir etwas zu viel wird. Versprichst du mir das?"
Ich nicke bloß, denn ich habe eigentlich keine Ahnung, wovon sie redet.
„Und jetzt überlege mal, wonach dir zu Mute ist, bis Clara und ihre Zofe kommen."
„Da muss ich nicht lange überlegen. Ich möchte mit dir einen Spaziergang im Wald machen, denn wir werden uns in Zukunft nur noch selten sehen. So haben wir ein paar stille Momente, um uns zu verabschieden in eine neue Zeit."
„Gut! Mir ist das nämlich auch wichtig. Wart einen Moment, ich bin gleich wieder da."
Und schon ist Irmel zur Tür hinaus und informiert wohl die anderen, was wir grade beredet haben.
Dann machen wir uns gemeinsam auf in den Wald. Wir schlendern an den Schleifen der Rhuma entlang. Manche Stelle lädt zum Verweilen ein oder weckt Erinnerungen.
„Irmel, kannst du mir von mir erzählen? Von mir, als ich hierher kam?"
„Aber Anna, so lang ist das doch nun auch wieder nicht her. Erinnerst du selbst nichts mehr?"
„Doch schon. Ich erinnere eine traurige Vierzehnjährige, die ihre Ziehmutter verloren und holterdipolter in ein völlig fremdes Leben und eine große Verantwortung geschubst worden war. Aber wer und wie war ich?"
„Ach, so meinst du das. ... Hm ... Du warst traurig, das tat uns allen in der Seele weh, denn über den Verlust konnte dir keiner hinweghelfen. Aber es zeigte sich auch sofort eine Eigenschaft von dir, die dich bis heute auszeichnet. Du hast dich nicht geweigert oder geduckt, hast nicht wochenlang rumgeheult. Du hast sonntags dein stilles Leid in die Kirche getragen und den Rest der Woche die Ärmel hochgekrämpelt. Du hast schnell verstanden und tapfer zugepackt, auch wenn dir manches noch zu schwer war. Bauer Adam war erst sauer, dass ihm ein so junges Mädchen geschickt worden war. Aber schon nach zwei Wochen hat er nur noch mit Hochachtung von dir gesprochen."
„Ich ... glaube, das habe ich von meiner Mutter. Sie hat immer zu uns gesagt, wenn jemand von uns das Christophorus-Haus verließ:'Bevor ihr jammert und aufgeben wollt - überlegt euch immer, was noch schlimmer wäre. Dann lernt ihr Dankbarkeit und Zuversicht und könnt euch jeder Aufgabe stellen.' Ich habe einfach gesehen, wie sehr Frau Adam gelitten hat, wie viel Schmerzen sie hatte – und vor allem, wieviel Angst sie vor dem Sterben hatte. Sie war doch auch noch ganz jung. Und Jacob Adam hat mir nie gezeigt, dass er eigentlich jemand anderen gewollt hat. Er hatte von Anfang an so viel Geduld."
„Du hast aber auch sehr schnell gelernt, hast dich nie gescheut, mich zu fragen, hast dir gerne helfen lassen. Warst dir für keinen Dreck zu schade. Und wir hatten schnell großen Respekt vor dir, weil du dich mit Birgitta angefreundet hast. Sie ist ja nur ein paar Jahre älter, und sie hatte herausgefunden, dass du lesen und schreiben kannst."
„Es war so furchtbar, ihr beim Sterben zuzusehen. Lene hat alles getan, was sie konnte. Und ich konnte sehen, dass Frau Adam wusste, dass sie es nicht schaffen würde. Sie hat Jakob noch in die Arme gelegt bekommen und ihm seinen Namen gegeben. Dann hat sie mich angesehen und ihn mir gegeben. 'Pass gut auf ihn auf und lehre ihn deine Zuversicht. Er ist jetzt dein Sohn.' Ich bin so sehr erschrocken, dass ich ihn kaum halten konnte. Aber als sie wenige Minuten später starb, hatte ich bereits das starke Gefühl, dass Jakob mein Sohn ist, den ich lieben und großziehen will, als wäre ich wirklich seine Mutter."
„Ja, in der Zeit hatten wir nochmal alle große Sorgen, weil wir nicht ahnen konnten, wie schnell du dich wiederum in diese neue Rolle einfinden würdest. Bauer Adam hatte lange Mühe, sein Kind anzunehmen, denn er hat seine Frau geliebt. Indem du Jakob so geliebt und versorgt hast, hast du auch seinem Vater wieder Hoffnung gegeben."
„Ich habe mich auch geliebt gefühlt von ihm. Das war keine Zweckheirat, um den Sohn und den Haushalt zu versorgen. Er war immer gut zu mir."
„Als du mit Susanna guter Hoffnung warst, hatten wir ein Auge auf dich. Wir haben gemerkt, dass dir Jakobs Geburt noch in den Knochen steckte. Du hattest ziemlich Angst. Aber dann ist ja alles gut gegangen."
„Ja, das hat es dann bei Peters Geburt leichter gemacht, obwohl Jacob inzwischen in den Tod getrieben worden war. Aber lassen wir das jetzt hinter uns. Seine drei Kinder und ich bekommen heute ein neues Zuhause. Es wird seinen Kindern besser gehen, als er sich das jemals erträumt hätte."
In der Zwischenzeit sind wir an der Waldkreuzung angekommen, wo Hannes damals überfallen wurde. Schweigend bleibe ich einen Moment stehen. Mir schießen so viele Gedanken durch den Kopf!
„Gerechtigkeit ist ein seltsames Ding. Den Thronfolger ermorden zu wollen, war eindeutig Frevel. Aber danach folgten daraus die Vertreibung der Peiniger, Gerechtigkeit für die Menschen im Lehen, ein noch festeres Band zwischen den beiden Brüdern und ein neues Leben für uns. Ich kann es nur als Geschenk Gottes ansehen, dass ER aus allem etwas Gutes für seine Menschen machen kann."
Wir wenden uns wieder dem Dorf zu. Während wir unterwegs sind, hören wir eine Kutsche kommen. Es sind die Freeses aus Rhumaspring, die zu unserer Hochzeit eintreffen. Wir winken uns zu, während sie an uns vorüberrattern.
„Komm, Anna. Es wird Zeit."
Wir gehen nun zügig zurück und kommen bald ins Dorf. Während Irmel mich sanft in Richtung meiner Haustür schiebt, sehe ich noch, dass grade Clara und ihre Zofe aus dem Pfarrhaus treten und auf uns zulaufen. Kurz darauf treffen sie bei mir ein, und Irmel verabschiedet sich.
„Bis nachher, Anna. Genieße es! Die Mädchen bringen kurz vorher die Kinder zu dir."
Wir betreten mein Haus und meine Kammer. Clara hat schon ihr feines, aber ganz schlichtes Gewand an, das ihr ganz wunderbar steht.
„Ich wollte nicht so sehr auffallen hier auf dem Dorf. Ich hoffe, das ist mir gelungen. Deine schlichten Gewänder haben mir so sehr gefallen."
Sie kichert kurz.
„Meine Schneiderin und meine Zofe haben bei meinen ungewöhnlichen Wünschen die Hände überm Kopf zusammengeschlagen."
Ihre Zofe lächelt.
„Aber nur kurz, Euer Hoheit. Ich hatte mir vorher zwei Wochen lang angehört, wie Ihr von den Gewändern von Fräulein von Brabeck-Lenthe geschwärmt hattet. Und ich fand die Gewänder ja auch alle so hübsch."
Ich zeige der Zofe mein Gewand für heute, das als Trachtengewand ziemlich farbenfroh ist. Dazu einige farblich passende Bänder, die sie mir in die Frisur einarbeiten kann. Frau Bünte hat extra daran gedacht, dass das schön zusammen aussehen würde. Ich steige in mein wunderbares Gewand und fange langsam an zu begreifen, dass heute wirklich der Tag ist, ab dem ich endlich ganz zu Hannes gehören werde. Dann lasse ich mich geduldig in einem Stuhl nieder und warte einfach ab, was die freundliche Zofe mit meinem Kopf veranstalten wird. Ich hatte aus der Hauptstadt auch für jede Kammer einen größeren Spiegel mitgebracht, und so kann ich nun zusehen, was da entsteht.
Clara schaut sich suchend um.
„Kann ich dir helfen?"
„Ich suche noch einen Stuhl ..."
„Oh, werden dir die Beine schwer? Dann leg dich bitte einfach auf mein Bett und die Beine hoch. Das hilft."
Clara legt sich hin, und ihre Zofe faltet ihr die Decken unter den Knien zusammen. Sie entspannt sich allmählich wieder.
Eine kleine Ewigkeit später sind meine Haare hochgesteckt und mit drei bunten Bändern durchflochten. Dennoch sieht das ganze irgendwie noch nicht fertig aus.
Da richtet Clara sich wieder auf.
„Ludwig und ich haben uns überlegt, was wir dir zur Hochzeit schenken könnten. Da sind wir auf den wunderschönen Schmuck seiner Mutter gekommen, den du bei unserem Ball getragen hast. Und wir haben beschlossen, dass er nun dir gehören soll."
Im Spiegel sehe ich, wie sie mir ein Kästchen entgegenhält. Ich fahre vom Stuhl auf und starre auf das kleine Silberkästchen.
„Für mich? Aber ... das ist doch so wertvoll. Willst du das nicht eines Tages tragen?"
"Ach, Anna. Ich habe von zwei Müttern so viel Schmuck geerbt. Und es hat so wunderschön an dir ausgesehen. Bitte nimm es an. Es passt zwar von den Farben her nicht zu diesem Kleid, aber vielleicht ja zu dem, das du übermorgen beim Ball in Gieboldehusen tragen willst."
Andächtig nehme ich das Kästchen entgegen und öffne es. Darin liegen die wunderbaren Saphire der seligen Herzogin. Und dazu einige Haarnadeln mit feinen Perlen daran, die wunderbar zu dem Schmuck passen.
Einen Augenblick überlege ich.
„Clara, was meinst du? Wäre es überladen, wenn ich zu den Bändern auch noch die Perlen im Haar trüge?"
Die Zofe nimmt die Haarnadeln und betrachtet meinen Kopf. Dann steckt sie entlang eines roten Bandes die Perlen wie einen schwungvollen Bogen in mein Haar. Es sieht zauberhaft aus.
„Nein, Anna. Das ist nicht überladen. Das ist wunderbar. Lass dich mal ganz ansehen."
Ich stehe auf und drehe mich vor ihr, dass die Röcke breit schwingen.
„Meine Schwägerin. Die schönste Frau im ganzen Land."
„Ach, Unsinn!"
Spielerisch klapse ich ihr auf den Arm, und wir lachen uns an. Es klopft an der Tür, und Irmel steckt den Kopf herein.
„Anna? Wie weit bist du? Dein Vater ist jetzt hier."
Automatisch fange ich an zu strahlen. Irmel geht wieder nach Hause, um sich nun auch fein zu gewanden. Clara und ich gehen nach vorne in meine gemütliche Küche zu meinem Vater.
Vater trägt ein festliches Gewand in gedeckten Farben, aber auch das ist sehr schlicht. Ich freue mich so, dass alle unsere edlen Gäste sich Mühe geben, sich dem Dorf anzupassen, damit sie nicht zu sehr auffallen und überheblich wirken. Jeder hat sich so Mühe gegeben, diesen Tag für uns unvergesslich zu machen!
Tränen glitzern in Vaters Augen, als ich auf ihn zugehe.
„Anna!"
Er nimmt mich in die Arme.
„Du bist so ... schön! So schön wie deine Mutter. Ich kann gar nicht sagen, wie glücklich ich bin."
„Ja, ich will"
Klaas und ich haben gestern Abend gemeinsam sein Vieh und unsere Pferde versorgt und uns dann mit einem Met vors Haus gesetzt.
„Un? Aufgeregt weg'n morg'n?"
Ich habe einmal tief durchgeatmet.
„Und wie! Ich war ein Niemand und habe mich in meine bettelarme, aber wundervolle Krankenpflegerin verliebt. Ihre Seele war der meinen so nah. Und jetzt darf ich sie endlich, endlich mein nennen. Sie und ihre drei Kinder sind das Glück meines Lebens."
„Ihr seid beide besondere Mensch'n. Mich hat dat von Anfang an nich gewundert. Die Tied hier war für dich hart, aber heilsam. Du hast dich so verännert. Du hast die Erfahrung mach'n dürf'n, dat die Mensch'n deines Standes dich nich verurteilt hab'n für deine Verännerung. Un dat die Mensch'n unsres Standes dich nich abgelehnt hab'n für dat, was du bist."
Ich versank in Gedanken an die Monate, die ich hier in diesem Dorf verbracht habe.
„Un jetzt ab in deine Kammer, der Herr. Morg'n wird een langer, anstreng'nder Dag!"
Ich musste grinsen. Es fühlte sich so unendlich erleichternd und richtig an, dass diese Menschen mit mir reden wie mit ihresgleichen. Oder wie Karl und Ludo es tun.
Kein Bauchpinseln hier und Hoheit da und Bücklinge dort. Es ist genau richtig so, wie es jetzt ist. Ich verliere nicht meine Würde oder meine Autorität, wenn ich das ganze künstliche Gedöns hergebe.
Klaas hatte mir die Kammer seiner Eltern hergerichtet. An der Wand hing mein Gewand für heute. Eine schwarze Hose und Stiefel, dazu ein weißes Bauernhemd und eine Jacke aus edlem Material, aber mit dem Schnitt, den die Bauern hier tragen und in den Farben gehalten wie Annas Kleid. Sachte fuhr ich mit meiner Hand über den feinen Stoff.
Anna ... Ich werde bestimmt heute Nacht kein Auge zutun.
Doch kaum hatte ich meinen Kopf aufs Kissen gelegt, war ich auch schon eingeschlafen.
........=........
Geweckt werde ich von Bauer Hartmanns Hahn, der dem gesamten Dorf unmissverständlich klarmacht, dass die Nacht nun zu Ende ist. Nebenan rumpelt es, als sei Klaas aus dem Bett gefallen. Ich höre es schlurfen auf der Diele, denn - Hochzeit her oder hin - gemistet, gefüttert und gemolken muss werden. Eine Weile später klappert es in der Diele. Klaas macht nun wohl Frühstück. Also ziehe ich mir meine Alltagskleidung an und gehe zu ihm.
„Gut'n Morg'n, Herr Bräutigam!"
Klaas winkt mir kurz zu, bevor er Schüsseln, Teekanne, Becher und Löffel auf den Tisch stellt. Wie ich es von hier gewohnt bin, gibt es Getreidebrei mit Früchten und Kräutertee. Wir lassen es uns in einvernehmlichem Schweigen schmecken.
„Hast du gut geschlafen, Hannes?"
„Ja, sehr gut. Und wider alles Erwarten auch sehr schnell."
„Na, vielleicht wolltest du einfach schnell wieder aufwachen können."
Wir lachen, und ich denke im Stillen an Jakob, dem so ein Spruch auch zuzutrauen wäre. Heute geht auch sein sehnlichster Wunsch in Erfüllung. Ich darf sein Vater werden. Und diese Freude macht auch mich sehr glücklich.
Nach dem Frühstück kommen Karl und Ludo, um mich zu begrüßen und mit mir die nächsten Stunden zu verbringen. Wir bewegen unsere Pferde, denn auch das muss ja jeden Tag sein. Die abgeernteten Stoppelfelder glühen in der Septembersonne und die Obstbäume auf der Almende tragen schwer. Als wir von weitem eine Kutsche aus dem Wald ins Dorf steuern sehen, machen wir kehrt.
„Das wird Bauer Freese sein. Lasst uns zurückreiten. Ich denke, wir sollten uns auch allmählich ankleiden."
Plötzlich seufzt Ludo auf.
„Wenn ich dran denke, was Clara und ich alles mitmachen mussten bei unserer Hochzeit – dieses ganze Drumrum mit Lächeln und Händeschütteln und wichtig sein und das halbe Herzogtum leerfressen. Das nächste Mal heirate ich hier."
Karl und ich schauen ihn mit großen Augen an und brechen in schallendes Gelächter aus.
„Was ist denn in DICH gefahren, Ludo!?!"
„Ich ... weiß nicht. Ich fange an zu verstehen, warum du dieses Fleckchen Erde so sehr liebst, Hannes. Es sind unglaublich freundliche Menschen. Hier ist so viel Ruhe und Frieden. Hier ist nichts aufgesetzt."
„Na, nu mal' den Bauern mal keinen Heiligenschein. Im Dorf kann es auch Hauen und Stechen geben, wenn sich zwei Weiber nicht grün sind oder sich zwei Nachbarn um die Ackergrenze zanken."
„Und außerdem, bester Freund meiner Kindertage. Ich will doch wohl hoffen, dass es dir und meiner geliebten Schwester Clara und euren zahlreichen Kinderlein noch soooo lange gut geht, dass sich diese Erwägungen bitteschön erübrigen."
Nun muss auch Ludo lachen.
Wir bringen unsere Pferde von hinten in Klaasens Stall, stellen sie neben seinen neuen Ackergaul, reiben sie ab und gehen vor zur Diele. Dort finden wir Klaas vor, der seine Hände in Seifenlauge badet und verzweifelt versucht, sie nicht ganz so nach Bauer und Ernte und Stallmisten aussehen zu lassen. Karl schaut sich das ein paar Minuten lang an.
„Klaas? Was um Himmels Willen machst du da?"
„Hufe schrubb'n?"
„Warte einfach. Mein Kammerdiener kommt jetzt sowieso her, um Hannes zu helfen. Der hilft dir dann auch."
Wenige Minuten später erscheinen Kahn und auch Ludos Kammerdiener mit den Gewändern und nehmen sich unser an.
Eine Stunde später sind wir alle Vier fein herausgeputzt, frisiert und rasiert, haben saubere Finger und blitzende Stiefel. Allmählich werde ich nervös.
Klaas wirft einen Blick auf die Dorfstraße und lächelt.
„Hannes, jetzt isses sowiet. Dat ganze aufgebrezelte Dorp löppt grade zur Kirch, un Irmel hat mir zugewunk'n, dat auch Anna fertig gewandet ist."
Ich hole tief Luft, nehme meine drei Begleiter noch einmal fest in die Arme, kontrolliere, ob ich die Ringe in der Tasche habe und gehe einfach los. Die drei anderen folgen mir lachend.
„Weißt du jetzt, wie es mir ging, als ich mit der Kutsche schneckenlangsam durch die Menschenmassen zur Kirche fahren musste?"
„Ja, Bruderherz. Jetzt weiß ich das ganz genau. Aber angesehen habe ich dir das schon damals. Vergiss nicht – ich saß neben dir."
Wie oft habe ich diese bescheidene Dorfkirche betreten, ohne zu wissen, wo ich eigentlich hingehöre? Wie viele Lieder habe ich hier gesungen und gleichzeitig auf die andere Seite der Kirche gelauscht, um Annas Stimme zu hören? Wie oft habe ich Susanna oder Jakob auf meinen Schultern von der Kirche nach Hause getragen zu unserer kleinen Kate? Heute trete ich vor Gottes Angesicht, um Anna zu heiraten. Reicher kann Gott seinen Segen nicht ausschütten!
Der Weg zum Kirchenportal ist mit hohen Blumenbögen geschmückt, das Kirchenportal von grünen Zweigen gerahmt, und das ganze Dorf steht und schaut mir entgegen, als ich die Kirche betrete. Ich lasse mir Zeit, denn Anna kann ja frühestens jetzt losgelaufen sein. Ich schaue in die strahlenden Gesichter dieser Menschen, die mich in der finstersten Zeit meines Lebens getragen haben. Als ich vorne ankomme, setzen sich meine Begleiter in die vorderste Bank bei den Männern. Ich dagegen bleibe stehen und schaue mit Spannung meiner Anna entgegen.
Es dauert ein paar Minuten. Da kommen als erstes Jakob, Susanna und Peter zum Portal herein und flitzen mit Jubelschreien auf mich zu. Schnell gehe ich in die Hocke und fange die drei auf. Hinter ihnen kommen Linde und Grete ganz außer Atem.
„Kaum war'n wir zur Döör hinaus, sinse losgerannt, wir konnt'n se nich halt'n."
Ich lächele sie an und beruhige sie.
„Das wird euch heute noch öfter passieren. Und das macht überhaupt nichts. Sie sollen heute auch ihre Freude haben. Meine Kinder."
Ich zwinkere ihnen zu, und Jakob und Susanna strahlen dabei.
„Und jetzt ab mit euch. Ich brauche hier Platz für eure Mutter!"
Gespielt streng schaue ich sie an. Gehorsam gehen die Drei zu den Mädchen in der ersten Reihe bei den Frauen und krabbeln auf den Schöße.
Ich richte mich auf und – sehe grade noch, wie Pastor Crüger das Portal durchschreitet. Hinter ihm kommt Clara mit einem Korb voller Blüten, danach folgen Anna und ihr Vater. Ich kann gar nicht sagen, wer von beiden strahlender aussieht. Ich bin so dankbar, dass wir die Kästchen und damit auch Herrn von Brabeck gefunden haben. Und ich bin so froh, dass ich an Annas Gesicht ablesen kann, dass noch nie eine Frau ehrlicher ja gesagt hat zu ihrem Manne, als Anna es heute tun wird.
Anna lächelt die Menschen in den Bänken an. Und dann sieht sie nach vorne. Direkt in meine Augen. Ich kann mein Glück nicht fassen und möchte ihr am liebsten entgegenlaufen. Doch dann ist sie bei mir angekommen. Ihr Vater nimmt ihre Hand und legt sie in meine.
„Ich gebe dir das Wertvollste, das ich besitze, Johann."
„Ich weiß. Ich werde Anna hüten wie einen Schatz!"
Herr von Brabeck ist sichtlich gerührt und setzt sich neben Ludo und Karl in die erste Bank. Anna und ich wenden uns zu Pastor Crüger, der uns anstrahlt, als würde er grade seine eigene Tochter verheiraten.
Der Gottesdienst nimmt seinen Lauf, Die Kirche ist gefüllt von fröhlichem Gesang und großer Dankbarkeit. Bewegende Worte stimmen uns ein auf das gemeinsame Leben, auf die gemeinsame Verantwortung und auf – so Gott will - viele gemeinsame Jahre voller Glück. Als Pastor Crüger unsere Hände ineinanderlegt und uns das Eheversprechen abnimmt, sehen wir uns tief in die Augen. Annas „Ja, ich will!" ist das Schönste, was ich jemals in meinem Leben gehört habe. Und als ich ihr mit denselben Worten antworte, schießen uns beide die Tränen in die Augen.
Als Pastor Crüger zu uns sagt:"Hiermit erkläre ich euch zu Mann und Frau", kann Jakob sich nicht mehr halten. Er schießt aus der Bank auf uns zu, springt mich förmlich an und jubelt ganz laut.
„Vater! Endlich habe ich einen Vater."
Da ist es mit der Beherrschung vorbei. Die ganze Gemeinde fängt an zu lachen. Anna und ich weinen nun wirklich vor lauter Seligkeit. Und Pastor Crüger nimmt die Hände von Jakob und mir und schmunzelt uns an.
„Ganz genau, Jakob. Hiermit erkläre ich euch zu Vater und Sohn!"
Als das allgemeine Gelächter wieder verebbt ist, beuge ich mich zu Jakob runter.
„Und du huschst jetzt ganz schnell zurück zu Linde!"
Lange spannt uns der Pastor nicht mehr auf die Folter, er beendet zügig den Gottesdienst und wartet dann. Linde schiebt die Kinder herbei, Clara stellt sich mit dem Blumenkorb dazu, Pastor Crüger folgt und so werden wir aus der Kirche geleitet.
Als ich vorhin die Kirche betreten habe, hat Hannes mir entgegen gelächelt, dass es mein Herz schier zum Bersten gebracht hat vor Glück.
Warum nur habe ich sooo lange gezögert?
Ich habe mich an den fröhlichen Gesichtern um mich drumrum gefreut und bin am Arm meines Vaters auf den Mann zugegangen, zu dem ich nun gehören darf. Als Jakob an Hannes hochgesprungen ist und ihn so überschwenglich „Vater!" genannt hat, sind mir die Tränen in die Augen geschossen.
Jacob Adam? Siehst du uns? Vom Himmel herab? Siehst du das Glück deiner Kinder? Wir werden dich nie vergessen! Du wirst immer fehlen. Gönnst du uns das Glück? Ich bitte auch dich um deinen Segen für deine Familie.
Der Gottesdienst geht mit festlichen Gesängen und dem Segen zu Ende. Schnell greifen Linde und Grete nach Jakob und Susanna und schieben sie vor in den Mittelgang. Clara stellt sich mit dem Blütenkorb dazwischen. Dann folgt Pastor Crüger, und nun dürfen wir uns einreihen. Hinter uns stellen sich Vater mit Ludo und Karl mit Klaas auf. So ziehen wir feierlich aus der Kirche aus. Jakob und Susanna greifen immer wieder in Claras Korb und werfen die Blüten. Allerdings nicht nur vor sich sondern auch über sich und in die Gemeinde, und zur allgemeinen Heiterkeit sind wir bald alle übersäht von bunten Blütenblättern. Aber es bleibt noch genug für den Weg vor uns übrig.
Dorfhochzeit
Wir treten hinaus in die warme Septembersonne und wundern uns, was hier nun wieder alles geschehen ist. Ich hatte geglaubt, es seien alle in der Kirche gewesen. Aber nun entdecke ich, dass der Ochse bereits über einem großen Feuer brät, mit dem Schmied und dem breit grinsenden kleinen Jasper daneben. Einer der Gesellen des Schmieds sticht ein Fass Bier an.
Hannes zieht mich mitsamt den Kindern zu zwei ganz kleinen Pferden, die bei Konrad auf dem Platz vor der Kirche stehen. Ich schaue ihn fragend an. Aber er zwinkert mir nur zu, hebt die Hand und wartet, bis alle aus der Kirche herausgekommen und still geworden sind.
„Anna?"
Ich schaue ihn lächelnd an.
„Ja?"
Mit leuchtenden Augen zieht Hannes mich zu sich ran und gibt mir plötzlich vor dem gesamten Dorf einen Kuss. Ich glaube, ich bin jetzt so rot wie eine Kirsche. Dann hält er mir eine kleine Schachtel hin.
„Mach auf!"
Ich nehme die Schachtel und öffne sie – und erstarre. Darin sind zwei Ringe. Sie sind wie zwei in sich gedrehte Bänder aus Gold ohne Anfang und Ende.
„Das, Anna, sind die Ringe meiner Großeltern. Die Bänder sind endlos, so wie unsere Liebe sein soll."
Sanft schiebt er mir den kleineren Ring auf meinen Finger. Schnell nehme ich ihm den größeren ab und schiebe den auf seinen Finger. Er gibt mir noch einen Kuss, und das ganze Dorf klatscht begeistert dazu.
Nun dreht sich Hannes zu den Kindern.
„Das Peterchen muss noch ein paar Jahre warten, aber für Jakob und Susanna habe ich auch ein Geschenk. Mit diesen Worten zeigt er auf die beiden kleinen Pferde.
„Ich habe sie schon vor einer Weile gekauft und gut beobachtet, damit ich entscheiden kann, welches Tier am besten zu welchem Kind passt."
Er zeigt auf den etwas größeren Wallach.
„Das hier ist 'Lustig'. Dieser kleine Racker ist wie Jakob – klug, schnell und ununterbrochen zu kleinen Streichen aufgelegt."
Jakob steht starr da und starrt sein Pferd an. Er bringt keinen Ton heraus. Ich glaube, ich habe meinen Sohn noch nie so sprachlos erlebt. Dann beginnt er zu stottern.
„Das ... das ... ist ... MEIN Pferd? Ganz für mich?"
Hanners nickt, nimmt Jakob an der Hand und führt ihn zu Lustig. Der strahlt über beide Backen, schaut seinem Pferd tief in die Augen und streichelt seinen Hals.
„Hallo, Lustig. Wollen wir ganz viel üben, damit wir eines Tages Hannes auf Hurtig überholen können?"
Schallendes Gelächter von allen Seiten unterbricht ihn. Lustig schaut nur seelenruhig zu Jakob – und senkt dann den Kopf, als wolle er nicken und sagen: „Klar machen wir!"
Jakob umarmt sein Pferd und sieht aus, als wolle er nie wieder loslassen.
Derweil nimmt Hannes Susanna bei der Hand und führt sie zu der etwas kleineren Stute.
„Schau mal, Susanna. Wenn du das möchtest, dann soll dieses hübsche Pferdemädchen dir gehören."
Ganz vorsichtig greift Susanna nach dem Tier und streichelt es.
„Sie heißt Lieblich, weil sie ein wunderbar sanftes Wesen hat. Sie ist immer ruhig, zu jedem freundlich und hat endlos Geduld. Wenn du auf Lieblich reiten lernst, musst du wirklich nie Angst haben, dass sie dich abwirft."
Stumm nickt Susanna. Sie hat große Ehrfurcht vor dem für sie doch recht großen Tier. Aber auch ihre Augen strahlen vor Glück.
„Konrad wird eure beiden Tiere genauso gut versorgen wie Hurtig und wird euch alles beibringen, was ihr wissen müsst, damit es euren Tieren gut geht. Ab jetzt seid ihr dafür verantwortlich."
„Ich hab aber jetzt keine Zeit zum Reiten, Hannes. Soll ich Lustig zu Hurtig auf die Weide bringen?"
Konrad beugt sich zu ihm runter.
„Das ist eine gute Idee, Jakob. Kommt, ich helfe euch. Und dann gehen wir feiern."
Er hebt die beiden Kinder in die beiden kleinen Sättel, drückt ihnen die Zügel lose in die Hand und führt die beiden Tiere auf Klaasens Weide. Susanna ist das nicht ganz geheuer, und sie greift nach Konrads Ärmel. Da springt schnell der kleine Jasper zu ihr, läuft neben ihr her und hält ihre Hand, damit sie sich sicher fühlt.
Wir werden in der Zwischenzeit zum Dorfplatz geführt, wo inmitten von vielen, vielen bunt geschmückten Tischen eine festliche lange Tafel steht für uns und unsere Ehrengäste. Hannes führt mich zu meinem Platz, an meiner anderen Seite bleibt mein Vater stehen. Als Clara an Ludwigs Arm an mir vorüber geht, flüstert sie mir etwas zu.
„Bei der nächsten Hochzeit feiere ich auch auf dem Dorf."
Hannes und Ludwig müssen das wohl gehört haben, denn sie beide brechen auf der Stelle in schallendes Gelächter aus. Clara und ich schauen sehr irritiert.
„Ist das grade so ein geheimes Bruder-Ding?"
Als Antwort bekommen wir nur ein Nicken. Karl kommt zu uns und fragt nach dem Grund des Gelächters. Clara kann ihren Satz gar nicht zu Ende sprechen, da ist auch er schon schier vor Lachen umgefallen. Doch nun wird Clara energisch.
„Ludwig, du kommst heute Nacht nicht ins Bett, bevor du mir DAS erklärt hast!"
Jetzt breche ich in Gelächter aus.
Ich glaube, ich träume. Innerhalb von nicht mal einem Jahr habe ich einen Vater, einen Mann, eine Schwägerin und zwei Schwager dazugewonnen.
Ich schaue mich um. Zum Glück sind alle Dorfbewohner so damit beschäftigt, Essen aufzutragen oder ihren Platz zu finden, dass uns keiner zugehört hat. Birgitta sammelt grade alle Kinder um sich, Konrad und der Kleine Jasper kommen mit Jakob und Susanna auf den Schultern angetrabt, Linde und Grete setzen sich mit dem Peterchen in unsere Nähe. Auf alle Tische werden Getränke gestellt, und ich genieße jeden Augenblick in vollen Zügen, weil ich es so gewohnt bin – und so schnell nicht wieder erleben werde.
Doch bevor der Ochse angeschnitten wird, erhebt sich Hannes mit seinem Glas in der Hand. Es wird ganz still. Langsam schaut Hannes nacheinander jedem Lütgenhusener in die Augen.
„Ich kann euch nicht sagen, wie froh ich bin, hier zu sein und hier zu feiern. Ich verdanke euch mein Leben und noch so viel mehr. Halb tot und ohne Namen kam ich hierher. Morgen gehe ich fort mit meinem Namen, mit meiner Verantwortung, mit neuer Erkenntnis, mit dem Herzen voller Freunde und – mit einer ganzen Familie. Mit großer Dankbarkeit lege ich Annas Leben, mein Leben, euer aller Leben in Gottes segensreiche Hand und bitte um Bewahrung, solange Gott uns leben lässt. Denn das ist es, was ich hier erfahren habe: Bewahrung, die Bedeutung von 'zu Hause sein', Vergebung und Neuanfang.
Sollte ich jemals einen von euch schlecht behandeln, dann dürft ihr mich absetzen. Ich schlage dann Klaas oder den kleinen Jasper als Nachfolger vor. Auf euch alle!"
Unter schallendem Gelächter erheben alle ihre Gläser und Becher, prosten uns zu und trinken auf unser Wohl.
Hannes steht noch.
„Gibt es hier jemand, der keinen Hunger hat? Passend in die völlige Stille hinein knurrt sehr laut ein Magen. Lachend eröffnet Hannes das Mahl. Schnell flüstere ich ihm ins Ohr.
„Du musst den Ochsen anschneiden."
„Ich?"
Er stellt sein Glas ab, zieht seine Jacke aus, krämpelt seine Ärmel hoch und geht auf das Feuer zu. Der Schmied reicht ihm ein kunstvoll gedrehtes großes Messer an und erklärt ihm, wo er anfangen soll mit Schneiden. Und schon legt Hannes los.
Im Nu stehen alle Lütgenhusener mit ihren Tellern oder Brotscheiben in einer langen Reihe und bekommen jeder von ihm ein Stück Fleisch angereicht. Ein paar Leute bringen als erstes volle Teller zu unseren Ehrengästen, damit die nicht Schlange stehen müssen, Karl war allerdings schneller und steht mit Klaas zusammen in der Reihe. Dann bringen alle ihre „Beute" zu ihrem Platz. Bald schon ist fröhliches Schmausen und Trinken, Singen und Feiern um uns herum. Erst nach einer ganzen Weile kommt Hannes mit zwei Tellern zu mir und gibt mir den einen.
„Lass es dir schmecken, Anna."
Ich schaue mir an, wie viele Platten und Schüsseln mit den verschiedensten Gerichten herumgereicht werden und muss schmunzeln.
„Wie du siehst, Hannes, ging dein Wunsch nach einem Ochsen in Erfüllung. Aber glaub nicht, dass die Dörfler nicht genauso viel Essen auffahren können wie dein nobler Stadtkoch."
Ludo protestiert.
„MEIN nobler Stadtkoch. Und er hat gebettelt, mitkommen zu dürfen, weil er wohl geglaubt hat, wir müssten hier verhungern. Aber ich befürchte eher, ich werde nach Hause rollen, wenn diese drei Tage rum sind. Und dann muss ich eine Hungerkur machen, und mein Koch stirbt an Vernachlässigung. Warum machen wir eigentlich dieses ganze Brimborium in der Stadt?" Genüsslich schiebt Ludo sich noch ein Stück Fleisch in den Mund.
Doch dann stutzt er, denn Jakob steht vor ihm und antwortet ihm, laut und ungefragt.
„Mutter hat gesagt, du musst das so machen, weil dich sonst die Leute in deinem Land nicht ernst nehmen. Dafür musst du schon ein bisschen angeben."
Ich möchte vor Scham im Boden versinken.
Warum nur kann sich dieses schlaue Kind einfach alles merken, was man ihm einmal sagt?
„So. Ein bisschen angeben muss ich. Na, du hast ja ein schönes Bild von mir, oh meine Schwägerin."
Ludo zwinkert mir zu. Ich werde knallrot und ziemlich kleinlaut.
„Ich wusste nicht, wie ich es ihm besser erklären sollte."
Und schon setzt Jakob noch einen drauf.
„Das macht doch nichts, Mutter. Ich bin nur froh, dass Vater kein ganzes Land hat und deshalb nicht angeben muss. So ist es viel gemütlicher."
Mit diesen Worten krabbelt er unter unserem Tisch durch, nimmt Hannes und mich in die Arme und flitzt wieder zu seinem Platz.
https://youtu.be/4lgLnEF7GhY
wie alles begann
Allmählich macht sich bei allen Sättigungsgefühl und eine gewisse Trägheit breit. So merken wir nicht, dass einige Menschen verschwinden. Außerdem werden wir von Birgitta abgelenkt, die nun alle Kinder zu sich ruft. Sie bauen sich inmitten der Tische vor uns auf. Mit ihren hellen klaren Stimmen und dazwischen dem ein oder anderen Brummer von den großen Müller-Jungs singen sie uns das Lied von der Vogelhochzeit.
Ein Vogel wollte Hochzeit halten in dem grünen Walde.
Refrain: Fidirallala, fidirallala, fidirallalalala.
Die Drossel war der Bräutigam, die Amsel war die Braute.
Der Sperber, der Sperber, der war der Hochzeitswerber.
Der Stare, der Stare, der flocht der Braut die Haare.
Die Gänse und die Anten, die war'n die Musikanten.
Der Spatz, der kocht das Hochzeitsmahl, verzehrt die schönsten Bissen all.
Der Uhu, der Uhu, der bringt der Braut die Hochzeitsschuh'.
Der Kuckuck schreit, der Kuckuck schreit, er bringt der Braut das Hochzeitskleid.
Der Seidenschwanz, der Seidenschwanz, der bracht' der Braut den Hochzeitskranz.
Der Sperling, der Sperling, der bringt der Braut den Trauring.
Die Taube, die Taube, die bringt der Braut die Haube.
Die Lerche, die Lerche, die führt die Braut zur Kerche.
Der Auerhahn, der Auerhahn, das war der werte Herr Kaplan.
Die Meise, die Meise, die singt das Kyrie eleise.
Der Wiedehopf, der Wiedehopf, der bringt der Braut nen Blumentopf.
Die Gänse und die Anten die sind die Musikanten.
Die Puten, die Puten, die machten breite Schnuten.
Der Pfau mit seinem bunten Schwanz macht mit der Braut den ersten Tanz.
Die Schnepfe, die Schnepfe, setzt auf den Tisch die Näpfe.
Die Finken, die Finken, die gaben der Braut zu trinken.
Der lange Specht, der lange Specht, der macht der Braut das Bett zurecht.
Brautmutter war die Eule, nahm Abschied mit Geheule.
Das Drosselein, das Drosselein, das führt die Braut ins Kämmerlein.
Der Uhu, der Uhu der macht die Fensterläden zu.
Der Hahn, der krähet: „Gute Nacht", nun wird die Kammer zugemacht.
Die Vogelhochzeit ist nun aus, die Vögel fliegen all' nach Haus.
Das Käuzchen bläst die Lichter aus und alle ziehn vergnügt nach Haus.
Beim Kehrvers stimmt das ganze Dorf mit ein, und am Ende bekommen die Kinder begeisterte Jubelrufe von allen Großen. Da zücken auf einmal alle Kinder ein kleines Taschentuch und winken damit. Sie stellen sich in einer Reihe auf, bringen uns all die Taschentücher und legen sie auf den Tisch. Als letztes kommt die Grete.
„Liebe Anna, gn..."
„Wag es nicht!"
Hannes grinst breit.
„Lieber Hannes. ... Wir hab'n im Nam'n der Kinners auf deese Tasch'ntücher je een'n Piepmatz gestickt, damit ihr euch immer, wenn ihr eens benutzt, an eure Hochtied in Lütg'nhus'n erinnern könnt."
Wir breiten die kleinen Tücher nebeneinander aus.
„Danke, Grete. Und danke, ihr lieben Sänger, das war wunderschön!"
Jetzt sehe ich, dass jedes Taschentuch anders umsäumt ist, und dass jeder der aufgestickten Vögel anders aussieht. Es sind elf Kinder und zwölf Taschentücher. Da haben sie Grete wohl mitgezählt. Hannes fährt sachte mit dem Finger über die Vögel. Auch Vater und unsere Ehrengäste bestaunen die bunte Vielfalt.
„Jetzt will ich aber wissen, wer welchen Vogel gestickt hat."
Der Reihe nach hält Hannes die Tücher hoch, und bei jedem meldet sich eine andere Hausfrau. Irmel, Gunda, Birgitta, Marga, Britt, Grete, die Lene und einige andere haben sich neben der Ernte noch die Mühe gemacht, uns eines dieser feinen Tüchlein zu arbeiten.
Da meldet sich Clara zu Wort.
„Meine lieben Frauen. Ich finde diese Tüchlein so wunderschön, dass ich für mich gerne auch welche bestellen und natürlich bezahlen will. Wenn der Winter naht, habt ihr vielleicht die Zeit, eure Hände für mich zu rühren. Und dann darf ich mich auf eine ganze fröhliche Vogelschar freuen."
Staunend starren die Frauen Clara an. Ich sehe es in den Gesichtern arbeiten - die Herzogin will von UNS etwas gearbeitet haben? UND will es bezahlen??? Aber Clara lächelt nur und nickt noch einmal zur Bestätigung.
Da auf einmal hören wir einen lauten Donner, und alle schrecken zusammen. Klaas kommt auf Hurtig angeprescht, und alle Dorfbewohner setzen sich sehr schnell hin. Das scheint ein Signal gewesen zu sein. Beim Dorfbrunnen lässt er sich vom Pferd fallen, Mathes steht auf dem Brunnenrand und schüttet ihm einen Eimer Wasser über den Kopf.
Aha, das ist dann wohl ein Gewitter ...
Zwei Jungs halten eine Bretterwand mit einer Tür darinnen, durch die Klaas nun stolpert. Ich sehe ihn mir genauer an. Er hat eine feine Jacke übergezogen, einen Hut auf dem Kopf und hohe Stiefel an. Auf der anderen Seite der Bretterwand stiert er Birgitta an, die dort sitzt und so tut, als ob sie stickt.
Aaaa, das sind wir! Hannes und ich.
„Versteck mich!"
Sofort schiebt Birgitta Klaas hinter ein großes Brett und macht die Türe zu. Nun kommen vier der Bauern heran, mit Tüchern vor den Gesichtern, reißen die Tür auf und brüllen:"Wo ist er?"
Sie schmeißen alles durcheinander, was dort liegt und ziehen wieder ab. Wieder schließt Birgitta die Tür, dann verschwindet die Hauswand. Klaas kommt aus dem Versteck, stammelt:„Das Pferd, sie dürfen es nicht finden!" ...
... und fällt einfach um.
Alle Dorfbewohner an den Tischen haben sich irgendwelche Hüte oder Jacken übergezogen, irgendwelche Gegenstände bereitgelegt. Und so entrollt sich vor unseren staunenden Augen und unter heftigem Gelächter oder auch angehaltenem Atem die ganze Geschichte von Hannes und mir. Dabei wechseln ununterbrochen die Rollen, einige spielen sich selbst, sogar Siegurd Crüger macht mit und die Kinder flitzen immerzu mittendurch. Es ist nicht immer leicht, den Überblick zu behalten. Aber wenn Vater mich anstupst, erkläre ich es ihm. Und wenn Ludo oder Clara verwirrt sind, ist Hannes schnell dabei.
Die ganze Schauspielerei ist zudem sehr übertrieben, die Tränen rührselig, das Gelächter überbordend, die Gefahren höchst dramatisch. Vor allem Hannes, Klaas, Karl und ich bekommen einiges ab, aber wir können nur von Herzen darüber lachen. Bauer Freese läuft zu ganz großer Form auf, als er seine vielen Nebenrollen wie den Wirt, sein Pferd und sich selbst spielt. Schließlich darf sogar Jakob sich einmischen und anfangen zu schreiben.
Hannes und ich halten uns die ganze Zeit an der Hand und lachen und weinen miteinander. Wenn Klaas den trotzigen Hannes mimt oder Birgitta mein Zaudern darstellt, werden wir alle so albern, dass es durchs ganze Dorf schallt. Als Klaas als Hannes nach Duderstadt reitet, um die Äbtissin zu besuchen, steht Karl auf, zieht Ludo mit sich, der sehr irritiert schaut, und zeigt uns allen, wie schwer es war, dass er Karl überhaupt hat suchen lassen. Ludo findet sich schnell hinein in seine Rolle. Es ist sehr still geworden, und manche Träne glitzert in den Augenwinkeln. Spontan geht auch Clara hin und hält Ludos Hände, als Karl abreist.
Das Grenztheater und die anschließende Heimsuchung durch den Brudenhusen begleiten wir mit Anfeuerungspfiffen und Buhrufen. Heinz Zuber und Onno Hinrichsen spielen nun den Hauser und den Brudenhusen und quälen uns so richtig. Karl spielt sich selbst, und nun erfahren wir auch, was sich damals in Klaasens Stall zugetragen hat, bevor er Karl zu Hannes gelassen hat. Plötzlich habe auch ich Lust und gehe nach vorne, damit Karl und ich zeigen können, wie wir unsere heimlichen Gespräche geführt haben. Als ich Karl frage, wer denn Hannes nun ist, brüllt der echte Hannes sofort:"Sags nicht, Karl! Sags nicht!"
Und immer weiter geht es, bis die ganze Geschichte erzählt ist in dem Moment, wo ich, die Witwe Anna Adam, geborene Gräfin von Brabeck-Lenthe, ja sage zu meinem Knecht Hannes, nicht-mehr-Herzog von Grubenhagen. Sogar Vater steht auf und legt noch einmal unsere Hände ineinander zu seinem Segen.
Erschöpft und sehr gut gelaunt räumen die ursprünglichen Schauspieler ihre Hilfsmittel beiseite, und alle lassen sich erschöpft vom Theaterspielen und Lachen auf ihre Stühle und Bänke plumpsen.
„Durst!", erschallt es von allen Seiten, und die Schmiedegesellen laufen mit Bier und Wein hin und her, damit alle bald wieder zufrieden sind. Da beugt sich Ludo plötzlich zu uns rüber.
„Ich glaube, ich will doch nicht auf dem Dorf heiraten. Wenn ich mir vorstelle, was Hannes und Karl dann für UNS für Possen aufgeführt hätten – dann würde mich der letzte Stiefelputzer nicht mehr ernst nehmen."
Wieder lachen Hannes, Ludo und Karl sich schief. Aber das eheliche Gewitter kommt sofort. Clara schaut sie sehr streng an.
„Darf ich dich vorsichtig darauf aufmerksam machen, dass du bereits mit mir verheiratet bist? Und dass du dieses Rätsel heute noch aufklären musst, wenn du nicht im Stroh schlafen willst?"
„Na gut."
Hannes sorgt für Ruhe, und dann erzählen uns die drei von ihrem Gespräch am Vormittag.
Nach und nach beruhigen sich die Gemüter, und Hunger macht sich wieder bemerkbar. Also muss weiter der Ochse dran glauben, auch Brot und andere Speisen gibt es noch reichlich, alle essen sich satt. Da das Theaterspiel viel länger gedauert hat als geplant, ist es nun schon Abend, und die kleineren Kinder gähnen herzhaft. Doch bevor die Mädchen sich die Kinder schnappen können, tritt auf einmal Pastor Johann Crüger auf uns zu.
„Liebe, liebe Anna, lieber Hannes! ..."
...........................................................
28.2.2022
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro