63 - Geheimnisse und Erfolge
Di. 21.8. a.d. 1571
Ich glaube – so sehr ich hier in Gieboldehusen glücklich bin, mein Leben leben und mein Land gestalten kann – der Abschied von Salzderhelden und von Karl und Ludo wird mir immer schwer fallen. Jeder Bote ist lang unterwegs, jede Reise ist ein Risiko und über allem steht immer die Frage: wann werden wir uns wiedersehen?
Manchmal wache ich morgens auf und gerate auf einmal ins Grübeln. Das geht doch alles viel zu einfach, da muss doch irgendwo ein Haken dran sein. Aber wenn ich dann angezogen bin und nach unten zum Frühstück gehe, ist mein kleines Schloss immer noch geschmackvoll eingerichtet, meine Dienstboten sind immer noch freundlich, meine Verwalter sind immer noch tüchtig und ehrlich, meine Schule ist immer noch im Wachsen und mein Herz ist immer noch voll mit Anna und ihren Kindern. Ich finde den Haken an der Sache nicht. Ich fühle mich wohl und angekommen an dem Ort, den ich zu meinem Zuhause gemacht habe, bei den Menschen, die um mich herum sind, mit den Aufgaben, die ich mir gestellt habe. Und ich hoffe und bete an jedem einzelnen Tag, dass das unter dem Segen Gottes auch immer so bleiben möge.
Die Bauern in meinem Lehen arbeiten hart, um eine gute Ernte einfahren zu können. Und da das Wetter in diesem Jahr deutlich besser ist als im letzten, haben sie auch alle Hoffnung, gut durch den nächsten Winter zu kommen. Im Herbst nach Hochzeit und Ernte werden alle Besitzverhältnisse bereinigt. Dann werden auch alle Bauern und Handwerker damit beschäftigt, vor der einsetzenden Nässe und Kälte alle Häuser, Scheunen und Ställe zu reparieren und Werkzeug zu ersetzen. Was bei der Arbeit auf meinen eigenen Feldern kaputt geht, werde ich selbst ersetzen. Ich will sicher sein, dass alle im nächsten Winter ein dichtes Haus und warme Kleidung und Schuhe haben, dass niemand hungern muss. Die Kälte und Feuchtigkeit auf Annas Dachboden werde ich nie vergessen. Und den Beinaheabsturz bei der Reparatur ihres Daches auch nicht. Ich will einige Straßen befestigen lassen, damit sie im Winter nicht unpassierbar werden. Und die Schule soll dann auch endlich starten.
Auch in der Stadt möchte ich für Verbesserungen sorgen, weil doch einiges heruntergekommen ist. Außerdem möchte ich einen Herbstmarkt in Gieboldehusen abhalten und dabei dafür sorgen, dass alle Bauern ihre Viehbestände aufstocken können. Es gilt, den Bedarf an Nutzvieh wie Ochsen für den Pflug oder Geflügel zum Essen so einzuschätzen, dass alle gut davon und damit leben können, dass aber auch alle diese Tiere gefüttert werden können. Was nützt mir der stärkste Ochse, wenn ich ihn nicht satt bekomme?
Ich bin wie jeden Tag auf Hurtig unterwegs, mal mit von Thaden, mal mit Maier, um die Verhältnisse zu besehen, um den Bauern für ihre Arbeit zu danken und um manche Maßnahme, die getroffen wurde, besser zu verstehen. Überall sehe ich, dass diese beiden den Menschen gut bekannt sind, dass sie mit Freuden begrüßt werden. Sie waren viel unterwegs in den letzten Wochen, haben Vertrauen aufgebaut zum Volk. Es ist eine Freude, das alles zu sehen.
Nur selten fragt mich noch jemand, warum ich das Leben bei Hofe getauscht habe gegen dieses arbeitsame Leben auf dem Lande. Wer mir dabei zusieht, kann sich die Frage selbst beantworten. Ich habe eine Aufgabe für diese Menschen. Und der will ich gerecht werden.
Schon vor zwei Wochen habe ich Einladungen zu unserer Hochzeit verschickt. Allmählich trudeln nun die Antworten ein. Die von Bottlenberg-Schirps haben als erste zugesagt. Annas Vater will wieder für zwei Wochen bei uns bleiben. Graf von Katlenburg und der Freiherr von Herzberg werden uns beehren. Vater und Tochter von Barbis hingegen habe ich nicht eingeladen. Sie leben ja auch nicht in meinem Lehen. Und es wäre höchst unfreundlich, ihnen so vor Augen zu führen, was ihnen entgangen ist. Noch ein paar andere Honoratioren der umliegenden Lehen haben hingegen zugesagt. Ich freue mich darauf, meine Nachbarn kennen zu lernen.
Unser großes Fest wird in vier Wochen sein. Hoffentlich bleibt bis dahin das Wetter stabil. Aus Lütgenhusen kommt die Nachricht, dass der Umbau von Annas Haus zügig von statten geht. Ich freue mich sehr, dass Siegurd Crüger auf diese Weise auch bei unserer Hochzeit sein wird. Er hat mir ein sicheres Dach über dem Kopf geboten, als es in mir drin ganz dunkel war.
Mit der Zeit hat sich Alltag in meinem Schloss und in meinem Leben eingestellt. Albrecht Maier, Gunther von Thaden und Gert Maier sind ein wunderbares Gespann, das in kurzer Zeit erstaunlich viel bewegt. Unsere gemeinsamen Abendessen sind fröhlich und entspannt. Gert Maier ist inzwischen richtig aufgetaut. Es hat sich gezeigt, dass auch er durchaus viel Verstand und viel Humor besitzt. Ihm ist anzumerken, wie glücklich er ist, endlich ein freies Leben führen zu können.
Im Waisenhaus ist Frieden eingekehrt. Die Kinder sind wohl genährt, gut gekleidet und fröhlich. Die Älteren freuen sich auf die Schule, die Jüngeren werden zu Spiel und Lernen angehalten und die Dienstboten haben wieder gute Laune. Alle Kinder helfen in der Küche, im Küchengarten und beim Vieh. So lernen sie beizeiten, wie man sich selbst ernähren und seinen Haushalt organisieren kann. Aber die Arbeit wird nie wieder das Lernen ersetzen. Die Hannovers beschäftigen sich im Laufe der Woche mit jedem Kind einmal gründlich und halten auch die Dienstboten an, die Kinder zu beobachten. Einmal in der Woche sitzen sie dann zusammen, tauschen sich über die Kinder aus und notieren sorgsam, welches Kind was besonders gut kann oder bei was es noch besondere Hilfe braucht.
Das Schulgebäude und das Gelände sind nun fertig repariert und eingerichtet. Die Lehrerwohnung ist einladend, und ein Dienstmädchen kommt täglich aus der Stadt, um die Räume sauber zu halten und zu kochen. Die Weise-Brüder haben sich einen Plan ausgedacht, was sie den Kindern in welchem Alter beibringen wollen, was für die Kinder wirklich wichtig ist, was sie fürs Leben brauchen werden. So haben sie sich fürs Rechnen genau überlegt, was diese Kinder in ihrem späteren Leben werden rechnen müssen, und sich dazu Beispiele ausgedacht. Sie machen Pläne, wann sie über die Dörfer ziehen, die Kinder testen und wie sie die Eltern überzeugen wollen, dass ihr Sohn oder ihre Tochter lesen lernen sollte. Und auch diese beiden Männer wollen sich zu jedem Kind in der Schule Notizen machen, wie sie sich entwickeln.
Innen an der Schlossmauer steht eine Reihe kleiner, alter Gesindehäuser, die schon lange nicht mehr bewohnt wurden. Als zu meiner Freude meine drei „Heiligen" aus Duderstadt hier eintrafen, haben sie es sich gemeinsam mit den drei Landsknechten aus Salzderhelden zur Aufgabe gemacht, diese Häuser instand zu setzen. Da werden Wände neu geflochten, Lehm verschmiert, Rauchabzüge gereinigt, Herde neu gemauert, Dächer repariert und Fensterläden erneuert. Je zwei der Häuschen haben zwischen sich einen kleinen Küchengarten und einen eingezäunten Platz für Hühner, damit die Familien selbst etwas zu ihrem Lebensunterhalt beitragen können. Die Männer kommen gut voran und werden dort im Winter schon wohnen können. Ein Häuschen soll für die kleine Familie von Caspar sein, die anderen Fünf wollen sich weitere zwei Häuser teilen. Aber auch die restlichen Häuser werden nach und nach repariert werden, denn die anderen Männer oder zum Beispiel Konrad könnten ja eine Familie gründen wollen und sich dann über ein eigenes Dach freuen.
Die sechs Bewaffneten, die ich auf meiner langen Reise zu mir selbst „eingesammelt" habe, werden in Zukunft meine persönliche Garde innerhalb der Stadtwache sein, Menschen, die dort ihren Dienst tun, aber für besondere Aufgaben wie Botenwege oder unseren persönlichen Schutz auf Reisen zur Verfügung stehen.
Bei meinen Gesprächen mit den Pfarrern, Vögten, Handwerkern und Dienstboten fallen mir immer wieder Dinge auf, die ich überdenken oder verändern möchte. Doch für dieses Jahr sind bereits so viele Pläne umgesetzt, sind alle Handwerker schon so gut beschäftigt, dass ich mir eine Liste anlege, was ich dann in den nächsten Jahren anpacken will. Gut Ding will Weile haben, ich habe, so Gott will, noch viele Jahre Zeit, um hier mein Bestes für die Menschen zu geben.
Manchmal erlebe ich seltsame Momente – wenn Bader, von Thaden und Maier plötzlich verstummen, wenn ich den Raum betrete. Wenn Jansen und Barkhausen, Adler, Link oder die Wirtsleute in der Stadt beieinanderstehen und eifrig in ein Gespräch vertieft sind. Wenn die Kinder im Christophorus-Haus verschmitzt grinsen, sobald sie mich sehen. Wenn Konrad immerzu in der Wageremise verschwindet, mich dort aber nicht mehr hineinlässt. Wenn Gesinde auf dem Dachboden kramt und verdeckte Dinge die Hinterstiegen hinunterträgt, sobald ich vorne zur Tür hinaus bin, und dann ganz aufgescheucht dreinsieht, wenn ich plötzlich nochmal wieder hereinkomme. Wenn ich die Buben und Mädchen dieser Stadt beim Vorbeigehen ins Schulhaus schleichen sehe und kurz darauf Lieder aus einem er Klassenzimmer erklingen.
Ich ahne, dass da allerlei Geheimnisse mit der Hochzeit verbunden sind, und freue mich noch mehr auf diese Tage. Wenn ich seltsame Fragen gestellt bekomme, schmunzele ich und beantworte alles, ohne dabei zu neugierig zu sein.
Bald ist es soweit!
Mo. 3.9. a.d. 1571
Ich kann es kaum glauben. In zwei Wochen bin ich Anna Teresa von Grubenhagen, Gräfin von Gieboldehusen – und Hannes Frau. Die Handwerker bei meinem Haus und die Bauern auf den Feldern arbeiten hart, um das Haus fertigzustellen, die üppige Ernte dieses Jahres einzufahren und nebenbei Zeit für die Hochzeitsvorbereitungen zu haben. Überall wird getuschelt und gemauschelt, wenn sie glauben, dass ich nicht hinsehe. Ob es bei Hannes in Gieboldehusen genauso zugeht?
Immer wieder schaut jemand besorgt zum Himmel. Seit zwei Tagen ist es sehr schwül, und eigentlich muss das Gewitter doch endlich mal runterkommen. Andererseits muss vorher die Ernte eingefahren sein, weil es sonst vielleicht das reife Getreide vom Halm schlägt, und das wäre eine Katastrophe. Jede Hand hilft nun mit, sogar Jakob und Cristoph gehen hinter den Garbenbindern her, um die letzten heruntergefallenen Ähren in eine Schürze zu sammeln. Ich selbst betreue alle kleinen Kinder des Dorfes, damit auch alle Mütter mit aufs Feld können, und koche nebenher große Kessel voll Getreidebrei und Suppe.
Vor drei Tagen sind einige der Zimmerleute nach Hause nach Duderstadt gereist, weil der Dachstuhl nun fertig ist. Dafür werden morgen dann die Dachdecker von dort kommen und einige gediegene Möbel mitbringen, um die Gästezimmer einzurichten. Es wird zwar recht knapp, aber mein Haus wird zeitig fertig werden. Immer wieder staune ich, wie niedrig die Beträge sind, die Siegurd Crüger von mir für Baumaterial und Löhne verlangt. Ich habe allmählich den Verdacht, dass ich die wahren Kosten gar nicht kenne.
Am Ende der Woche werde ich für ein paar Tage nach Gieboldehusen reisen, da mein Vater dann eintreffen wird. Und wir wollen keine Sekunde miteinander verschwenden. Er wird dann mit mir kurz vor der Hochzeit zurück hier ins Dorf fahren. Hannes und seine Familie werden erst am Tag vorher hier eintreffen.
Die Kinder sind unglaublich aufgeregt. Ihre Mutter heiratet! Und dann auch noch den Mann, den sie sich als Vater gewünscht haben. Es wird ein riesiges Fest geben – hier im Dorf und dort in der Stadt. Sie dürfen diesmal bei allem dabei sein – auch, wenn Peter wahrscheinlich einiges verschlafen wird. Hoffentlich. Sonst kann Linde nämlich das Feiern vergessen, weil sie dauernd hinter dem Wirbel herrennen muss. Die beiden Großen werden Blumen auf den Weg streuen, wenn Hannes und ich von der Kirche zum Dorfplatz laufen werden.
Noch drei Tage quälen wir uns durch die schwüle Hitze, doch dann ist die Sommerernte geschafft und alles unter Dach und Fach. Pünktlich wie die Maurer öffnen sich noch an diesem Nachmittag alle Schleusen des Himmels und waschen die staubige Luft rein. Alle atmen auf. Nun bleibt nur zu hoffen, dass kein Blitz irgendwo einschlägt, und dass das Wetter hinterher nicht auf Herbstwetter wechselt sondern uns noch zwei Wochen Sommer gönnt für die Hochzeit.
Als am Freitag die Sonne wieder vom klaren Himmel lacht, spannt Klaas den Elias vom Drebber an und fährt bei mir vor.
„So, liebe Anna. Un jetzt schaff ik dich fort, du bist uns hier jetzt im Wege!"
Verblüfft schaue ich zu ihm hoch auf den Kutschbock.
„Wie bitte?"
„Pack'n. Einsteig'n. Uns in Ruhe plan'n lass'n. Du. Jetzt."
Klaas grinst über beide Backen. Ich muss nun auch lachen, schicke Jakob zu Linde, räume ganz schnell drinnen ein bisschen auf, packe das Nötigste zusammen und hebe Susanna und Peter hinauf zu Klaas. Da kommen auch schon Jakob und Linde herbei. Klaas bindet sich das Peterle mit einem Tuch so vor den Bauch, dass der zwar zappeln und strampeln und sehr gut kucken kann, aber nicht davonflitzen. Linde setzt sich daneben, falls sie übernehmen muss. Jakob und Susanna setzte ich nach hinten zu mir, und schon geht es los.
Drei gemütliche Schaukelstunden später sind wir in Gieboldehusen. Klaas fährt uns gleich in den Wirtschaftshof, wo ein erschrockener Konrad schnell die Wagenremise schließt und Klaas böse ankuckt. Ich gehe mit Linde und den Kindern ins Haus. Wir begrüßen Frau Jansen und Hannes. Linde geht mit den Kindern nach oben, um uns einzurichten. Ich dagegen schnappe mir Klaas, schicke ihn einmal in die Waschküche, damit er sich den Ernte- und Reisestaub abwäscht und einen schlichten Anzug von Hannes anzieht. Er quält sich noch mit einem Kamm durch seine nun nassen Haare.
Da muss dringend eine Schere ran. Aber das kann vielleicht Hannes Kammerdiener machen. So sieht er ja gar nichts!
Anschließend fahre ich mit ihm zur Schneiderin, denn er muss ja nun noch sein Gewand bekommen. Er dreht verlegen seine Kappe zwischen den Händen, als wir die Schneiderei betreten und er die nähenden Mädchen sieht. Aber Frau Bünte schickt ihn gleich mit seinem Gewand in das Hinterzimmer, wo er sich umzieht. Als er ruft, geht sie hinein und hilft ihm bei den letzten Handgriffen, die er nicht allein hinbekommt. Dann tritt er noch vorne in den Laden und schaut mich fragend an. Ich muss so lachen.
„Ach, Klaas, das ist doch wunderbar. Nicht zu edel, keine Rüschen, kein Brimborium. Aber jeder kann sehen, dass du in feines Tuch gewandet und durchaus einer Hochzeit würdig bist. Viel wichtiger finde ich die Frage: Fühlst du dich wohl darinnen, kannst du dich gut bewegen? Oder fühlt es sich für dich an wie eine enge Wurstpelle?"
Frau Bünte zuckt zusammen, aber dann lächelt sie.
„Der Herr Rand hatte gebeten, dass er sich gut bewegen kann, damit er sich nicht ganz so seltsam fühlt."
Klaas nickt gleich.
„Ja, und das ist auch wunderbar gelungen, Frau Bünte. Herzlichen Dank. Ich habe mich noch nie so ... naja, sooo gefühlt."
Klaas geht wieder nach hinten, um sich umzuziehen, dann bekommen wir das Gewand verpackt und bringen es schonmal ins Schloss. Denn bei dem Fest in Lütgenhusen wird Klaas natürlich seine festliche Dorftracht tragen. Er setzt mich nur mit dem Paket vorm Schloss ab und wendet dann den Karren.
„Ich fahr wieder nach Haus. Wann wirst du mit deinem Vater kommen?"
„Mittwoch, denke ich."
„Gut, dann wird alles bereit sein."
Und schon ist er über die Allee davongezuckelt.
Ich höre die Kinder vergnügt im Park quietschen. Linde und Lina sind wohl mit den dreien rausgegangen. Ich wende mich zum Schloss und suche Hannes. Vielleicht haben wir ja einen Moment für uns. Er hatte wohl denselben Gedanken, denn er kommt mir schon in der Halle entgegen.
„Na? Hat Klaas sehr unglücklich gekuckt?"
„Ach, es ging. Frau Bünte hat das wunderbar gemacht. Er kann sich gut darin bewegen und fühlt sich nicht wie ein behängter Maibaum. Das wird schon."
„Wann wird Vater hier eintreffen?"
„Vermutlich morgen. Komm, ich will dir was zeigen."
Er reicht mir seinen Arm, wir verlassen das Schloss und spazieren die Allee entlang. So unbeobachtet hält Hannes mich ganz kurz auf und stiehlt mir einen kleinen Kuss.
„Als Vorgeschmack."
Dann gehen wir weiter bis zur Schlossmauer. kurz davor biegen wir nach links ab. Und hinter einer Hecke kommen neun kleine Häuser zum Vorschein.
Hier wird fleißig gewerkelt. Ich erkenne Hannes drei „Heilige" aus Duderstadt und die Landsknechte aus Salzderhelden. Caspars Frau sitzt vor der Tür des dritten Häuschens, neben sich ein schlafendes Kleinkind in einem Körbchen, und schält Pastinaken. Dieses Haus ist bereits fertig repariert und geweißt und strahlt in der Sonne. Die sechs Männer arbeiten grade am Dach des ersten Hauses. Ich sehe kleine Fenster und hölzerne Fensterläden in einem offenen Schuppen lagern. Und daneben liegt genug Reed, um das zweite Haus auch noch zu decken.
Hannes spricht mit den Männern und vergewissert sich, dass sie sich fest an den Leinen halten, damit niemand abstürzt. Ich hingegen setze mich auf die Schwelle neben Caspars Frau Grete.
„Herzlich willkomm'n, Frau Gräfin. Wie schön, dat wir hier Besuch bekomm'n."
„Ach, lasst doch die Gräfin weg. Noch bin ich Frau Adam."
Wir lächeln uns an.
„Kann ich bei etwas helfen? Ich sitze so ungerne untätig herum."
„Nein danke. Ik bin gliek fertig hiermit. Aber wenn Ihr mögt, könnt Ihr Euch im Häusch'n umseh'n. Wir sin alle ganz glücklich, dat der Herr uns diese Häuser zur Verfügung gestellt hat. Ik war mir ja erst nicht seker mittem Umzug in ein anderes Land zu fremder Herrschaft. Aber Caspar hat nich übertrieb'n. Hier wird es uns wirklich gut geh'n."
Ich bedanke mich, stehe auf und betrete das kleine Haus. Es ist immerhin so groß, wie meine Kate es war, und es ist kein Stall außer einem kleinen Hühnerverschlag mit drinnen. Darum ist Platz für einen richtigen Herd und eine geschlossene Kammer an der Rückwand dazu. Ich freue mich über alles, was ich sehe. Dann setze ich mich wieder zu Grete nach draußen.
„Ihr habt es Euch wirklich gemütlich gemacht, Grete. Aber werden diese Häuser keinen Platz für Kleinvieh haben?"
Sie zeigt etwas weiter die Reihe entlang.
„Es sind insgesamt acht Kat'n, un zwisch'n dem vierten un fünften Huus is een größerer Stall, der für das gemeinsame Kleinvieh un als Werkstatt dien'n kann. Wenn hier alles bewohnt is un jede Familie een Schaf oder eene Ziege hat, dann muss zur Lammzeit nich jeder Huusvadder Wache halt'n. Dann reicht eener, der mit im Stall schläft un den benachrichtigt, dess'n Tier in Weh'n liegt. Un auch dat Werkzeug braucht man ja nich achtmal."
„Das ist wirklich klug durchdacht. Habt Ihr Euch schon gut reingefunden in der Stadt?"
Sie nickt zufrieden, legt die letzte geschälte Pastinake in die Schüssel auf ihrem Schoss und geht hinein.
„Soll die kleine Hannah noch ein wenig in der Sonne schlafen, oder soll sie mit rein?"
„Sie kann noch drauß'n bleib'n. Wir hab'n zum Glück hier außerhalb der Stadt auf'm Schlossgelände nich so viele Ratt'n."
Also machen wir beiden Frauen uns daran, aus den Pastinaken eine kräftige Mahlzeit für die arbeitenden Männer zu kochen. Wir unterhalten uns dabei über alles Mögliche.
„Fällt es Euch schwer, dass Ihr hier nun keinen katholischen Gottesdienst habt?"
Sie nickt leise.
„Aber wir werd'n uns dran gewöhn'n. Ik bin ganz ehrlich. Ik hab lieber eenen voll'n Bauch, een festes Dach überm Kopp, eenen zufrieden'n Mann un eenen evangelisch'n Gott als Hunger, Angst vor Morg'n un eene geweihte Hostie inner Schnüss, von der ik nich satt werd. Ik kann nich gloob'n, dat unser Gott von mir verlangt, dat ik meene Kinners hungern lass, wenns doch auch anners geit."
„Ich bin wirklich froh, das zu hören. Ich denke genauso. Unser Pfarrer hier, so sagte mir der Herr, war vorher Mönch. Und auch unser Luther war doch katholischer Mönch. Er wollte nur, dass wir das wahrhaftige Wort Christi erfahren. Die Kirche spalten wollte er nie."
Als der Eintopf fast fertig ist, fängt Hannah in ihrem Korb an zu strampeln und zu quäken. Also übernehme ich das Rühren, und Grete kann sich um ihr Kind kümmern. Anschließend spazieren Hannes und ich auf verschlungenen Wegen durch den Park zurück zum Schloss.
glückliches Wiedersehen
Sa. 7.9. a.d. 1571
Am nächsten Mittag kommt mein Vater in Gieboldehusen an. Wir begrüßen uns mit einer herzlichen Umarmung, als Barkhausen ihn in die Eingangshalle führt. Die Kinder haben beim Mittagessen gehört, dass der Großvater bald kommt, und haben oben am Treppengeländer gelauert. Nun kommt Jakob mit Schwung das Treppengeländer heruntergerutscht. Susanna flitzt die Stufen hinterher. Und das Peterchen meckert empört, weil Linde es festhält. Ich lasse Vater los, und schon kurz darauf hängen die beiden Großen an seinen Beinen. Er bückt sich, streicht ihnen über den Kopf und lächelt. Das Glück in seinen Augen zu sehen, ist ein Geschenk des Himmels.
Wir bleiben ein paar Tage in Gieboldehusen und genießen die gemeinsame Zeit, bis Vater sich von der weiten Reise erholt hat. Hannes, Frau Jansen, Herr Barkhausen und ich nutzen die Zeit, um weitere Notwendigkeiten für unser großes Fest zu besprechen und entsprechende Anordnungen zu treffen. Frau Bünte hat in der Zwischenzeit aus den Stoffen und der Spitze, die ich mit Clara in Salzderhelden gekauft hatte, noch mehrere Gewänder für mich geschneidert. Und sie zeigt mir das weiße Spitzengewand, das sie für mein Hochzeitsfest hier genäht hat. Ich probiere es an und kann nun den Tag kaum noch erwarten.
Die Bürger der Stadt sind vor einigen Tagen benachrichtig worden, dass nach Michaelis die Schule öffnen wird und jeder seine Kinder dort zum Lernen hinschicken kann. Die Älteren erinnern sich an Frau von Lenthe oder waren sogar selbst dort Schüler, und so können die Brüder Weise nun berichten, dass inzwischen einunddreißig Kinder zwischen 6 und 12 Jahren zur Schule angemeldet wurden. Sie haben angefangen, diese Kinder einzeln zu testen, damit sie zwei Klassen einteilen können nach Lernstand. Also melde ich nun auch Linde zur Schule an. Sie ist erst ein bisschen unsicher, als Wilhelm Weise versucht herauszufinden, ob und was sie schon kann. Es ist ihr peinlich. Aber Herr Weise beruhigt sie gleich wieder.
„Linde, du musst dich überhaupt nicht schämen. Die allermeisten Dorfkinder lernen nie Lesen und Schreiben. Du hast jetzt die Möglichkeit. Du machst das doch, weil du es noch nicht kannst. Da werden noch mehr größere Kinder sitzen, die das nicht können, denn es hat hier jetzt sieben Jahre lang gar keine Schule gegeben. Und es gibt noch ein Mädchen, die Ursula, aus dem Christophorushaus. Die ist sogar noch ein bisschen älter als du. Ihr werdet gut miteinander lernen können."
Am Dienstag wird ein großer Karren beladen mit Bettwäsche, Decken, Hausrat und Geschirr für mein umgebautes Haus. Truhen voller irdener Gefäße, große Töpfe, aber auch Annehmlichkeiten wie Kissen und Vorhänge machen sich auf den Weg nach Lütgenhusen. Hintenan wird der Ochse gebunden, der am Samstag am Spieß braten wird, ein weiterer Wagen wird mit allerlei Zutaten für das Dorffest beladen, und dann zieht die ganze Kolonne los.
Mi 11.9. a.d. 1571
Am Mittwoch dann verabschiede ich mich zum letzten Mal von Hannes als Anna Adam. Er nimmt mich im Park noch einmal in die Arme.
„Noch drei Tage, dann bekommst du mal wieder einen neuen Namen, Anna. Meinen Namen. Ich könnte nicht stolzer und glücklicher sein, dass du mir dein Herz schenken willst. Bereits geschenkt hast. Leb wohl bis übermorgen, mein Herz!"
Er gibt mir einen sanften Kuss, führt mich zu Vaters Kutsche, wo auch die Kinder und Linde schon darinnen sitzen, und hilft mir beim Einsteigen.
Die Kinder sind während der ganzen Fahrt sehr aufgeregt, denn Vater schaut mit ihnen aus den Fenstern und lässt sich alles zeigen und erklären, was die Kinder nun inzwischen schon gut kennen, weil wir so oft hin und hergefahren sind. Er lacht herzlich mit ihnen über den Namen vom Großen Butterloch, begrüßt mit uns in Rhumaspring kurz Bauer Freese und seine Frau und verdreht sich den Nacken, um als erster die Mühle von Lütgenhusen zu erspähen. Jakob ist natürlich doch schneller, da er einfach weiß, wonach er Ausschau halten muss. Aber sein Jubel entlockt Vater nur ein glücklich-verschmitztes Schmunzeln.
Als wir aus dem Wald heraus ins Dorf rollen, räumen die Dachdecker grade ihr Werkzeug, die Sicherheitsleinen und den Rest vom Reed beiseite und decken es sorgfältig mit einer gewachsten Plane ab. Vom Geräusch der Kutschräder angelockt, kommen Irmel, Birgitta und Gunda aus meinem neuen Haus heraus und begrüßen die Kinder, die ihnen gradewegs in die Arme hüpfen. Ich steige auch geschwind aus und helfe dann meinem Vater. Meine drei Nachbarinnen machen einen Knicks vor Vater. Birgitta Crüger begrüßt ihn.
„Seid willkommen, verehrter Herr von Brabeck. Wir sind stolz und glücklich, dass unsere Anna ihren Vater gefunden hat und nun mit Euch an ihrer Seite hier heiraten wird. Das Haus ist bereitet, tretet ein und fühlt Euch wohl."
Vater nickt ihr freundlich zu und folgt ihr ins Haus, das auch ich nun zum ersten Mal fertig und eingerichtet sehe. Wir treten durch einen Windfang, der im Winter die Wärme im Haus halten wird, in die große Diele. Naja, das WAR mal meine ganze Kate. Jetzt ist es ein großer, heller Raum mit dem neuen Herd an der Wand und den zwei einladenden Tischen mit Bänken und Stühlen in der Mitte. Fenster spenden Licht. In Regalen ist der Hausrat untergebracht, und ein bequemer Sessel steht in der Nähe vom Herd. Eine Tür führt nun direkt in meinen kleinen Kräutergarten, den Irmel in der Zwischenzeit tüchtig gepflegt hat.
Ein Durchgang führt in eine schmale Diehle mit einigen Türen. Am Anfang und am Ende sind zwei Stiegen hinauf aufs Dach, zwischen den Räumen sind noch zwei Kamine, und die Zimmer sind so geschickt angeordnet, dass der Herd und die Kamine jeweils zwei Stuben mit ihrer Rückseite wärmen können. Auch hier führt noch einmal eine Tür ins Freie, und dort kann man erkennen, wo im nächsten Jahr ein Stall und eine Wagenremise gebaut werden sollen. Jakob rennt gleich die eine Stiege hinauf und brüllt von oben runter.
„Mutter, hier sind ... vier Zimmerchen. Wer soll hier wohnen?"
Der Kammerdiener meines Vaters steigt die Stiege ebenfalls hinauf, und wir hören ihn Jakob antworten.
"Eines dieser Zimmerchen ist für mich. Und wenn ihr später als ganze Familie auch mit Dienern hierher kommen werdet oder einen Koch mitbringt oder einen Kutscher, dann sind diese Zimmer dafür da, dass wir Bediensteten alle hier oben schlafen können. Eure Zimmer sind unten, damit ihr immer ganz schnell nach draußen zu euren Freunden sausen könnt."
Das war das richtige Stichwort. Wie der Blitz kommt Jakob runter und rast aus dem Haus, direkt zum Pfarrhaus zu Cristoph, der schon auf ihn wartet. Während sein Kammerdiener für Vater eines der Zimmer unten einrichtet und sich dann von Irmel alles zeigen lässt, nimmt Linde das Peterchen und geht zu ihren Eltern nach Hause, Susanna flitzt hinter Jakob her, um mit Evchen zu spielen. Und ich mache mit Vater an meiner Seite einen Spaziergang durchs Dorf. Ich zeige ihm, wo ich gelebt habe und wer die Menschen sind, die mir jahrelang die Welt bedeutet haben.
Wir lassen uns Zeit und klopfen auch bei der Lene an. Sie freut sich sehr, meinen Vater kennenzulernen. Sie bietet uns einen Kräutertee an und zeigt Vater dann ihre Bienen hinter dem Haus. Klaas grüßen wir im Vorbeigehen, der ist grade mit Rudolph am Dreschen. Am Pfarrhauss werden wir hineingebeten, und Vater unterhält sich bei einem Glas Wein eine ganze Weile mit Pastor Crüger und seinem Bruder Siegurd. Der hat zwar nun all seine Handwerker nach Hause geschickt, er selbst bleibt aber selbstverständlich noch bis zur Hochzeit, bevor er nach Duderstadt zurückkehrt.
Wir schlendern an der Kirche vorbei, vor der schon große Bögen aufgestellt sind. Die werden am Samstag früh mit Blumen umwunden werden für unseren Ein- und Auszug bei der Trauung. Auch am Haus des Vogtes werden wir hinein gebeten. Alle im Dorf haben sich abgesprochen, wann in diesen Tagen wir wo zum Essen eingeladen werden, damit ich nicht kochen muss. Und den Anfang macht natürlich der Haushalt vom Drebber. Wir werden in die gute Stube geführt, wo wir gemeinsam mit den Drebbers ein leckeres Mahl gereicht bekommen.
Es dauert eine Weile, bis wir die Runde durchs Dorf beschließen können und schließlich beim blinden Jasper landen.
„Schau, Vater. So wie diese Kate war auch die meine. So habe ich sieben Jahre lang gelebt."
Jasper bittet uns herein, und so kann ich Vater zeigen, wie so eine kleine Bauernkate von innen aussieht. Auf einmal wird Vater ganz still.
„Was ist, Vater?"
„Wenn ich mir vorstelle, dass mein Kind so leben musste. ... Verzeiht, Jasper, ich wollte Euch nicht kränken. Aber wir hohen Herrschaften sind wohl manchmal ein bisschen zu hoch, um zu begreifen, wie gut es uns geht. So leben die Menschen, die unser täglich Brot hart erarbeiten, damit es uns gut geht. Aber erfrieren tun nicht wir im Winter. Sondern Menschen wie Ihr, Jasper, die von unserer Gnade abhängig sind. Was ich hier heute in diesem Dorf gesehen habe, mit meiner strahlenden Anna dazwischen, dass habe ich mein ganzes Leben lang um mich, und habe es doch nie begriffen. Wie kommen wir dazu zu sagen, alle Bauern seien dreckig und dumm? ... Ich schäme mich."
„Schämt Euch nicht, hoher Herr. Ihr seid in dieses Leben hineingeboren genauso, wie ich in meines. Ich bin in meinem ganzen Leben nicht aus diesem Dorf hinausgekommen, ich weiß also nicht, was mir entgeht. Mit geht es gut hier, denn ich lebe in einer Gemeinschaft. Und wenn der Herrgott mich eines Tages zu sich ruft, werde ich auf ein erfülltes Leben zurückblicken. Was brauche ich mehr?"
Und schon sind die beiden Männer in ein langes Gespräch über das Leben vertieft. Ich lausche still und freue mich, denn so wie ich immer Geborgenheit und einen weisen Rat von Jasper bekommen habe, so scheint auch Vater ganz aufzugehen in seiner Gegenwart und wieder besser gestimmt zu sein.
Es ist schon Abendbrotzeit, als wir endlich wieder bei meiner ... meinem Haus ankommen. Linde kommt mit allen drei Kindern herbei, wir richten gemeinsam ein einfaches Abendbrot, so wie wir es früher immer gehalten haben. Und Vater genießt es, einfach mittun und mitessen zu können. Der Kutscher und der Kammerdiener sitzen auf den Bänken am einfachen Tisch, wir sitzen mit Linde und den Kindern auf den Stühlen, Linde und ich warten allen auf, und so lernt Vater einmal den Unterschied zwischen „der Graf empfängt Gäste" und „die Gemeinschaft sitzt zu Tisch" kennen. Ich bin berührt und glücklich, dass er es genießen und annehmen kann. Er dankt mit uns für das Brot und langt mit Genuss zu bei den einfachen Speisen. Bald nach den Kindern gehen wir in unsre Betten. Und natürlich nehme ich nun wieder meine Kinder zu mir in mein extra großes Bett.
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20.2.2022
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