52 - Vorbereitungen
SO. 29.4. a.d. 1571
Sonntag Morgen singe ich mit meinen Kindern fröhlich in den neuen Tag. Ich habe unruhig geschlafen. Aber die Aussicht, mich jetzt in die Gnade Gottes fallen zu lassen, wenn wir gemeinsam mit dem ganzen Dorf in die Kirche gehen, macht mich endlich etwas ruhiger. Wenn ich nur geduldig warte, wird ER mir schon zeigen, welchen Weg ich gehen soll. Pastor Crüger hat schon recht. Mit Gottvertrauen bin ich bisher immer am weitesten gekommen.
Das Peterchen wird immer flinker, und so habe ich auf dem Weg zur Kirche das Vergnügen, dass der groooooße Jakob und die groooße Susanna ihren kleinen Bruder Peter an den beiden kleinen Händen nehmen und gemeinsam mit ihm die Dorfstraße entlang wackeln, damit er nicht in die nächste Pfütze flitzt. Linde kommt uns ein Stück entgegen und lacht herzlich bei dem Anblick dieser drei kleinen Engel.
„Linde, wir schön, dass du schon kommst. Wir können zusammen sitzen, dann gewöhnen sich die Kinder schnell an dich."
Sie geht gleich neben den Kindern her und beobachtet sie.
Die Kirche ist schon gut gefüllt, als wir eintreffen. Wir setzen uns gemeinsam in eine Bank und nehmen die Kinder in die Mitte. Susanna kuschelt sich wie so oft auf meinen Schoss, Jakob sitzt sehr grade und versucht, würdevoll zu kucken. Und Peter hopst auf Lindes Schoß auf und ab, weil er sich langweilt. Dankbar richte ich meine Aufmerksamkeit nach vorne und lausche unserem Pastor. Wie ich es erwartet habe, bringen mich die Gemeinschaft vor Gott, die Gesänge und Gebete innerlich zur Ruhe. Ich kann endlich wieder gelassen auf mich zukommen lassen, was alles in meiner unbekannten Zukunft auf mich wartet.
Als der Gottesdienst vorbei ist, verabrede ich mit Linde, dass sie am Nachmittag zu mir in die Adamskate kommt, sobald Jakob sie abholen kommt. Aber nach dem Mittagessen machen ich mit den Kindern erstmal bei sonnigem Wetter einen schönen Spaziergang in den Wald. Mir ist das gar nicht bewusst, aber intuitiv laufe ich um den Mühlenhügel herum und dort in den Wald, wo Hannes und ich gestern zu dem Findling spaziert sind.
Kaum sind wir dort, will Peter unbedingt auf den Felsen klettern, obwohl er da noch gar nicht ranreicht. Also hebe ich ihn nach oben und halte ihn an der Hüfte fest, damit er nicht gleich wieder hinunterpurzelt. Mit Vergnügen pult er das Moos aus den feuchten Ritzen im Fels, schmeißt quietschend die letzten welken Blätter vom vergangenen Herbst in die Luft und lacht sich schief, als ihm eines davon direkt auf den Kopf segelt.
Während ich das Peterchen umziehe, flitzt Jakob zu Jorge und holt die Linde ab. Sie hockt sich zu Peter auf den Boden und versteckt vor ihm kleine Hölzer und Steinchen. Er juchzt vor Freude, wenn er dann die Dinge hinter ihrem Rücken wiederfindet.
Nebenbei erzähle ich ihr ganz viel von Gieboldehusen, von den Bediensteten dort, bespreche mit ihr, was sie einpacken sollte. Etwas eingeschüchtert sitzt sie da.
„Was soll ik denn bloß anzieh'n? Ik hab doch gar nischt!"
„Mach dir keine Sorgen, Linde. Du ziehst Dein Sonntagskleid an, nimmst noch eine andere Schürze mit und alles, was du für dich persönlich brauchst. Und Du kannst sicher sein, dass die Hausdame Almuth Jansen dir wohlwollend alles zeigen und erklären und dir geben wird, was du brauchst. Du wirst vor allem bei den Kindern sein, denn eigentlich brauche ich keine Zofe. Ganz im Gegenteil. Ich werde darum bitten, dass du mit den Kindern bei mir schläfst, denn das sind wir ja alle so gewohnt. Und dann helfen wir uns morgens gegenseitig."
„Wie kiekt es denn da aus? Ach, ik bin so aufgeregt! Ik will dich doch nich blamier'n, Anna. Un wie ik schnack. Die Dienstbot'n schnacken bestimmt alle ganz fein."
„Nochmal: mach dir keine Sorgen. Frau Jansen mag mich, sie weiß, dass du das nicht gewohnt bist. Vielleicht kannst du tagsüber auch mal zum Waisenhaus spazieren. Da haben dann meine Drei ganz viele andere Kinder zum Spielen. Und das Schloss selbst ist nicht sooo groß, dass man sich darin verlaufen muss. Es gibt eine Treppe vom Dienstbotentrakt im Keller bis rauf, wo die Privatgemächer und Gästezimmer sind. Wenn ich das richtig mitbekommen habe, gibt es extra Räume für die Kinder."
Und wenn du deine Sache gut machst, habe ich dich nicht zum letzten Mal mitgenommen. Wer weiß – vielleicht möchtest du ja bei mir bleiben, falls ich doch noch in die weite Welt ausfliege ...
Ich erschrecke fast über mich selbst, ist mir dieser Gedanke doch immer noch so fremd. Aber zumindest möchte ich gerne meinen Vater kennen lernen. Von seiner Reaktion hängt dann ab, wie es für mich weiter geht. An Hannes wage ich noch immer nicht zu denken.
Je weiter der Nachmittag voranschreitet, desto besser ist zu sehen, dass Linde wirklich sehr gut mit den Kindern zurecht kommt. Die Kleinen mögen sie, gehorchen ihr und vertrauen ihr. Sie singt ganz viel mit ihnen und macht ein paar fröhliche Fingerspiele. Sie hilft mir, Peter zu wickeln, Susannas kleine Zöpfchen zu flechten. Sie lässt sich von Jakob einige Buchstaben erklären und ihren Namen schreiben. Linde kann wie die meisten Kinder auf den Dörfern nicht lesen und schreiben, bewundert Jakob darum gebührend und lauscht seinen Geschichten von A's und O's. Sie isst noch mit uns zu Abend, bevor sie nach Hause geht.
„Schlaf gut, Linde. Ich freue mich, dass du mitkommst. Du machst das sehr gut. Bis morgen Vormittag!"
Die Kinder sind nun sehr aufgeregt und kribbelig. Ich muss ihnen ganz viel vom Schloss erzählen, bis sie schließlich doch müde werden. Nach dem Nachtgebet fallen dann endlich allen Dreien die Augen zu. Eine Weile bleibe ich bei ihnen sitzen und lausche ihrem gleichmäßigen Atem.
Kurz, bevor ich auf meinem Hocker einschlafe, raffe ich mich auf, steige mit meiner Lampe und dem Bündel an Briefen auf den Dachboden und hocke mich auf Hannes Pritsche. Unschlüssig starre ich die Briefe in meiner Hand an. Der grüne Stein in dem Ring an meinem Finger blitzt auf im Schein der flackernden Flamme. Ich drehe die Briefe hin und her.
Darf ich das überhaupt lesen? Was sich meine Eltern da vor über zwanzig Jahren geschrieben haben? Das war jedenfalls ursprünglich nicht für meine Augen gedacht ... Aber ich könnte etwas lernen über meine Mutter, über meinen Vater. Über ... mich?
Ich löse das Band von den Briefen und blättere durch den kleinen Stapel. Ich kann zwei verschiedene Schriften erkennen, die eine davon ist die weiche, geschwungene Schrift der Freifrau v... - die meiner Mutter. Die anderen Briefe mit der markanten, viel eckigeren Schrift müssen dann also von meinem Vater sein.
Wieder betrachte ich lange das kleine Bildnis. Im Dämmerlicht der kleinen Lampe wirken seine Augen fast so, als seinen sie lebendig und würden mir folgen, egal, wie ich das Bild halte. Ein Zauber geht von diesem Blick aus, den ich nicht deuten kann. Als letztes kommt schließlich noch die Heiratsurkunde zum Vorschein. Ich drücke sie an mich wie einen Schatz. Wieder starre ich die Briefe an. Dann fälle ich einen Entschluss, lege das Band wieder um diese kleinen Liebesbeweise und binde die Schleife. Sorgfältig tue ich alles wieder ins Kästchen, schließe es ab und gehe endlich auch ins Bett.
Ich denke, ich werde meinen Vater fragen, ob ich diese Briefe lesen darf. Sie gehören ihm und seiner großen Liebe, da will ich nicht eindringen ohne seine Erlaubnis.
Noch lange kreisen meine Gedanken und lassen mich nicht einschlafen. Mir fällt auf, dass ich noch überhaupt nicht nachgesehen habe, was oder genauer wieviel Geld in dem Beutel ist. Aber ich spüre auch, dass es mich eigentlich nicht interessiert. Klaas hat recht – ich kann einfach zur nächsten Schneiderin gehen, kann mich und die Kinder so fein einkleiden lassen, wie ich will. Aber auch wenn ich gejammert habe – es interessiert mich nicht wirklich. Ein dichtes Dach, ein warmes Herdfeuer, ein voller Magen, glückliche Kinder, freundliche Nachbarn, Gottvertrauen für den nächsten Tag. Das ist es, was in Wahrheit für mich zählt. Beruhigt gleite ich in tiefen Schlaf.
aufregende Fahrt
MO. 30.4. a.d. 1571
Nun ist es Montag früh morgens. Und natürlich haben meine Kinder mich vor lauter Aufregung noch früher geweckt als der Hahn von Irmel nebenan. Da es sicher noch Stunden dauern wird, bis die Kutsche hier eintrifft, beschließe ich, die Kinder zu baden, damit sie möglichst sauber und ordentlich im Schloss erscheinen. Ich laufe dreimal zum Brunnen und zurück, damit ich genug Wasser habe. Ich setze den Wasserkessel auf und koche mehrere Fuhren Wasser für den Badezuber. Nach dem gemeinsamen Frühstück setze ich dann nacheinander alle drei Kinder ins warme Wasser und schrubbe ihnen die Hände, die Füße, den Hals und die Ohren.
Es ist immer wieder erstaunlich, wie viel Dreck auf so wenig Kind passt.
Nach dem Baden hocken wir uns in warme Decken gewickelt auf die Pritsche, die Kinder nur in Wäsche, und ich erzähle ihnen Märchen. So kann ich sie stille halten, und sie sauen nicht gleich die guten Kleider ein. Trotzdem sind alle drei kribbelig, und nach einer Weile stecken sie auch mich damit an. Also verlege ich mich aufs Singen, das lieben die Kinder immer. Susannas zarte und Jakobs klare Stimme fallen bald in das Lied mit ein. Und Peter quietscht einfach vergnügt dazwischen.
Die beiden Großen passen gut auf Peter auf, damit er nicht von der Pritsche rollt, während ich mir dann mein schönes Gewand aus Duderstadt anziehe. Danach ziehe ich auch die Kinder fein an.
Und endlich, endlich höre ich das Geräusch einer Kutsche vor der Kate. Kurz darauf klopft es an meiner Türe, und Konrad steckt den Kopf herein.
„Guten Tag, Frau Adam. Seid Ihr bereit? Ich habe Euch etwas mitgebracht. Von Frau Jansen."
Er überreicht mir ein Bündel.
„Willkommen, Konrad. Ja, wir sind soweit bereit."
Ich wende mich an meinen Großen.
„Jakob, lauf und hol die Linde, sag ihr, es soll losgehen."
Gleich flitzt der kleine Mann los.
Hoffentlich stolpert er in seiner Aufregung nicht. Sonst ist er gleich wieder schmutzig.
Ich öffne das Bündel und staune. Sehr umsichtig hat die Hausdame für Linde, für die Kinder und für mich ein paar feinere Kleidungsstücke eingepackt, in denen wir uns wohlfühlen können. Ich selbst werde bei meinem Kleid bleiben, aber die staunenden Kinder ziehe ich nun doch noch einmal um. Und Linde kann sich gar nicht genug freuen über das Gewand aus feinem Leinen, den gefältelten Kragen, die geschwungene Haube und die Lederschuhe, die sogar tatsächlich passen. Wir richten uns noch gegenseitig die Haare, setzen die Hauben auf, ich gebe den Kindern noch einmal was zu essen. Und dann steigen wir gemeinsam in die Kutsche.
Auf einmal kommen aus allen Löchern die Dörfler gekrochen. Meine Kinder fangen an zu winken, und all ihre Freunde winken zurück. Konrad sitzt auf dem Kutschbock und pfeift ein fröhliches Lied, während zwei Berittene sich neben der Kutsche halten. Ich meine auch, sie zu kennen als die Landsknechte, die Karl von Pagenstecher bei seiner Suche nach Hannes begleitet hatten.
Auf dem Schoß habe ich die Schatulle, die mir Hannes vorgestern gebracht hat. Am Finger habe ich den Ring von meiner Mutter. Und im Herzen habe ich so viel Vorfreude, dass ich fast fürchte, es könnte gleich platzen vor Glück.
Am Anfang der Fahrt staunt Linde genauso wie die Kinder. Auch sie ist noch nie in ihrem Leben weiter aus dem Dorf heraus gekommen als bis auf die Felder oder an die Rhuma. Und die Kinder kennen die Landschaft ja nur tief verschneit. Darum gibt es für alle vier unendlich viel zu kucken. Linde zieht sich das Peterchen auf den Schoß und zeigt ihm das Vieh auf den Weiden, manchen Vogel oder mal einen lustig geformten Felsen am Wegesrand.
Nach eineinhalb Stunden rollen wir hinein nach Rhumaspring und halten beim Bauern Freese. Die beiden Großen hüpfen von der Kutsche, Konrad steigt ab und hilft Linde und mir mit Peter galant beim Aussteigen. Linde wird ganz rot, weil sie sowas noch nie erlebt hat. Wir bekommen von den Freeses eine herzliche Umarmung und eine kleine Erfrischung, während die Kinder ein bisschen flitzen können nach der langen Fahrt.
Ehe Linde und ich es verhindern können, wackelt Peter zielstrebig auf den großen Pferdetrog im Hof zu. Nur einem beherzten Sprung von Konrad ist es zu verdanken, dass er ihn rechtzeitig einholen und zurückbringen kann, bevor der Ausreißer schon wieder in das nächste Wasser plumpst.
„Eiei, Frau Adam. Wo wollte der kleine Mann denn hin?"
Ich seufze.
„Ins Wasser. Immer ins Wasser. Dieses Kind hat wahrscheinlich Schwimmflossen zwischen den Fingern wie ein Frosch. Anders kann ich mir nicht erklären, warum er immer, wirklich immer sofort herausfindet, wo das nächste für ihn erreichbare Wasser ist."
„Na, sowas! Da werden sich die Enten im Schlossteich wohl in Sicherheit bringen müssen!"
Konrad reicht mir das Peterle und zwinkert dann Linde zu. Die läuft sofort wieder rot an und schaut erschrocken zu Boden.
Ich werde Hannes sagen müssen, dass Konrad ihr bitte nicht so schöntun soll. Das arme Mädchen fällt mir sonst noch in Ohnmacht.
Ich sehe Konrad an und schüttele leise meinen Kopf. Nun wird er ein bisschen rot und verzieht sich wieder auf seinen Kutschbock.
Vielleicht hat das ja schon gereicht.
Kurz darauf steigen wir wieder ein und fahren weiter in Richtung Gieboldehusen. Als wir durchs Große Butterloch rollen, erklärt Jakob der Linde ganz aufgeregt den komischen Namen dieses Wäldchens. Und wieder haben die Großen Spaß daran, sich noch andere verrückte Namen einfallen zu lassen. Ich lasse die drei fröhlich herumspinnen und nehme derweil den müden Peter in den Arm, bis er endlich eingeschlafen ist.
Kaum sind wir aus dem Wäldchen heraus, ist am Horizont der hohe Kirchturm von Gieboldehusen zu sehen. Die Kinder plappern fröhlich weiter, aber Linde verstummt. Je näher wir der Stadt kommen, desto kleiner wird sie neben mir.
„Anna?"
„Ja, Linde?"
„Glaubst du, ich kann das? Die Stadt sieht so groß aus! Ich spreche wie eine vom Dorf. Ich sehe aus wie eine vom Dorf. Ich kann nicht lesen und schreiben so wie du. Sie werden mich alle auslachen, sobald ich was falsch mache."
Schnell nehme ich das junge Mädchen in die Arme.
„Ach, Linde! Mach dir keine Sorgen. Schau, Frau Jansen hat uns extra Sachen geschickt, damit wir uns nicht klein und arm vorkommen. Sie hat uns damit ein erstes Willkommen zugerufen. Du schaffst das. Und du bist doch nicht alleine. Hannes kennst du auch. Und ich bin da."
Stumm nickt das Mädchen neben mir, reibt sich nervös die Hände.
Als wir durch das große Stadttor rollen und uns durch die Straßen der Stadt zum Schloss wenden, ist ihre Angst jedoch vergessen. Mit großen, kullerrunden Augen schaut sie die vielen Häuser, die vielen Menschen, die unendlich vielen neuen Eindrücke an und hat alle Angst vergessen.
„Schau, Anna. Da! So einen großen Markt habe ich noch nie gesehen. Was es da alles gibt. Und der Brunnen sieht so schön aus mit all den Blumen. ... Da! Das Mädchen hat so ein hübsches Kleid an."
Ich folge ihrem Blick. Schnell tippe ich Konrad auf die Schulter, dass er anhält. Denn das Mädchen mit dem hübschen Kleid läuft in einer Reihe mit einigen anderen Kindern und hat einen kleinen Jungen an der Hand. Und an der Spitze der Reihe läuft Maria Hannover. Das müssen also die Waisenkinder sein.
„Frau Hannover, schön, Euch zu sehen. Sind das Eure Schützlinge?"
„Anna! Wie schön dich zu sehen. Ja, das sind unsere Kinder. Wir genießen das schöne Wetter und machen einen Spaziergang raus zu den Wiesen."
Neugierig schielen meine beiden Großen aus der Kutsche auf die Kinderschlange.
„Jakob, Susanna, sollen wir diese Kinder mal besuchen, wenn sie zu Hause sind?"
Eifrig nicken die beiden.
„Na, dann wollen wir doch morgen mal durch die Stadt spazieren. Passt es Euch am Vormittag, Frau Hannover?"
„Komm, wann immer du willst, Anna. Wir freuen uns auf dich."
Wir winken uns noch einmal zu, und dann treibt Konrad die Pferde mit einem Schnalzen wieder an. Die Kutsche setzt sich in Bewegung, und wieder fliegen die Augen von Linde und den Kindern aufgeregt hin und her, um ja nichts zu verpassen.
Als die Kutsche in die Allee zum Schoss einbiegt, überholen uns die beiden Begleiter und reiten voraus zum Schloss. Ich hingegen lasse Konrad nochmals anhalten, denn der Anblick der mit Blüten übersäten Kirschbaumallee ist einfach zauberhaft. Staub tanzt in den einzelnen Lichtstrahlen, die durch die blühenden Bäume auf die Allee fallen. Ab und zu rieseln weitere Blätter der rosanen Pracht zu Boden, ganz leise und zart. Still lasse ich den Anblick auf mich wirken, eh wir weiterfahren.
Am Ende der Allee biegen wir noch um ein Gebüsch, dann liegt das Schloss in der Sonne vor uns. Konrad lässt die Kutsche ausrollen, und bald bleiben wir vor der breiten Eingangstreppe stehen. Jakob jubelt laut. Ich halte den Atem an. Auf der Treppe steht Hannes und schaut uns entgegen.
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Wiedersehensfreude
SO. 29.4. a.d. 1571
Ich war gestern bei Anna. Und Anna ist die Tochter eines Grafen. Morgen wird sie zu mir kommen. Mit den Kindern. Offiziell als meine Gäste in mein Schloss. Und ich schwanke ununterbrochen hin und her zwischen Hoffnung und Zweifel, zwischen Sorge und Glück.
Wird es einen Weg für uns geben?
Schon fünfmal habe ich versucht, den Brief an ihren Vater zu formulieren. Es will einfach nicht glücken. Ich weiß kaum, wo mir der Kopf steht. Auch der Bader hat gemerkt, dass ich gestern Abend völlig abwesend und unfähig zu normalen Gesprächen war.
Für heute habe ich mir fest vorgenommen, mich besser zu konzentrieren, damit ich den Besuch gut vorbereiten kann. Ich habe mit ihm abgesprochen, dass Albrecht Bader, solange es nichts Wichtiges gibt, immer von Samstag Abend bis Sonntag Abend bei seiner Tochter zu Hause sein kann. Ich will den alten Mann nicht ausnutzen. Aber dafür speisen die Brüder Weise mit mir.
Nach dem Frühstück spazieren wir gemeinsam zur Kirche in der Stadt, wo sich zu meiner großen Freude auch die Hannovers mit den Kindern einfinden.
Recht so! Die Kinder sollen wie alle Bürger die Freiheit haben, im rechten Glauben aufzuwachsen.
Ich muss schmunzeln. So wie im Dorf der Vogt seinen Platz vorn beim Pastor hat, so gibt es hier für den Lehnsherrn auch eine eigene, etwas erhöhte Loge in der Nähe der Kanzel. Ich bitte den Kirchendiener unauffällig, uns dorthin zu bringen, denn ich muss ja nun erst lernen, wie es hier in der Gemeinde zugeht. Die Brüder Weise setzen sich auf meine Aufforderung hin mit in die Loge. Ich will da ganz sicher nicht alleine sitzen. Hier ist Platz für bestimmt zehn Personen. Also werde ich in Zukunft immer meine Gäste und vielleicht den Stadtvogt und den Verwalter mit zu mir in die Loge nehmen. Ich versuche, mir vorzustellen, wie meine Tante Agnes von Minnigerode zusammen mit ihrem Gatten und ihrer Freundin Magdalena von Lenthe hier gemeinsam gesessen haben und dem Gottesdienst gefolgt sind. Nun sitze ich hier. Ob wohl eines Tages Anna neben mir sitzen wird?
Konzentrier dich! Das kann doch nicht so weiter gehen!
Nach dem Mittagsmahl mache ich einen ausgedehnten Ausritt mit Hurtig und besuche dabei auch die Falknerei. Der Mann freut sich über mein Interesse, und ich kann etwas meinen Kopf lüften. Als ich wieder zu Hause bin, bitte ich Frau Jansen zu mir.
„Ich weiß, es ist Sonntag, aber wir müssen doch etwas besprechen. Wie angekündigt bekommen wir morgen Besuch von Anna Adam und ihren Kindern. Und ich möchte diesen Besuch gut planen, damit sie sich wohl fühlen."
Frau Jansen nickt verständnisvoll.
„Wie lange werden sie bleiben, Herr?"
„Ich denke ein paar Tage, höchstens eine Woche. Wir haben etwas über Annas Herkunft herausgefunden und wollen darum ein paar Briefe schreiben. Für die Kinder wird ein älteres Mädchen aus dem Dorf mit dabei sein. Außerdem soll Jakob die Schule und die Lehrer kennenlernen. Die Weises sollen ihn beobachten, ob er denn einer Schule hier gewachsen wäre."
„Nun, wenn ich Anna Adam richtig einschätze, wird sie sich fragen, ob sie denn bei den Dienstboten hier als Gast des Herrn willkommen ist, wenn sie doch vorher praktisch als Gefangene hier gesessen hat. Und das Mädchen kommt wahrscheinlich zum ersten Male aus ihrem Dorf heraus. Ich denke, ich werde für alle zusammen die Räume in der Nähe des Spielzimmers herrichten lassen. Dann sind sie beieinander, und das Mädchen kann die Kinder gut beschäftigen. Wie wollt Ihr es bei den Mahlzeiten halten? Soll das Mädchen mit den Kindern alleine essen? Dann werde ich alles dafür ..."
„Oh nein. Die Kinder hängen so sehr an mir. Sie würden nicht verstehen, wenn sie wo anders essen sollen. Und ich mag sie auch gerne bei mir haben. Mir wäre es am liebsten, wenn wir alle, auch das Mädchen, im Speisesaal essen. Auch Albrecht Bader und die Weises. Eine Tradition mehr oder weniger gebrochen – das ist nun egal."
Almuth Jansen lächelt.
„Ich bin wirklich neugierig auf diese Kinder. Und das Mädchen wird sich schnell einfinden. Ich stelle ihr am besten eine Magd zur Seite, die sie herumführen und ihr helfen kann. Ich werde sie den anderen Dienstboten vorstellen und ihr in Ruhe erklären, wen sie wie anreden muss. Und ... wäre es aufdringlich, wenn ich mit der Kutsche etwas angemessene Kleidung für alle mitschicken würde? Vielleicht fühlen die Damen sich wohler, wenn sie sich nicht so ärmlich vorkommen."
„Das ist eine sehr gute Idee, Frau Jansen. Anna hat tatsächlich ein wenig Sorge deswegen. Ich sehe, meine Gäste sind bei Euch in den besten Händen."
„Dann will ich alles so anordnen und gut darauf achten, dass niemand tuschelt oder kichert über die beiden. Vor allem das Mädchen wird das brauchen. Wann werden die Gäste hier eintreffen?"
„Ich denke gegen Mittag. Ich werde Konrad recht früh losschicken. Die Kinder werden kribbelig sein, wenn sie zu lange auf die Kutsche warten müssen."
„Dann wird alles bereit sein."
An diesem Abend speise ich allein, denn ich bin so unkonzentriert, dass ich das niemand zumuten will. Ich gehe auch früh ins Bett, aber an Schlaf ist nicht zu denken in dieser Nacht.
Der Montag Morgen stellt mich vor eine harte Herausforderung. Bader ist wieder da und geht an die Arbeit. Die Weises zeigen mir ihre Fortschritte im Schulhaus. Der hiesige Pastor macht mir seine Aufwartung. Und ...
Himmel, was vergeht heut die Zeit so langsam!
Ich reiße mich zusammen, denn wenn ich dem armen Mann unkonzentriert begegnete, wäre das sehr unhöflich. Zum Glück ist der Mann ein interessanter Gesprächspartner, der mich mit Freuden in der Gemeinde willkommen heißt, mich aber nicht gleich mit Änderungswünschen und Problemen traktiert.
Nachdem sich der Pastor verabschiedet hat, bleibt mir nichts mehr zu tun als zu warten. Plötzlich muss ich schmunzeln. Wenn schon ich so aufgeregt bin - wie muss es da erst Anna gehen mit drei aufgescheuchten Kindern und einem schüchternen Dorfmädchen!
Und dann – endlich, endlich – kommen Joseph und Ruven zügig herangeritten, um mir die Kutsche anzukündigen. Sogleich gehe ich vors Haus und starre die Allee entlang. Ich höre die rollenden Räder und den Hufschlag, bevor ich die Kutsche sehen kann. Dann kommen sie um die letzte Kurve, und ich halte den Atem an.
Am Ende der Allee zügelt Konrad die Pferde und lässt den Wagen vor der Treppe ausrollen. Bevor er vom Kutschbock klettern und den Schlag öffnen kann, ist Jakob mit einem Jubelschrei darüber geklettert, zu Boden gesprungen und rennt auf mich zu.
„Hannes!"
Schnell gehe ich die Treppe hinunter und unten in die Hocke. Der Junge fliegt mir in die Arme, und ich bin mir schon jetzt sicher, dass ich ihn heute nicht mehr von meiner Seite bekomme.
„Jakob, wie schön! Und hab ganz herzlichen Dank für deinen tollen, tollen Brief. Alle haben mich beneidet, dass ich einen Freund habe, der mir sogar Briefe schreibt!"
Konrad öffnet nun den Schlag und hilft Susanna und Anna hinaus. Dahinter erkenne ich Ferzens Linde, die sehr schüchtern zu Boden schaut, als Konrad ihr aus dem Wagen hilft. Auch Susanna eilt nun zu mir. Ich nehme beide Kinder in die Arme und schaue sie an.
„Ui, seid ihr fein herausgeputzt! Graf Jakob, Gräfin Susanna, darf ich Euch willkommen heißen in meiner bescheidenen Hütte?"
Susanna kuschelt sich an mich, und Jakob lacht sich schief.
„Aber Hannes! Das ist doch keine Hütte. Und ich bin doch kein Graf. Der Graf bist doch du!"
„Und du bist mein Gast. Also bist du fast auch ein Graf."
Tadelnd schüttelt er den Kopf.
„Du darfst der Susanna doch nicht so einen Unsinn beibringen, Hannes!"
Jetzt muss ich lachen über den altklugen kleinen Mann.
Dann richte ich mich auf. Und schaue Anna entgegen. Linde neben ihr hat das zappelnde Peterchen auf dem Arm. Er will auch loslaufen dürfen wie seine Geschwister, aber hier ist es erstmal besser, wenn er noch gehalten wird. Anna kommt mir selbstbewusst lächelnd entgegen.
„Hannes! Hab Dank für die großzügige Einladung. Wir freuen uns sehr, hier zu Gast sein zu dürfen."
Ich selbst – bin sprachlos. Selbst ein „Willkommen in Gieboldehusen" bleibt mir vor lauter Aufregung im Hals stecken.
Also lächele ich nur und geleite meine Gäste in die Eingangshalle. Die beiden größeren Kinder hängen fest an meinen Händen. Anna kennt das alles. Aber Linde scheint zu schrumpfen, als sie den riesigen Raum und die freischwingende Treppe anstarrt.
„Linde, ich freue mich, dass du Anna begleitest. Hab keine Sorge. Die Hausdame Frau Almuth Jansen wird sich sehr freundlich um dich kümmern."
Linde schluckt und lächelt schüchtern.
Konrad bringt das wenige Gepäck der Damen ins Haus und übergibt es einem Diener, der es nach oben trägt. Und aus dem Hintergrund kommen Almuth Jansen und Ulrich Barkhausen auf uns zu. Linde versinkt sofort in einem tiefen Knicks. Und auch Anna macht Anstalten dazu, aber die beiden Bediensteten kommen ihr zuvor und knicksen und verbeugen sich vor ihr. Steif wie immer ergreift Barkhausen das Wort, er verzieht keine Miene.
„Willkommen in Gieboldehusen, Frau Adam. Wir sind sehr erfreut, Euch unter so viel schöneren Umständen hier wieder begrüßen zu dürfen. Wir hoffen, Ihr werdet Euch wohl fühlen."
Annas Gesicht ist anzusehen, dass sie überhaupt nicht weiß, wie sie nun damit umgehen soll. Aber sie lächelt darüber hinweg.
„Herzlichen Dank für den freundlichen Empfang, Herr Barkhausen. Ich werde mich gewiss wohlfühlen, denn ich weiß mich ja in guten Händen."
Dann macht sie einen Schritt auf Almuth Jansen zu, nimmt sie kurz in die Arme und zieht schließlich Linde heran.
„Frau Jansen, wie schön. Darf ich wieder singen?"
Die lacht und nickt.
„Von Herzen gern, Frau Adam. Es hat uns allen so gut getan!"
„Darf ich Euch Linde Ferz vorstellen? Sie ist zum ersten Male aus unserem Dorf heraus und hat ein wenig Sorge, ob sie hier alles richtig machen wird. Aber sie hat ein wunderbares Händchen mit den Kindern und ein angenehmes Wesen."
Linde knickst abermals tief. Frau Jansen reicht ihr die Hand.
„Linde, schön dass du da bist. Mach dir keine Sorgen. Es ist gut, dass die Kinder jemand Vertrautes bei sich haben. Unsere Magd Lina ist kaum älter als du. Sie wird bei dir sein, all deine Fragen beantworten, dir zur Hand gehen und dich überall hinführen."
Erleichtert lächelt Linde sie an.
Dann richtet sich Frau Jansen wieder an uns alle.
„Wollt Ihr erst Eure Räume sehen und Euch nach der staubigen Reise frisch machen, oder soll das Mittagsmahl sogleich aufgetragen werden?"
Nun schalte ich mich ein.
„Anna, ich habe angeordnet, dass für Euch gemeinsame Räume hergerichtet werden, weil die Kinder es ja gewohnt sind, bei dir zu schlafen. Und selbstverständlich werdet ihr alle gemeinsam mit mir speisen. Ansonsten werden nur mein Verwalter Albrecht Bader und die beiden Lehrer, die Brüder Weise mit uns speisen. Es wird ganz zwanglos sein."
Anna muss nicht lange überlegen.
„Dann möchten wir gerne erst unsere Räume besuchen und die Kinder damit vertraut machen. Und dann wird uns der Hunger sicher bald ins Speisezimmer treiben."
„Gut, Frau Adam, dann schicke ich gleich die Lina hinauf zu Euch. Sie wird Euch dort alles zeigen."
Barkhausen und Jansen verschwinden, und wenige Augenblicke später erscheint ein junges Mädchen, knickst vor uns und geht meinen Gästen voraus die Treppe hinauf.
Der Anfang ist geschafft!
Und Anna scheint sich schnell in die Rolle zu finden. Ich gehe derweil in mein Büro, mache alle Türen zu und atme ein paarmal tief durch.
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3.2.2022
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