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41 - Das Christophorus-Haus

So. 25.3.1571

Als wir schließlich den Hof des Waisenhauses betreten, ist weit und breit niemand zu sehen, es herrscht Totenstille. Wir sehen ein altes, gedrungenes Haus, einen heruntergekommenen Schuppen und eine offene Wagenremise. Der bequeme Wagen darin steht in seltsamem Kontrast zu allem anderen hier im Hof. Wir gehen zum Eingang und klopfen an. Erst rührt sich nichts. Ich klopfe wieder, diesmal lauter. Da öffnet uns eine verschreckte Magd, macht einen tiefen Knicks und lässt uns herein.
„Führ mich zur Herrin dieses Hauses!"
Sie nickt stumm und geht uns voraus, an kahlen Wänden vorbei, eine Treppe nach oben, durch eine dicke Tür, einen Gang entlang.
Wahrscheinlich ist hier so etwas wie eine eigene Wohnung für die Heimleiterin.

Die Magd klopft an eine Tür, öffnet sie für uns und huscht davon.
Ohne auf ein „Herein!" zu warten, trete ich ein. Meine Begleiter folgen mir. Wir finden einen großzügig eingerichteten Raum vor. An einem imposanten Schreibtisch sitzt eine steife Dame mit ausgesprochen starrer Miene und strenger Frisur. Ganz kurz flackern ihre Augen, als sie mich erblickt, und ich bin sicher, dass sie weiß, wen sie vor sich hat. Aber ich habe nicht vor, hier um den heißen Brei herumzureden. Wer mich betrügt und Kinder quält, hat Gnade nicht verdient.

Die Dame erhebt sich und durchbohrt mich mit ihrem Blick.
„Wer seid Ihr, und wieso dringt Ihr hier ohne Ankündigung ein? Ich bin für die Kinder in diesem Haus zuständig und dulde keine Unruhe!"
Bei so viel Frechheit bleibt mir erstmal die Spucke weg. Doch ich fasse mich schnell.
Du zweifelst meine Autorität an? Bitte, das kannst du haben!
„Ich bin Johann III., Herzog von Grubenhagen und Herr dieses Lehens. Ich bin gekommen, um nach dem Rechten zu sehen und für Gerechtigkeit, Ordnung und Ruhe zu sorgen. Da ich davon ausgehe, dass die Betrügereien hier mit Eurem Wissen geschehen sind, verhafte ich Euch wegen Veruntreuung von Geldern, die zum Erhalt dieses Hauses, zur Förderung dieser Kinder und zum Betreiben einer Schule gedacht waren."
Es verschafft mir ein wenig Genugtuung, dass daraufhin der Dame nichts mehr einfällt. Ihr fällt buchstäblich die Kinnlade herunter, und ihr Widerstand fällt sofort in sich zusammen. Stattdessen verlegt sie sich aufs Betteln und versucht, alle Schuld auf den Brudenhusen abzuwälzen.

Aber ich lasse sie nicht lange herumreden sondern schneide ihr das Wort ab.
„Ihr bekommt Gelegenheit, Euer persönliches Eigentum zu packen. Diese Dame hier, Maria Hannover, wird Euch dabei beaufsichtigen. Und jeder Gegenstand von Wert wird zunächst von mir persönlich geprüft werden. Solltet Ihr versuchen, mich zu hintergehen, wird Euch das Packen abgenommen werden, dessen könnt Ihr Euch sicher sein. Die Schlüssel lasst bitte hier. Ihr könnt gehen."
Wortlos und sehr steif lässt die Dame ein dickes Schlüsselbund von ihrem Gürtel auf den Tisch klimpern, kommt hinter ihrem Schreibtisch hervor und rauscht an mir vorbei. Maria Hannover folgt ihr auf dem Fuße. Ich gebe Ruven einen Wink, die beiden zu begleiten, denn ich habe wohl die Entschlossenheit in Marias Blick gesehen, traue ihr jedoch nicht zu, energisch zu werden, falls die Dame versuchen sollte, sich meiner Anordnung zu widersetzen.
„Hannover? Joseph? Seid so gut, nehmt den Korb, durchstreift das Haus, findet die Kinder und die weiteren Angestellten. Ich will mich hier auf die Papiere stürzen, möchte dann aber sofort zu den Kindern gehen können. Sie sollen erlöst werden."

Als ich schließlich alleine bin, sehe ich mich zunächst um. Auf dem Schreibtisch liegen allerlei Papiere. An der Wand ist ein geschlossener Schrank. Und rechts und links gehen weitere Türen ab. Die probiere ich als erstes aus. Die linke Tür ist unverschlossen und führt in eine Art Empfangszimmer, offensichtlich von der Stolzer privat genutzt. Die andere Tür ist verschlossen. Ich greife mir das große Schlüsselbund und betrachte die zahlreichen Schlüssel. Ziemlich schnell habe ich den Schlüssel zum Schrank gefunden. Darin befinden sich Papiere und verschiedene Kästen. Die werde ich mir später ansehen.

Mehr Widerstand leistet dagegen die zweite Tür. Keiner der Schlüssel an dem Bund passt in das große Schloss.
Wenn diese Tür so besonders gut versperrt ist, muss sich dahinter etwas sehr Wichtiges befinden.
Suchend blicke ich mich in dem Raum um. Ich trete hinter den Schreibtisch und durchsuche alle Fächer. Hier befindet sich alles Mögliche – aber kein weiterer Schlüssel. Also versuche ich es in dem Schrank. Aber erst, als ich beim Beiseiteschieben eines Papierstapels mit dem Ellbogen gegen die Seitenwand des Schrankes stoße und sich daraufhin eine Klappe öffnet, werde ich fündig.
Diese Seitenwand ist doppelt, und in dem Zwischenraum befindet sich so allerlei. Ich befördere einen dicken Beutel mit Geld ans Tageslicht sowie ein weiteres Schlüsselbund. Außerdem einige Papiere und ein Notizbuch. Als ich dieses kurz durchblättere, sehe ich umfangreiche handschriftliche Listen. Vermutlich handelt es sich hierbei um die Kinder, denn ich sehe viele Namen. Ich nehme mir aber jetzt nicht die Zeit, genauer hinzuschauen, denn ich will mir erstmal einen Überblick verschaffen.

Da ich bei meiner Suche festgestellt habe, dass eine Tür des Schreibtisches sich abschließen lässt, bringe ich meine Funde dort unter, bevor ich mich mit den neuen Schlüsseln der zweiten Tür zuwende. Und diesmal habe ich mehr Glück. Ich öffne die Tür, trete ein und befinde mich in einem schmalen Raum mit Regalen an beiden langen Wänden. Diese Regale sind gefüllt mit Bündeln und kleinen Kästen. Ich trete näher. Jedes Bündel, jedes Kästchen ist beschriftet mit einem kleinen Zettel – ein Name, ein Datum.
Ich atme tief durch. Ich habe gefunden, wonach ich gesucht habe. In diesem Raum befindet sich vielleicht die Lösung zum Geheimnis um Annas Herkunft.

Ich will mich grade entschlossen an das erste Regal machen, als ich von nebenan die fragende Stimme von Jochen Hannover höre.
„Herr? Wir haben die Kinder gefunden."
Seufzend schließe ich den Raum wieder ab, nehme alle Schlüssel an mich und folge ihm. Aber es kostet mich grade alle Beherrschung, nicht meinem eigenen Bedürfnis nachzugehen und mich um Anna zu kümmern. Die Kinder, die jetzt hier sind, gehen nun eben vor.
Wir treten auf den Gang, und ich höre von rechts aus einem Zimmer am Ende des Ganges wütendes Schimpfen und dann die gelassene, aber bestimmte Stimme von Ruven.
Der hat die Kneifzange im Griff!

Wir verlassen den Gang durch die schwere Tür und gehen wieder die Treppe hinunter. In der Eingangshalle wenden wir uns einer angelehnten großen Tür zu, hinter der ich gespanntes Gemurmel von hellen Stimmen höre – die Kinder.
Als wir den Raum betreten, herrscht schlagartig absolute Stille. Etwa fünfundzwanzig Kinder sitzen auf groben Bänken an langen Tischen und starren mich mit großen Augen an. Dann stehen auf das Kommando einer Frau alle Kinder auf und verbeugen sich, dass ihre kleinen Nasen bald auf die Tischplatten dotzen. Kurz mustere ich die Kinder und möchte mich schon wieder aufregen, denn sie alle tragen nur das Nötigste an ärmlicher Kleidung und stehen auf nackten Füßen dort. Ihre dünnen Arme hängen schlaff herab, und aus ihren müden Gesichtern schauen viel zu ernste Augen. Kurz stelle ich mir Annas fröhlichen Jakob dazwischen vor, der trotz bitterster Armut ordentlich gekleidet ist und lebhaft und wach durchs Leben marschiert.

„Hannover, bringt mir doch bitte den Korb."
Ich orientiere mich schnell und setze mich dann auf den einzigen richtigen Stuhl an der Tafel am Kamin.
„Kommt doch mal alle her, damit wir uns richtig unterhalten können. Ihr müsst nicht so steif dort an den Tischen stehen."
Völlig verunsichert suchen die Kinder den Blick der einzigen Erwachsenen im Saal. Als diese nickt, klettern die Kinder aus ihren Bänken und kommen zögerlich auf mich zu. Ich sehe die Angst in ihren Augen.
Wer weiß, was denen vorgelogen worden ist über mich, damit sie nur nichts erzählen, wie es hier in Wirklichkeit ist.

In meiner Nähe steht nun ein etwa zehnjähriges Mädchen, an dessen Beine sich ein etwa Vierjähriger schmiegt. Ich lächele sie an.
„Wie heißt du?"
Das Mädchen fängt an zu zittern. Ich kann ihre Stimme kaum verstehen.
„Ursula, Herr."
„Komm einmal her zu mir mit deinem Bruder."
Schlagartig verschwindet der Kleine hinter ihrem Rock, und das Mädchen fängt an zu weinen.
„Ich habe nichts getan, Herr. Bitte, ich wars nicht. Mein Bruder kann noch nicht ohne mich, dann weint er immer vor lauter Heimweh."
„Joseph, bring doch bitte die Dame hinaus und schließe die Tür."
Joseph schaut die Aufsichtsperson auffordernd an, und der bleibt nichts anderes übrig, als mit sauertöpfischem Gesicht vor ihm her aus dem Saal zu gehen.

„Ursula, komm her zu mir."
Schneller fließen ihre Tränen, während sie ihren kleinen Bruder fest an der Hand nimmt und vorsichtig auf mich zukommt. Hannover hat den Korb mit Essen neben mich gestellt. Ich schlage das Tuch beiseite, nehme ein Stück Brot, schmiere mit meinem Messer Butter darauf und halte es zusammen mit einem Apfel dem Mädchen entgegen. Schlagartig versiegen ihre Tränen. Das blasse Gesicht des kleinen Jungen taucht hinter ihrem Rock auf.
„Ulla, is hab Hunger!"
Ursula starrt auf meine Hand mit dem Brot und dem Apfel und rührt sich nicht. Ich sehe ihrem Gesicht an, dass sie schon möchte, aber dass sie überhaupt nicht weiß, was sie von mir halten soll.
„Na komm. Das ist für deinen Bruder, und du bekommst auch gleich."

Der kleine Mann wird nun mutig, macht zwei Schritte auf mich zu, schnappt sich das Essen, bevor seine Schwester ihn daran hindern kann, und verschwindet wieder hinter ihrem Rock. Nun geht ein Ruck durch die Gruppe. Schritt für Schritt kommen sie alle näher und starren in den Korb. Ich schmiere seelenruhig das nächste Brot und reiche es mit einem Apfel an Ursula. Nun wagt auch sie zuzugreifen, nachdem sie einen tiefen Knicks gemacht hat.
„Hannover, reicht doch bitte jedem Kind einen Apfel."
Mit Tränen der Rührung in den Augen kniet Jochen Hannover sich vor die Kinder hin und reicht jedem einen Apfel.
„Lasst es euch schmecken!"

Noch hatten die Kinder abgewartet, aber nun gibt es kein Halten mehr. Während ich auf die Brote etwas Butter schmiere, verschwinden im Handumdrehen die Äpfel in den kleinen Kindermägen. Nun bekommt jedes ein Stück Butterbrot, und auch das ist schneller in den Bäuchen verschwunden, als ich meinen Namen sagen kann. Dann bekommt noch einmal jedes Kind ein Brot oder einen Apfel, bis nichts mehr im Korb übrig geblieben ist.
„Ursula? Magst du jetzt zu mir kommen?"
So richtig vertrauensvoll ist ihre Miene noch immer nicht, aber sie fast wieder fest die Hand ihres Bruders und kommt langsam auf mich zu.
„Verrätst du mir den Namen deines Bruders?"
„Er heißt Hannes, hoher Herr."
„Na sowas! Dein Bruder heißt genau so wie ich. Hannes, magst du herkommen zu mir?"
Hannes schüttelt den Kopf.
Himmel, ist das schwer. Was haben die hier mit den Kindern gemacht???
„Du musst nicht."
Ich lächele ihm zu.

Dann wende ich mich an alle Kinder.
„Niemand hört euch zu. Die Frau Stolzer ist oben, die anderen Damen sind draußen. Ihr könnt frei heraus reden. Sagt mir doch bitte: was haben euch die Frauen über mich erzählt?"
Da drängelt sich ein größerer Junge von hinten vor.
„Ik ... heiße Onno, hoher Herr. De anner'n trau'n sich nich, aber ik glaubs nich. De Stolzer hat uns vertellt, dat wir so unartig war'n, dat heut jemand komm'n wird, um uns alle in'n Kerker zu sperr'n. Un dort soll'n wir dann verhungern. Wollt Ihr, Herr, dass wir alle verhungern?"
„Warum sollte ich wollen, dass ihr alle verhungert? Ich habe euch grade zu essen gegeben. Und ich werde dafür sorgen, dass ihr von jetzt an jeden Tag dreimal satt zu essen bekommt. Ihr sollt es warm haben, ordentliche Kleidung bekommen. Die Schule wird wieder geöffnet werden, damit ihr fleißig lernen und schlaue Erwachsene werden könnt."
Ein Strahlen geht über die ausgehungerten Gesichter. Zu jubeln wagen sie noch nicht, aber sie werden das Lachen schon wieder lernen.

Ich habe eine Idee.
„Ist jemand hier unter euch, der sich noch an die Frau von Lenthe erinnern kann?"
Ursula und Onno nicken.
„Ich bin Johann von Grubenhagen. Mir gehört diese Stadt, das Schloss und auch das Waisenhaus. Und ich möchte, dass in meiner Stadt alle Menschen, die großen und die kleinen, glücklich sind und ohne Angst leben können. Darum werde ich die Frau Stolzer fortbringen. An ihrer Stelle werden zwei Menschen für euch da sein, die Kinder über alles lieben und wirklich gut auf euch aufpassen werden."
Ein kleines Mädchen mit einem langen dünnen Zopf lugt hinter dem großen Jungen hervor.
„Also wird der Soldat da uns nich verhaft'n?"


So. 25.3. a.d. 1571

Es dauert noch eine ganze Weile, bis die Kinder mir so weit vertrauen, dass sie sich im Kreis um mich herum auf den Boden setzen. Ich frage sie nach ihren Namen und lasse sie einfach erzählen. Als es an der Tür klopft, springen die Kinder sofort wieder auf und stellen sich steif hin. Maria Hannover betritt den Saal, und Ruven schiebt die widerstrebende Frau Stolzer vor sich her.
„Herr, sie hat alles gepackt. Und das sind ihre Wertsachen, die wir Euch erst zeigen sollten."
Ruven reicht mir einen Beutel.
Ich öffne den Beutel und sehe verschiedene Schmuckstücke. Einiges könnte tatsächlich ihr gehören, aber das ein oder andere Stück ist dabei, dass eindeutig nach einer Kindergröße aussieht und ihr gar nicht passen kann. Es ist nichts Wertvolles, aber sollte davon etwas den Kindern gehören, so sollen sie dieses Band zu ihrer Herkunft nicht verlieren durch die Habgier dieser Frau.

„Ich werde diesen Beutel behalten, Frau Stolzer. Alles, was nicht diesen Kindern gehört, werdet Ihr zurückerhalten."
Kurz sehe ich Triumph in ihren Augen aufblitzen. Und ich ahne, dass alle Beweise wie Listen, aus denen ich den Besitz der Kinder ablesen könnte, entweder vernichtet oder sehr gut versteckt sind. Da ich ihr wichtigstes Versteck aber wahrscheinlich bereits gefunden habe hinter der Klappe im Schrank, mache ich mir darum keine allzu großen Sorgen.
„Abführen!"
Ruven fasst die widerstrebende Frau am Arm und führt sie hinaus. Den Kindern fallen fast die Augen aus dem Kopf, dass diese furchteinflößende Frau nun jemand anderem so gehorchen muss. Joseph hingegen sucht und findet die drei Mägde und die Köchin und bringt sie herbei. Vor den Augen der Kinder erkläre ich ihnen, wer ich bin, stelle ihnen Maria und Jochen Hannover als neue Heimleitung vor und mache sie darauf aufmerksam, dass sie in allen Dingen strikt diesen beiden zu gehorchen haben.

„Ihr werdet Euch nach allem richten, was Euch gesagt wird. Kein Kind wird mehr geschlagen, es wird dreimal am Tag satt zu essen geben. Die Kinder werden so schnell wie möglich ausreichend Kleidung und Schuhe bekommen. Geschwister werden nicht auseinandergerissen, und sie werden den Kindern nie wieder Schauergeschichten erzählen. Haben wir uns verstanden?"
Verängstigt nicken die vier Frauen und fallen in einen tiefen Knicks. Sie sind vermutlich froh, einfach so davonzukommen.
Nun endlich wird auch Ursula mutig.
„Hoher Herr, is es also wahr. Ihr wollt uns nich ins Gefängnis sperr'n? Wir soll'n immer zu ess'n hab'n un lern'n dürf'n?"
Ich sehe sie weich an.
„Ja, Ursula. Das ist wahr. Aber das Wichtigste ist, dass Ihr keine Angst mehr haben müsst."

Maria Hannover übernimmt nun die Kinder. Sie stellt sich ihnen vor und geht mit ihnen hinaus. Sie fragt sie nach ihren Namen, hört ihnen zu, und als sie an der Türe sind, höre ich noch, wie sie die Kinder bittet, ihr ihre Zimmer zu zeigen. Schon bald ist das stille, strenge Haus erfüllt von Kinderstimmen und Füßerennen. Endlich ist hier wieder Leben!
Ich gehe mit Jochen Hannover und Joseph zurück in das Arbeitszimmer der Stolzer.
„Hannover, hier gibt es viel zu tun für uns. Ich möchte, dass alle Papiere gesichtet werden, möchte Abrechnungen kontrolliert haben, wir brauchen Beweise, dass die Dame Gelder unterschlagen und Rechnungen gefälscht hat. Ich habe alle Schlüssel gefunden, denke ich. Dies ist das allgemeine Bund."
Ich reiche ihm das große Schlüsselbund.
„Und hier habe ich im Schrank ein Geheimfach gefunden, in dem weitere Schlüssel waren."
Ich zeige ihm das Fach im Schrank, zeige ihm, wo ich die Sachen stattdessen eingeschlossen habe, und gehe mit ihm in den angrenzenden Raum.
Angesichts der vielen, vielen Bündel und Kästchen staunt auch er.

„Und jetzt passt auf, Hannover. In dem Geheimfach war dieses Büchlein."
Ich schlage das Notizbuch auf und blättere auf die erste Seite. Und wie ich es vermutet hatte, befindet sich darin die erhoffte Liste der Besitztümer aller Kinder, die hier im Haus gewesen sind. Über viele Jahre hinweg hat Freifrau von Lenthe in sauberer Schrift die Ankunft jedes einzelnen Kindes vermerkt und dazugeschrieben, was das Kind bei sich hatte. Manches Kind war als Säugling vor die Tür gelegt worden und hatte nichts als die Windeln am Leibe. Andere kamen einzeln oder als Geschwister, weil die Eltern verstorben oder völlig verarmt waren. Ab und zu hatte ein heimlich abgegebenes, namenloses Kind aber auch ein Schmuckstück zwischen den Windeln, das auf eine hohe Herkunft schließen ließ. Diese armen Kinder waren Waisen, weil sie Folgen eines Fehltritts waren. Opfer einer grausamen Welt. Auf den letzten Seiten hat eine andere Schrift verzeichnet, was die später folgenden Kinder an Besitz mitgebracht haben.
„Ich gebe Euch auch diesen Schlüssel. Verwahrt ihn gut. Wenn Ihr Zeit habt, vergleicht bitte die Bündel und Kisten in den Regalen mit den Notizen zu den einzelnen Kindern. Das ein oder andere könnte auch bei den Stücken sein, die wir eben der Stolzer abgenommen haben. Ich möchte soviel wie möglich zuordnen können. Und in einem nächsten Schritt sollten wir feststellen, welche Kinder in den letzten sechs Jahren in Stellung vermittelt wurden und wie es ihnen heute ergeht. Vielleicht können wir doch auch manchem ehemaligem Kind noch etwas Gutes tun."

Als ich die Treppe wieder hinuntersteige, höre ich aus dem Speisesaal fröhlichen Gesang aus vielen Kinderkehlen. Ein verstohlener Blick durch die angelehnte Tür bestätigt mir, dass Maria Hannover mit den Kindern zu Abend isst und zu Beginn ein Danklied mit ihnen angestimmt hat. Ich bin mir sicher, dass die Hannovers mit liebevoller, klarer Hand diese kleine Schar führen und bald schon das Vertrauen der Kinder erobert haben werden. Ich verabschiede mich von Jochen Hannover und wünsche ihm und seiner Frau viel Geduld und Freude für ihre neue Aufgabe.
„Bitte scheut Euch nicht, mir jederzeit Nachricht zu geben, falls Ihr Hilfe, Gelder oder Antworten benötigt. Ihr wisst – Ihr habt meine volle Unterstützung!"
Dann geht er zu seiner Frau und den Kindern in den Saal.
Ich selbst trete gemeinsam mit Joseph in den Hof. Ruven kommt uns entgegen, der nach der Verhaftung der Stolzer hierher zurückgekehrt ist.

„Was habt Ihr mit der Stolzer gemacht?"
Ruven lacht bitter.
„Am liebst'n hätt ik dat keifende Weib zu den Schwein'n gesperrt. Gleich un gleich gesellt sich gern. Aber nein, wir hab'n sie innem Raum des Schlosses eingesperrt. Ihr müsst nur entscheid'n, was mit ihr gescheh'n soll, Herr."
Gedankenverloren schlendere ich zurück zum Schloss. Ich weiß selbst noch nicht so genau, was ich mit ihr anfangen soll. Aber vielleicht ist das auch eine Sache, die ich gemeinsam mit Karl besprechen sollte, wenn er morgen Abend wieder da ist.
Als wir am Schloss eintreffen, dämmert es bereits. Dieser Tag war lang und ereignisreich. Und es werden noch viele, viele solche Tage folgen. Meine Müdigkeit ist eine wohl verdiente, eine zufriedene Müdigkeit. Ich werde sicherlich noch wochenlang von einer Ohnmacht in die nächste taumeln bei den Entdeckungen, die wir hier machen werden. Aber ich habe nicht mehr dieses Schuldgefühl. Ja, es liegt viel im Argen hier. Aber nun bin ich da, stelle mich dieser Aufgabe und bemühe mich, es besser zu machen.

Frau Jansen empfängt mich mit einem warmen Feuer im Kamin und einem reichhaltigen Mahl. Müde und allein sitze ich in dem großen prunkvollen Speisezimmer. Aus der Müdigkeit werden schwere Gedanken. Ich frage mich, was mir grade so fehlt, und ich muss nicht lange suchen. Gesellschaft fehlt. Am liebsten hätte ich Anna und die Kinder hier. Aber im Moment wäre mir jede Gesellschaft recht. Die Schwere des Tages und die Müdigkeit schlagen um in Melancholie. Ich beginne zu überlegen, wen von all den Menschen um mich herum ich jetzt gerne bei mir hätte. Es sind tatsächlich nur Untergebene hier. Im Schloss, im Hof, in der Stadt ist kein einziger Mensch, der meines Ranges ist. Den ich normalerweise einfach so an meinen Tisch bitten würde.

Der Nachbar auf der Katlenburg ist eine Tagesreise weit. Die Herren der Nachbarlehen werde ich sicher mal einladen, wenn ich hier etwas Grund hinein bekommen habe. Aber das ist nichts für jeden Tag. Bei der Arbeit habe ich immer wieder zu tun mit Barkhausen, Bader, Jansen und den Hannovers. Aber ich möchte ein gemütliches, entspanntes Mahl nicht zum Arbeitsessen machen, nur damit ich Gesellschaft habe. Ich könnte alle Honoratioren aus der Stadt zum Essen einladen, damit wir uns kennenlernen. Aber auch das kann ich nicht jeden Tag machen.
Satt aber nun doch unzufrieden schiebe ich mir einen Sessel an den Kamin und strecke meine Füße dem Feuer entgegen. Auch darüber könnte ich mit Karl reden.

Ach Anna. Du fehlst mir so.
Aber ... wenn ich, ohne mit der Wimper zu zucken, Anna an meinen Tisch laden würde, und Klaas ... warum zum Henker soll ich dann nicht mit Bader, Barkhausen und Jansen gemeinsam speisen? Ich bin hier der Herr! Sie werden sich daran gewöhnen, so wie es die Leute in Lütgenhusen getan haben. Mein Entschluss steht fest. Morgen!
Morgen werde ich mit den Dreien reden und versuchen, sie auf meine seltsamen Ideen von Gemeinschaft einstimmen. Ich werde hier jedenfalls nicht jahrelang alleine vor mich hin hocken.

Noch einmal stelle ich mich in das Arbeitszimmer und lasse meinen Blick schweifen. Berge von Papieren, Berge von Arbeit, Berge von Ungerechtigkeiten und Heimlichkeiten und Betrügereien gilt es hier, zu sortieren und abzuarbeiten. Und nebenan in dem kleinen Arbeitszimmer vom Hauser, jetzt Bader sieht es wahrscheinlich genauso aus. Aber nicht mehr heute.

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20.1.2022

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