23 - Mutlosigkeit
So. 14.1.1571
Am nächsten Morgen beäugen uns die Kinder misstrauisch. Hannes ist schweigsam. Ich bin schweigsam. Und Jakob ist mal wieder sehr direkt.
„Mutter, warum erzählen und lachen wir heute Morgen nicht? Bist du traurig?"
Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Hannes zusammenzuckt.
„Nein, Jakob. Mach dir keine Sorgen, mein Kind. Es gibt einfach Tage, da ist man fröhlich, und es gibt die anderen Tage. Heute ist so ein anderer Tag. Uns steckt noch ein bisschen in den Knochen, wie der Steuer-Hauser sich gestern benommen hat. Er wollte dem Pastor den Hurtig wegnehmen, und dem Ferz das neue Schwein. Und das hat uns erschreckt. Aber ich bin sicher, nach der Kirche ist uns allen wieder wohler. In der Gegenwart Gottes kann man nicht länger ängstlich sein."
Lange schaut mich Jakob an, als wolle er in meinem Gesicht erkennen, ob ich das wirklich ernst meine. Aber es ist keine Zeit mehr für weitere Fragen, denn wir machen uns nun tatsächlich auf zur Kirche, um den Gottesdienst zu genießen und uns von der Gegenwart Gottes beschenken zu lassen. Ich freue mich darauf, denn ich weiß, dass es mich beruhigen und trösten wird. Der blinde Jasper hat mein Herz leichter gemacht heute Nacht. Und nun will ich es Gott geben mit all meiner Sorge und Hoffnung, mit all den Fragen und meiner unerfüllbaren Liebe. Er soll heilen, was Menschen nicht heilen können.
In alter Gewohnheit finden sich nach und nach alle Dorfbewohner auf dem Weg zur Kirche beisammen und laufen schwatzend die Dorfstraße entlang. Noch immer spuken die Ereignisse des gestrigen Tages durch die Gespräche.
Aber bald schon tauchen wir ein in die festliche Stimmung des Gottesdienstes, lassen uns stärken in der Gegenwart Gottes und singen unsere Seelen frei.
Nach dem Gottesdienst bittet der Vogt die Männer zur Versammlung zusammen. Ich bringe meine Kinder zur Drebberin und der Lene in die Küche und setze mich wie immer ganz hinten in den Saal. Hannes als Knecht ist nicht zugelassen. Aber irgendwie ist der Saal voller als sonst. Ich brauche eine Weile, um es zu begreifen. Unsere Verbündeten stehen und sitzen so durcheinander im Saal, dass Klaas nicht recht Platz findet und deshalb in der offenen Tür zur Diele stehen bleibt. Und auf der Diele, gleich neben der Tür – steht Hannes.
Vogt Drebber bittet um Ruhe und beginnt sogleich, über den gestrigen Tag zu sprechen. Er versucht zu verstehen, was die wachsende Aufmerksamkeit des Verwalters Brudenhusen und des Steuereintreibers Hauser für unser Dorf bedeutet kann.
„Innerhalb kurzer Tied war da dat gestohl' ne Swien, die Reise des Pastors nach Duderstadt mit der großen Zollaufregung, der Beinaheabsturz der Männer von Anna Adams Dach, die Angst ob Annas erzwungener Reise durch den Sturm und nu dat erneute, gradezu unverschämte Auftret' n des Hausers. Diese beid' n Männer stell' n, solange sich der Lehnsherr nich um sein Leh' n kümmert, unsre Obrigkeit dar, der wir zu gehorch'n hab'n. Aber es gibt Rechte für uns Dorfleute, un die werd' n hier wie nirgendwo mit Füß' n getret'n. Beide leg' n ein Auftret' n annen Tag, dat nich zu ihrer Stellung passt, un beide fühl' n sich darin dermaß' n sicher un unkontrolliert, dat wir befürcht' n müss' n ..."
Sein besorgter Blick geht in die Runde.
„...dat sie sichere Kunde hab' n, dat sie auch so schnell nich kontrolliert werd'n. Dazu kommt, dat sich der Hauser gestern etwas zu sehr um den Knecht unseres Pastors gekümmert hat, obwohl ihn der ja gar nischt angeht. Als Knecht des Pastors und als Duderstädter untersteht er nich seiner Zuständigkeit. Dennoch hat er sich um fast nischt anners als Hannes gedreht, und es will mir nich in'n Kopp, warum."
Gemurmel erhebt sich im Saal, und Klaas wirft einen besorgten Blick zur Tür hinaus. Ich habe Angst, dass Hannes daraus den Schluss ziehen könnte, dass er gehen sollte. Sofort. Und alles in mir schreit dagegen.
Der Drebber sorgt wieder für Ruhe.
„Ik möcht eens klarstell' n: Es wirkt so, als seien einige der Vorfälle direkt mit der Person von Hannes verbund' n. Aber ik bin nich bereit, Hannes fortzuschick'n, solang er unser' n Schutz braucht. Denn allein in Duderstadt oder wo auch immer in dieser Welt wär er verlor'n. Er is einfach nich in der Lage, sich allein zu schütz'n un zu versorg'n. Un ohne ihn würd' n Anna un die Kinder wahrscheinlich, Susanna un die beid' n Männer vom Dach ganz sicher nich mehr leb' n. Hannes gehört zu uns!"
Etwas wohlwollender wird das Gemurmel.
„Ik möcht heut mit euch berat'n un euch die Denkaufgabe geb'n, wie wir es schaff' n könn'n, dat wir wedder aus der Aufmerksamkeit von Brud' nhus' n un Hauser entkomm' n un ein normales, friedliches Dorfleb' n führ'n könn'n. Un zwar ohne, dat wir Hannes fortschick' n müss' n! Wir hab' n dafür nich viel Tied. Der nächste Steuertag is schon in drei Wochen. Anna, du hast wieder einen Auftrag bekomm'n, hab ik dat richtig beobachtet? Hast du eene Tied genannt bekomm'n?"
Ich erhebe mich mit zitternden Knien, denn alles, was der Drebber bisher gesagt hat, muss in Hannes schiere Verzweiflung auslösen. Und ich kann nichts dagegen tun.
„Ja, Herr Drebber. Aber die Anordnung lautet, dass ich die Arbeit in fünf Wochen in Gieboldehusen abliefern soll, weil der Hauser erst Anfang März wieder ins Dorf kommen wird und der Verwalter nicht so lange warten will."
Alle atmen auf – hier im Saal und draußen vor der Türe.
„Dat heißt also, dat wir Tied hab'n bis Anfang April, um eene Lösung zu erdenk'n."
Der Vogt entspannt sich etwas. Da meldet sich der Pastor.
„Dann werde ich eben noch einmal in Erbschaftsangelegenheiten nach Duderstadt müssen – und zwar genau in der Steuerwoche. Dann sind Hannes und Hurtig aus dem Schussfeld. Und niemand kann mir das verwehren."
Der Ferz, Klaas und Jorge schütteln leise den Kopf. Vogt Drebber auch.
„Dat hilft uns un Hannes eenen Monat weiter. Aber Anfang April is dann entweder endlich alles egal. Oder der Brud' nhus' n wird uns gleich nach' m Hauser auf den Leib rück' n un persönlich dafür sorg'n, dat er den neuen Knecht zu Gesicht bekommt."
Mein Blick wandert wieder in den Flur, und was ich sehe, bestätigt alle meine Befürchtungen. Hannes ist in sich zusammengesackt und weint. Klaas schiebt sich näher zur Tür und legt Hannes eine Hand auf die Schulter. Verzweifelt sehen wir uns an. Und in meiner Phantasie sehe ich Hannes bereits sein Bündel schnüren. Ich balle die Fäuste und beschließe, um Hannes zu kämpfen!
Da springt mir – völlig unbewusst – ausgerechnet Bauer Holtmann bei. Er war am Anfang so skeptisch gegenüber Hannes. Aber als der seine Ungeschicklichkeit bei der Dachreparatur ausgeglichen hat, hat er Hannes ins Herz geschlossen.
„Es kann ja sein, dat Anfang April noch eene andre Lösung her muss. Aber bis dahin sollt'n wir die Peerde nich scheu mach' n. Die Reise nach Duderstadt Anfang März is ein guter Grund zum Aufschub, den wir nutz'n sollt'n, um Zeit zu gewinn'n. Wenns sein muss, komm' n wir mal eenen Sonntag ohne den Pastor aus. Wo könnte Hannes denn bleib'n in Duderstadt, Herr Pastor? Gibt es dort een festes Dach für ihn?"
Die Mienen aller Verbündeten erhellen sich wieder etwas.
„Aber natürlich gibt es dort eine Bleibe. Wenn es gar nicht anders geht, wird er im Haus oder in der Werkstatt meines Bruders angestellt, bis Gras über die Sache gewachsen ist. Und bis dahin kann er Anna Adam zumindest noch bei einem Teil der Frühjahrsbestellung behilflich sein."
Kurz schaut er in die Runde der Männer.
„Ich habe Hannes versprochen, dass er sich auf mich verlassen kann. Er vertraut mir. Wir müssen einen Weg finden! Aber wenn ich in eure Gesichter schaue, dann weiß ich, dass auch ihr das wollt. Und dafür danke ich euch."
Kurz darauf hebt Vogt Drebber die Versammlung auf. Bevor wir es verhindern können, verschwindet Hannes aus dem Haus. Ich sammle bei der Drebberin die Kinder ein, Klaas hakt sich bei der Lene unter. Und als wir auf die Dorfstraße treten, sehen Klaas und ich, wie Hannes sich grade an Klaas Tor zum Stallgang auf Hurtig schwingt und im Galopp über die Almende davonprescht. Er hat nicht mal seinen warmen Mantel an, nur den leichten Umhang für den Kirchgang. Eine kalte Hand greift nach meinem Herz. Und Klaas fängt sich einen Klaps von der alten Lene ein, weil ihm ein herzhaftes „So'n Schiet!" entfährt.
„Klaas! Nich vor den Kinners!"
Ich schleiche nach Haus wie geprügelt. Wieder bin ich unruhig. Wieder schaut Jakob mich so fragend an. Das Peterchen jammert und will beschäftigt werden. Susanna klammert an mir. In meiner inneren Not gehe ich nach nebenan zu Jorge und Irmel. Der kleine Jasper beschäftigt Jakob. Susanna spielt mit den Hasen, die im Stallgang der Krumms ein kleines Gehege haben. Und das Peterchen erkundet die fremde Diele. Irmel versorgt mich derweil mit einem beruhigenden Tee und setzt sich einfach zu mir. Da die Kinder abgelenkt sind, können wir miteinander flüstern, und so kann ich ihr von meinen Sorgen erzählen. Dass der Hannes abgehauen ist heut Mittag. Dass ich Sorge hab, er könnte jetzt gleich ganz verschwinden, weil er keine Last sein will. Dass die Kinder spüren, dass was nicht stimmt.
„Un dat dein Herz so schwer wird, wenn er nich mehr um dich is."
Irmel schaut mich warm an, und ich erschrecke.
„Mach dir keine Sorgen, Anna. Dat seh nur ik, weil ik dich gut kenn. Ik kann dich gut versteh'n. Un er tut ja auch den Kinners so gut. Die wird es genauso hart treff'n wie dich."
Ich nicke bloß.
„Aber komm, lass dich ablenk'n. Stimmt es, dat der Jakob grade im Swiensgalopp dat Les' n un Schreib'n lernt?"
Ich nicke.
„Aber ich weiß gar nicht, ob ich mich darüber freuen soll. Was soll ein unfreier Kätner mit Lesen und Schreiben? Er soll sich doch normal fühlen können zwischen seinen Altersgenossen, hier im Dorf."
Irmel schüttelt den Kopf.
„Ach, Anna. Heut is wohl alles schwatt. Du kannst auch les'n und schreib'n. Und niemand im Dorf möchte dich un dein freundliches Wesen un deine Hilfsbereitschaft missen. DAT is nu wirklich keen Hinnernis, um dazu zu gehör' n!"
Es dämmert bereits, als ich mit den Kindern zurück in meine Kate gehe. Und es ist stockdunkel, als schließlich Hannes hinten zur Tür hereinschleicht. Er will gleich die Leiter rauf, aber Jakob ist schneller. In Windeseile springt er von der Pritsche, rast zu Hannes und hängt sich an sein Bein. Hannes zuckt zusammen, schließt die Augen und steht ganz still.
„Komm Abendessen, Hannes!"
Stumm lässt sich Hannes von Jakob zum Tisch ziehen. Dort krabbelt sofort Susanna auf seinen Schoß, und das Peterchen quiekt vergnügt auf bei seinem Anblick. Hannes schaut gequält lächelnd von einem Kind zum anderen.
„Habt ihr mich so sehr vermisst? Hurtig brauchte nur ein bisschen Bewegung."
Susanna lehnt sich gegen ihn, richtet sich wieder auf und schaut ihn erstaunt an.
„Du bist ja ganz kalt, Hannes!"
Und dann rutscht mein kleines Mädchen von seinem Schoß, läuft zur Pritsche und fängt an, an unseren Decken zu zerren. Nun muss Hannes doch lächeln. Er geht zu ihr rüber und nimmt ihr mit einer Verbeugung die Decken ab, die sie hinter sich herzieht. Er schlingt sie um sich und setzt sich wieder. Seine Hände sind ganz blau als er sie um den Becher mit dampfendem Tee schließt. Aber Susanna ist nun zufrieden und hockt sich wieder auf seinen Schoß.
„Du darfst nicht krank werden, Hannes!"
Hannes schießen die Tränen in die Augen, als er das kleine Mädchen an sich drückt.
„Das werd ich nicht, ich geb mir Mühe. Versprochen! Das geht auch gar nicht. Hier ist ja niemand, der mich herumtragen könnte, wenn ich keine Luft mehr bekomme."
Wie um Himmels Willen sollen wir diese völlig verkrampfte Situation und Stimmung wieder auflösen???
Ich bin ratlos und am Ende meiner Möglichkeiten.
„Hannes, wollt Ihr hier unten schlafen, wo es wärmer ist? Ihr seid wirklich durchgefroren und solltet es warm haben heute Nacht."
Er schüttelt den Kopf.
„Wir haben so oft immer neue Decken gekauft in den letzten Wochen. Ich werde mich schon warm halten können. Macht Euch keine Sorgen, Frau Adam."
Nach dem Essen hilft er mir noch, die Kinder ins Bett zu bringen. Mit großen Augen und Wehmut im Gesicht lauscht er dem Schlaflied. Er singt nicht mit, wie er es doch seit einiger Zeit getan hat. Dann steigt er bald die Leiter hinauf. Als die Kinder schlafen, folge ich ihm.
Ich strecke meinen Kopf über die Kante zum Dachboden und sehe ihn fragend an. Er zittert schon wieder.
„Hannes? Darf ich raufkommen?"
Er nickt. Ich hocke mich auf den Schemel und schaue ihn an.
„Warum, Hannes?"
Ich wage kaum zu flüstern. Er lässt sich mit der Antwort Zeit.
„Weil ich nicht mehr weiter weiß. Ich bin eine Last. Ich bin eine Gef..."
Widerwillig schüttele ich den Kopf. Ich will das nicht hören.
„Nein, Hannes. Das stimmt so nicht. Ihr seid keine Gefahr, Ihr seid IN Gefahr. Und zwar ganz egal, wo Ihr seid, solange Ihr nicht wisst, von welcher Seite Euch diese Gefahr droht. Aber wenn Ihr von hier davonlauft, dann habt Ihr nicht nur keinen Schutz. Dann habt Ihr nicht mal Menschen um Euch, die wissen, dass Ihr Schutz braucht."
Ich kann nicht erkennen, was hinter seiner Stirne vor sich geht. Also rede ich einfach weiter, weil ich die Stille nicht ertragen könnte.
„Ihr habt gehört, dass es schwierig ist. Aber Ihr habt genauso gehört, dass alle wollen, dass Ihr bleibt. Wir haben noch über zwei Monate Zeit, nochmal so viel, wie Ihr hier seid. Zeit für Träume, die Euch weiterbringen. Zeit für Ludo, Euch zu finden. Dann könnt Ihr immer noch nach Duderstadt laufen. Aber verschwindet bitte nie, nie wieder einfach so in der Kälte. Die Sorge hat mich heute beinah verrückt gemacht."
Hannes schaut mich mit großen Augen an. Dann senkt er den Blick.
„Und die Kinder gleich mit. Sie hängen viel zu sehr an mir, ich sollte schnell wieder Abstand halten."
Jetzt werde ich zornig.
Was für ein Unsinn!
„Oh nein, Hannes. Ihr werdet ganz bestimmt nicht Abstand zu den Kindern halten! Wenn Ihr nach Duderstadt müsst, kann man ihnen das erklären. Wenn Ihr sie kalt behandelt, während Ihr da seid, nicht. Verschenkt ihr Vertrauen nicht! Sie tun Euch gut, lenken Euch ab, machen Euch glücklich. Stoßt doch das Glück nicht von Euch, indem Ihr ihnen und Euch selbst weh tut!"
Hannes schweigt. Nach einer Weile lösen sich die ersten Tränen aus seinen Augen. Er schlägt die Hände vors Gesicht.
„Haltet ein, Anna. Haltet ein! Es ist nicht recht. Ich darf nicht bleiben, aber ich kann nicht gehn. Wo führt das hin???"
Stumm trete ich hinter ihn, lege meine Arme um seine bebenden Schultern und halte seinen Schmerz mit ihm aus.
Dabei zittert er immer wieder. Schauder laufen ihm den Rücken hinunter, er klappert mit den Zähnen. Schließlich fühle ich seine Stirn – und schüttele den Kopf.
„Hannes, packt Euren Strohsack und Eure Decken. Ihr kommt mit hinunter. Nein, keine Widerrede! Noch einmal pflege ich hier heroben keinen fiebernden Mann."
Erstaunt sieht er mich an. Auch seine Augen glänzen nun fiebrig.
„Seid Ihr tatsächlich erstaunt, dass Ihr nun krank werdet? Ihr ward seit dem Mittag ohne gescheiten Mantel in der Kälte unterwegs!"
Widerstandslos klaubt Hannes seine Habseligkeiten und Decken zusammen und steigt mit wackeligen Knien die Leiter wieder hinunter. Völlig kraftlos vor Kälte, Fieber und Trauer schleppt er sich zu meiner breiten Pritsche und rollt sich sofort neben den Kindern in seine Decken. Er schläft schon, bevor ich das Licht gelöscht, den Herd abgedeckt und mich dazu gelegt habe.
Diese Nacht erinnert mich an die Sturmnacht im November. Nur dass der fiebernde, träumende Mann nun nicht auf meinem Dachboden sondern neben mir auf meiner Pritsche liegt, so dass ich nicht immerzu aufstehen muss, wenn ich ihm die Stirn kühlen oder ihm Wasser zu trinken einflößen muss.
Schon längst habe ich aus ein paar der vielen gekauften Decken und Stoffe einen dicken Wandbehang gemacht und damit die Wand an der Pritsche abgehängt. Es ist nun viel angenehmer hier, weil es nicht mehr zieht in der Nacht. Also packe ich meine beiden großen Kinder an die Wand und lege mich selbst in die Mitte. So kann ich besser reagieren. Wenn Hannes fiebert, kühle ich seine Stirn. Wenn er zittert, lehne ich mich an ihn und wärme ihn zusätzlich. Außerdem plagen ihn einmal mehr schlimme Alpträume. Hannes, Ludo und Karl spuken durch seinen Kopf und zerren ihn hin und her mit seltsamen Eindrücken und unverständlichen Botschaften. Dann klammert er sich an mich, als gelte es sein Leben. Erst gegen Morgen fällt Hannes in tiefen, ruhigen Schlaf.
Ich muss auch eingeschlafen sein, denn ich werde geweckt davon, dass Jakob über meine Beine drüberkrabbelt, am Fußende von der Pritsche rutscht und zur Leiter nach oben stiefelt. Dass auch Hannes hier liegt, scheint er nicht bemerkt zu haben in seinem morgendlichen Tran. Ich warte einfach ab. Bald schon kommt er zurück und verkündet, was ich längst weiß.
„Mutter, der Hannes ist schon wieder fort. Das ist ein komischer Knecht!"
Nun bremse ich ihn doch.
„Still, Jakob. Hannes ist hier. Er hat Fieber und Alpträume, deshalb habe ich ihn heruntergeholt. Wir sollten ihn schlafen lassen, er hatte eine schwere Nacht."
Nun bemerkt Jakob das Gesicht zwischen all den Decken.
„Ach so!"
Da ich nun sowieso nicht mehr einschlafen kann, erledige ich gemeinsam mit meinem verständigen Jakob alle Morgenaufgaben. Ganz leise wecken wir Susanna und das Peterchen, Jakob hilft beim Anziehen, ich melke die Ziegen, wir machen leise Frühstück. Nach dem Essen bringt Jakob Susanna zur Pastorenfamilie, wo sie mit ihrer kleinen Freundin Evchen spielen kann. Er selbst läuft den Hügel hinauf zum Müller.
Ich bleibe mit Peter und dem fiebernden Hannes allein. Und das ist auch gut so, denn auf einmal fängt Hannes an, sich im Traum ganz furchtbar mit jemand zu streiten. Das ist neu. Er gibt Widerworte, scheint aber nicht gehört zu werden. Er duckt sich, er weint, aber ich verstehe nahezu kein Wort.
Wie gut, dass er sich hinterher immer so gut erinnert, vielleicht erfahren wir heute Entscheidendes mehr.
Irgendwann sackt er wieder in sich zusammen und fällt in tieferen Schlaf.
Das Dumme ist nur – auch das ist diesmal anders. Hannes hat zwei Tage lang hohes Fieber, und als er dann endlich wieder aufwacht – kann er sich an absolut nichts erinnern.
Er erholt sich schnell wieder, er hat etwas seinen Gleichmut und seinen Humor wiedergefunden, die Kinder genießen wieder seine volle Aufmerksamkeit und Liebe, unsere Stimmung ist nicht mehr so bedrückt. Draußen wird es wieder kälter, aber drinnen sind wir fröhlich. Hannes spielt mit den beiden Kleinen und bringt Jakob das Lesen und Schreiben bei. Ich sticke abwechselnd an der Satteldecke für den Verwalter Brudenhusen und an meinem eigenen schönen Schultertuch, versorge die Tiere, mache Buttermilch. Auch im Dorf geht alles seinen Gang. So vergeht der Januar. Die Sau beim Ferz bekommt neun gesunde Ferkel. Klaas lernt, auf Hurtig zu reiten, oder – besser – Hurtig lernt, Klaas auf seinen Rücken zu lassen. Ein Backtag kommt und geht. Der Frühling, der März und der Hauser sind noch fern.
Also versuche ich, nicht daran zu denken, dass Hannes fort will. Ich versuche, nicht daran zu denken, dass ihm jemand nach dem Leben trachtet. Ich versuche, nicht daran zu denken, dass Hannes eigentlich nicht hierher gehört, nicht zu mir gehört und auch nie gehören wird. Wir leben ein stilles, vergnügtes Leben. Zahllose kleine Gesten, Blicke und Worte knüpfen ein feines Band zwischen Hannes, den Kindern und mir.
Mi. 14.2. a.d. 1571
Doch bald schon soll ich begreifen, dass Hannes nicht vergisst. Es geht auf den Sonntag Estomihi zu, es ist Mitte Februar, bald beginnt die Fastenzeit, die Satteldecke für den Verwalter ist fertig bestickt. Nun muss ich die irgendwie nach Gieboldehusen bringen. Aber mir graut vor dem Weg. Kutsche fahren? Mit oder ohne Kinder? Laufen wie bisher? Mich von jemand anderem fahren lassen? Ich kann mich nicht entscheiden. Also gehe ich mit Jorge und Klaas zum Drebber, damit wir uns beraten können.
„Einerseits ist es albern, dass ich dafür nun dauernd um Hilfe bitte. Früher habe ich diesen Weg auch immer allein bewältigt. Aber nach den furchtbaren Erfahrungen an Heilig Abend fürchte ich mich jetzt vor dem Weg. Andererseits darf Hannes nicht wieder mit, das ist für ihn zu gefährlich. Die Kinder bleiben auch sicher gerne bei ihm zu Haus. Sie haben so viel Vertrauen gewonnen, und sie mitschleppen – das werde ich nie wieder tun. Ich bin einfach ratlos."
Eine Weile beraten wir hin und her. Schließlich fällt uns auf, dass eigentlich jedes Jahr kurz vor der Frühjahrsbestellung manche Bauern noch das eine oder andere vom Markt brauchen. Werkzeug muss repariert oder ergänzt werden, das Futter wird knapp, wenn es möglich ist, sollte das Saatgut ergänzt werden. Und so kommen wir schließlich zu dem Schluss, dass Jorge bei den Dörflern nach dem Bedarf fragen und dann mit seinem Karren zur Stadt fahren soll. Er bekommt dafür mal wieder das Pferd vom Drebber und bringt mich nebenbei zum Schloss, damit ich die Satteldecke abliefern kann.
Dann reden wir noch lange über Hannes. Wie es ihm geht, ob und wie wir ihm noch helfen können. Was er jetzt von uns brauchen könnte. Da er seit den Fiebertagen wieder fröhlich scheint und das Thema Hauser und Fortgehen nie wieder erwähnt hat, sind wir sehr unsicher. Aber es ist, als hielte er sich uns alle vom Leibe, als wolle er das mit sich allein ausmachen, wie es für ihn weitergehen kann. Es geht aber nicht nur um ihn. Und darum fassen wir einen Entschluss.
Am Abend, als die Kinder sicher schlafen, kommen die drei Männer zu uns. Jorge hat bereits im Dorf herumgefragt und sich eingeprägt, was alles gebraucht wird. Und ohne, dass ich das Hannes angekündigt hätte oder mich daran beteilige, beraten die Männer nun einfach weiter über diese Fahrt. Hannes wird so „vor vollendete Tatsachen" gestellt. Er ist perplex, mehr kann ich nicht erkennen an seinem verschlossenen Gesicht. Schweigend hört er sich an, wie die drei anderen eine Liste aufstellen, die Kosten überschlagen, das Geld zählen. Und das reicht natürlich hinten und vorne nicht, denn die Bauern haben ja nichts.
Irgendwann steht Hannes wortlos auf, steigt seine Leiter hinauf, kommt mit einer Hand voll kleinerer Münzen wieder und schiebt sie energisch zu Jorge über den Tisch. Alle Augen richten sich auf ihn.
„Hannes, das geht nicht. Das können wir nun wirklich nicht mehr mit der Erbschaft begründen."
Da blitzen seine Augen auf.
„Ich bin eh bald weg. Dann könnt ihr ruhig erklären, woher das Geld kommt! Jetzt ist doch alles egal. Ich kann meine Träume nicht mehr erinnern, wenn ich aufwache, also kann ich nicht bleiben. Werd ich halt Zimmermann in Duderstadt. Auch recht. Nehmt es!"
Klaas Gesicht verzieht sich in Sorge.
„Hannes, was is?"
Stures Schweigen.
Tiefes Durchatmen.
„Seid ihr gar nicht auf die Idee gekommen, ich könnte Frau Adam wieder nach Gieboldehusen bringen wollen? Oder zumindest gern mit beraten, wie es diesmal gehen kann? Bin ich für euch eigentlich schon weg?"
Der Zorn in seiner Stimme wandelt sich zu Schmerz, noch während er spricht.
Und so weh es tut, ihn so zu sehen – wir haben ihn da, wo wir ihn haben wollten. Raus aus der Lethargie, weg mit der Maske der Freundlichkeit, Herz über Kopf hinein in das Geständnis, dass er eigentlich hier bleiben möchte, weiter dazugehören möchte, sich als Teil unserer Gemeinschaft begreift und das auch gar nicht hergeben möchte – auch wenn er seit Wochen so tut, als sei alles ganz normal. Ich mache schnell ein paar Schritte zum Herd, tu so, als müsse ich mich um das Feuer und den Tee kümmern. Sie sollen meine Tränen nicht sehn.
Klaas gibt sich einen Ruck.
„Hannes, bitte glaub mir. Wenn es irgendwas gibt, was ik NICH will, dann isses, dat du gehst, dat du dich ausgeschloss'n fühlst, dat du einsam inner Fremde versauerst. Du bist mir wichtig, du bist mein Freund, ik möcht dich niemals verlier'n. Aber ... du selbst hast dich uns in den letzten Wochen entzog'n. Du selbst hast eene Mauer des Schweig'ns zwisch'n uns hochgezog'n. Du warst mit eenem Mal nur noch lächelnde Hülle. Es hat unendlich weh getan, dir dabei zuzukieken – für mich, un für dich selbst. Warum tust du dir das an?"
Nun laufen Hannes stille Tränen übers Gesicht. Klaas fasst sich ein Herz und zieht den Freund in seine Arme.
„Lauf nich mehr vor uns davon, Hannes. Du bist keene Last, du bist een Freund. Ik werd dich nich aufgeb'n. Niemals!"
Nach einer ganzen Weile schiebt Klaas Hannes wieder von sich und zwingt ihn, ihm in die Augen zu sehen.
„Hannes, als ik een Jung war, hatt ik Träume. Mein Vadder war en freier Buur mit 'nem groß'n Hof. Aber meine Eltern starb'n früh anner Krankheit, un auf eenmal war ik, viel zu jung, allein un durch die Schikan'n des neu'n Verwalters plötzlich een unfreier Kleinbuur. Der Hof is groß, aber mein Leb'n wurde plötzlich sehr klein un einsam. Ik hab lang gebraucht zu versteh'n, dat ik meene alt'n Träume loslass'n muss, damit ik neue träum'n kann."
Endlich schaut Hannes ihn frei heraus und aufmerksam an.
„Heut pass'n meine Träume zu mein'm Leb'n, un mein Leb'n passt zu mein'n Träum'n. ... Wenn du die Träume über dein altes Leb'n nich mehr verstehst – dann träum neue. Bau dir ein Leb'n auf, dat zu dir passt, dat dich glücklich macht. Macht es dich glücklich, Zimmermannsgeselle in Duderstadt zu sein? Dann tu es. Macht es dich glücklich, Anna Adams Knecht zu sein un all deine Liebe an ihre Kinder zu verschenk'n – dann kämpfe drum! Un ein ganzes Dorp wird dir dabei helf'n. Nur – du selbst darfst nicht aufgeb'n!"
Eine ganze Weile schweigen wir, lassen das alles in Hannes arbeiten. Dann ist es mit einem Mal, als ginge die Sonne auf. Hannes kann wieder freier atmen, er richtet sich auf, ein feines Lächeln stiehlt sich in seine Mundwinkel, seine Augen bekommen endlich wieder Glanz. Er drückt Klaas die Hand.
„Dank, du treuer Freund. Das habe ich wohl gebraucht. ... Hilfst du mir, diesen neuen Traum zu finden, der zu meinem Leben passt?"
Klaas nickt. Jorge und der Drebber atmen tief durch. Und ich fühle mich sehr erleichtert. Wenn Hannes innerlich wieder bei uns ist, dann können wir wieder auf eine Lösung hoffen.
Jetzt endlich spricht auch der Drebber wieder mit.
„Gut, Hannes. Ik freu mich ehrlich, dat Ihr bleib'n wollt. Is es denn für Euch in Ordnung, wenn Ihr noch eenmal den Ausweg über Duderstadt nehmt? Es is der einfachste Weg, dem Hauser zu entgeh'n. Un wir gewinn'n eenen voll'n Monat Tied, eene Dauerlösung zu erdenk'n."
Hannes nickt dem Drebber stumm zu und wendet sich an Jorge.
„Danke, dass du den Weg übernehmen willst. Ich möchte Frau Adam nicht wieder die Strecke laufen lassen, aber ich sollte dort wohl tatsächlich nicht wieder erscheinen. Ich vermute aber, dass der Wirt die Kutsche und der Stallbursche das Pferd vom Vogt erkennen werden. Gibt es eine weitere Herberge in der Stadt? Auch, dass die Bäuerin plötzlich nicht mit Kindern und Knecht reist sondern mit einem anderen Bauern, wird seltsam wirken."
Jorge schüttelt den Kopf.
"Ja, es gibt eene annere Herberge. Un ik nehm nich die Kutsche sondern mein'n eigen'n Karr'n. Bei dem, was wir einzukauf'n hab'n, ist dat weitaus sinnvoller. Wir woll'n früh morgens los. Wenn der Vogt Anna Adam zügig wedder zieh'n lässt, könnt'n wir es sogar schaff'n, dat wir am selb' n Tag zurückkehr'n un gar keine Herberge brauch'n. Wir werden seh'n."
Da fällt mir noch etwas ein.
„Der Bauer. In Rhumaspring. Er ist uns sehr gewogen. Wenn wir es nicht ganz zurückschaffen, können wir sicher auch bei ihm einkehren. Ja, wir können schon auf der Hinfahrt dort halten und ihn fragen, ob wir ihm etwas aus der Stadt mitbringen dürfen."
Klaas lächelt verschmitzt.
„Auf Dauer könnte ein Verbündeter in Rhumaspring wirklich nützlich sein. Vielleicht müss'n wir ihn dafür ein bissch'n in unsere Kart'n kiek'n lass'n. Aber ik fress een'n Bes'n, wenn die beid'n annern Dörfer nich genauso unter dem Brud'nhus'n un sein'm Spießgesell'n leid'n wie wir. Mir is jetzt jedenfalls wedder viel wohler als noch heut Morg'n."
Warm sieht er Hannes an und gibt ihm einen freundschaftlichen Schubs gegen die Schulter.
„Und jetzt ab ins Bett mit euch und uns allen. Meine Kinder schlafen nicht länger morgens, weil ich abends nicht ins Bett finde."
Mit diesen Worten schmeiße ich die Gäste hinaus. Hannes schließt sorgfältig die Türe hinter ihnen und geht zu seiner Leiter. Er hat schon einen Fuß auf der untersten Sprosse, als er sich leise nochmal an mich wendet.
„Danke, Anna."
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29.12.2021
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