06 - Ungeduld und Zorn
↠ ♟- 𝔇𝔬. 30.11. 𝔞.𝔡. 1570 𝔟𝔦𝔰 𝔖𝔞. 2.12. 𝔞.𝔡.1570 - ♟↞
Hannes scheint einen inneren Schalter umgelegt zu haben. Hat er bisher nur geschlafen, so ist er nun seit zwei Tagen durchgehend wach, dämmert nur ab und zu aus Langeweile, starrt viel durch die Dachbodenluke zu mir herunter und grübelt vor sich hin. Es ist seltsam. Es scheint, als müsste ich ihn nun von einem auf den anderen Tag eher bremsen als pflegen. Nun wird er Geduld lernen müssen, während er zu seiner eigenen Sicherheit auf meinem kleinen, zugigen Boden eingesperrt bleibt.
Es tut ihm nicht gut, dass er hier so zu Untätigkeit gezwungen ist. Darum fragt er mich schon bald, ob er helfen, mir irgendeine Arbeit abnehmen kann.
„Und wenn es Frauenarbeit ist, Frau Adam. Lasst mich irgendwas tun!"
Ich lächele über seinen Eifer.
„Es gibt hier durchaus genug Arbeit für einen Mann zu tun. Mein Jacob Adam ist nun fast ein Jahr tot, und mit den kleinen Kindern kann ich manches einfach nicht so anpacken. Vieles nehmen mir die Nachbarn ab – und manches bleibt eben liegen. Aber Ihr seid verwundet. Grobe Arbeit mit beiden Händen könnt Ihr noch gar nicht tun. Habt doch bitte noch etwas Geduld."
Manchmal, während ich meiner Hausarbeit nachgehe, liegt er bäuchlings oben am Rand der Luke und schaut mir zu. Dann fragt er mir Löcher in den Bauch, was ich da tue, warum ich es so und nicht anders tue, will wissen, wie man was macht. Einmal sagt er, er möchte das Melken lernen. Dann wieder steigt er am Abend die Leiter runter und gesellt sich zu mir.
Wann immer ich Stickarbeit vom Verwalter bekomme, arbeite ich gewissenhaft. Aber wenn etwas an Garn oder kleine Stücke Stoff übrig bleiben, so halte ich doch ein klein wenig davon zurück. Darum habe ich auch dunkelblaues und weißes Garn da, das ich brauche, um den feinen Mantel von Hannes zu flicken. Hannes schaut mir auf die Hände, lobt meine feinen Stiche und unsichtbaren Nähte.
Schon bald scheuche ich ihn die Leiter wieder hinauf, damit er nicht entdeckt wird. Und das fällt ihm ganz offensichtlich sehr, sehr schwer. Er läuft stundenlang oben im Kreis, murmelt immer wieder die Namen aus seinem Traum, starrt aus der winzigen Dachluke Richtung Wald und fragt mich dann aus über die Nacht seines Auftauchens hier. Gleichzeitig geht er nie darauf ein, wenn ich Andeutungen mache, dass er aus besseren Kreisen stammen könnte.
Die nächsten Tage bringen viel Arbeit. Der 1. Advent steht vor der Tür, kündigt die Ankunft unseres Herrn Jesus Christus an, und dann wird Weihnachten sein. Und am Tag vorher noch – wie an jedem ersten Samstag eines Monats – steht uns der Steuereintreiber des Verwalters ins Haus. Bis dahin muss noch viel geschehen im Dorf. Heut ist Schlachttag und Backtag. Es ist der Vorbote für die besinnliche Adventszeit. Und so rühren alle Menschen im Dorf eifrig die Hände. Die Männer schlachten ein Schwein, einem jeden Haushalt wird der Anteil zugewiesen, es wird geräuchert, gepökelt, Wurst gestopft, das Räucherhaus wird eingeheizt. Die Frauen schaffen beisammen, was sie haben zum Backen, in den Trögen wird der Teig geknetet, Brote geformt. Der Ofen im Backhaus am Dorfplatz raucht, während Brot, Kuchen und allerlei Gebäck entstehen, um für die einzige Abwechslung dieses Winters vorzusorgen. Wir Frauen arbeiten gemeinsam, tratschen, singen auch und haben viel Freude.
Die Kinder ziehen singend in den Wald, sammeln Zapfen und immergrüne Zweige und schmücken mit der Pfarrfrau das Portal der Kirche und den Altar. Die Kleineren sind ganz aufgeregt und fragen immer wieder, wie lange es noch dauern wird bis Weihnachten. Und wann die Proben fürs Weihnachtsspiel beginnen werden. Der blinde Jasper sitzt in der warmen Kirche und erzählt den Kleinen Geschichten vom Advent und vom Jesuskind. Weil das aufgeregte Fragen kein Ende nehmen will, denkt er eine Weile nach.
Als er die Stimme des Pastoren hört, hat er eine Idee.
„Herr Pastor? Wie viele Kerzen steh'n auf unser'm Altar?"
Der Pfarrer kommt zu ihm herüber.
„Es sind vier, Jasper. Warum?"
Der Blinde lächelt.
„Dat trifft sich gut. Wie wär es, Herr Pastor, wenn Ihr nich sofort alle Kerzen anzünd'n wolltet. Ihr könntet an jed'm Adventssonndag eene Kerze mehr anzünd'n. Und so könnt'n diese neugierig'n klein'n Nas'n hier immer schnell seh'n, wie lang es noch bis zur Weihnacht ist."
Der Pfarrer überlegt einen Moment.
„Ja – doch. Das ist eine Möglichkeit. Ich fange diesen Sonntag an, und an Heilig Abend, was dieses Jahr auch ein Sonntag ist, werde ich die vierte Kerze entzünden können."
Er wendet sich an die Kinder.
„Würde euch das gefallen?"
Die Kleinen nicken eifrig, und so ist es beschlossene Sache.
Am Abend halten sich alle den schmerzenden Rücken. Aber diese gemeinsam verbrachten Tage tun doch besonders in der kalten Jahreszeit so gut, sind eine schöne Abwechslung zum winterlichen Einerlei. Die Kinder sind ausgetobt vom Spaziergang in den Wald und vergnügt von der Erzählstunde mit Jasper. Ich gebe meinen beiden Großen einen Kuss, bevor ich sie wieder zur Lene schicke. Stolz trägt Jakob das Brot, das wir für sie mitgebacken haben. Ich weiß, dass sie es bei der Lene gut haben, dass auch der Jungbauer Klaas sich gut kümmert. Und dass es notwendig ist, um mir mit meinem geheimen Gast den Rücken freizuhalten. Ich spüre, dass es mir einfach gut tut, mich mal ein paar Tage nur um das Peterchen kümmern zu müssen. Aber ich sehe dennoch mit etwas Bedauern hinter ihnen her. Ich vermisse sie!
Zu Hause empfängt mich schon wieder Hannes an der Dachluke. Er will wissen, wie der Tag war, und zeigt auch sonst ein reges Interesse an allem, was das Dorf angeht. Er wäre gerne dabei gewesen beim Schlachten, probiert mit Genuss das frische Brot und etwas Gebäck. Wissbegierig versucht er, unser Dorfleben und unsere Arbeit zu erfassen. Er fragt nach der Ernte, den Steuern, schaut sehr irritiert, als ich auf seine Frage nach einer Schule für die Kinder nur laut auflache.
„Was ist daran so seltsam?"
Himmel, in was für einer Welt hat er vorher gelebt?
„Eine Schule für Dorfkinder, am Rande des Nichts? Der Landesfürst, der das selbstverständlich möglich macht, muss erst noch geboren werden!"
Der Pastor, der Vogt und ich sind die einzigen hier im Dorf, die lesen können. Der Pastor hat natürlich studiert. Der Vogt kann lesen, weil er als junger Mann im Handelskontor seines Onkels in Herzberg gedient und dort etwas gelernt hat. Ich kann es, weil die Freifrau von Lenthe, die das Waisenhaus geleitet hat, in dem ich aufgewachsen bin, es uns beigebracht hat. Sie war der ziemlich ungewöhnlichen Auffassung, dass alle Kinder dort erst zur Schule gehen und dann einen richtigen Beruf lernen sollen, bevor sie das Haus verlassen und ins Erwachsenenleben geschickt werden.
Hannes nickt nachdenklich, als ich ihm das erzähle. Dann stutzt er plötzlich.
„Ihr seid im Waisenhaus aufgewachsen, Frau Adam?"
Ich weiß selbst nicht warum, aber nun weiche ich ihm aus.
Genug erzählt, es führt kein Weg mehr zurück in die glückliche Kindheit dort ...
„Ja, bin ich."
Und ich bin heilfroh, dass nun das Peterchen nach mir ruft und Hannes deshalb leider von der Luke fortrücken muss, weil ich das Kind nähren will.
Aber mein Gast lässt nicht locker. Als er hört, dass ich Peter das Schlaflied gesungen habe und das Kind keine Töne mehr von sich gibt, schaut er vorsichtig zur Luke heraus und fragt dann leise weiter.
„Frau Adam. Wenn Ihr ... wenn Ihr ... lesen könnt. Habt Ihr etwas zu lesen hier?"
Er lässt nicht davon ab. Und er weckt eine Sehnsucht in mir, die ich so lange und mühsam unterdrückt habe. Halt stille, liebe Seele. Wärst du nicht von dort vertrieben worden, hättest du nun nicht diese drei wunderbaren Kinder!
„Ja, Herr. Habe ich. Wir haben im Waisenhaus alle zur Konfirmation ein kleines Gebetbuch geschenkt bekommen. Das kann ich euch geben."
Ich greife in meinen Kasten unter die wenige Wäsche, die ich besitze, und ziehe das kleine, ledergebundene Büchlein hervor. Es ist mein kostbarster Besitz. Denn die Freifrau von Lenthe, die jedem und jeder von uns dieses Geschenk gemacht hat, war mir immer wie eine Mutter – und nie die strenge Waisenhausherrin. Sie hat es verstanden, uns trotz unserer Schicksale als Waisen Vertrauen ins Leben mitzugeben, hat uns ermutigt und sich persönlich darum gekümmert, dass alle in eine gute Stellung gekommen sind. Ich vermisse sie sehr.
Ich reiche das Büchlein zur Bodenluke hinauf. Vorsichtig nimmt Hannes meinen Schatz entgegen. Er spürt wohl, dass mir das so wichtig ist. Bald jedoch stellt er fest, dass es längst zu dunkel ist, um darin zu lesen. Ich höre die Enttäuschung in seiner Stimme, als er mich fragt, ob er das Buch oben behalten darf.
„Ich werde es sorgfältig verwahren. Aber dann habe ich etwas zu tun, was meine Seele beruhigt, wenn Ihr aus dem Haus seid."
Bei so viel unausgesprochenem Leid kann ich nicht nein sagen.
„Behaltet es oben, seht einfach zu, dass es nicht nass wird. Was der Seele gut tut, soll nicht im Kasten versteckt liegen."
Am Freitag Morgen geht Vogt Drebber durchs Dorf, begutachtet, wer von uns was geben kann, bedenkt, wer was geben muss, und fällt eine Entscheidung, denn morgen wird der Steuereintreiber Hauser kommen und die monatlichen Abgaben einfordern. Er wird - wie immer vor einem hohen Fest - eine lebende Sau, zehn Hühner, fünf Gänse und einiges mehr mitnehmen. Und wie immer hat keiner von uns genau das übrig, was von ihm gefordert wird. Aber danach fragt der Verwalter Brudenhusen nicht. So legen wir Monat für Monat zusammen und versuchen, gemeinschaftlich alle Forderungen zu erfüllen, ohne einem Hof völlig die Lebensgrundlage zu entziehen. Wir bringen in jeden Haushalt das Geforderte aus dem Allgemeingut und hoffen, am Ende des Winters für alle noch genug zu essen zu haben. Von mir bekommt der hartherzige Mann immer ein Huhn – oder eine fertige Stickerei, die der Verwalter bei mir in Auftrag gegeben hat. Er weiß um meine Fertigkeit mit der feinen Nadel und nutzt es aus, dass er mich so nicht für die Arbeit bezahlen muss.
Als der Samstag anbricht, ist es sehr still im Dorf. Wie jedes Mal ist niemand nach schwätzen oder singen zu Mute. Die Familien verharren in den Häusern und Katen, tun ihre Arbeit und warten, bis die „Heimsuchung" vorüber ist. Hannes wird einfach weiter auf dem Boden bleiben. Zunächst bringe ich Hannes genug zu essen für den Tag, verbinde seine Wunde, verstaue alle seine Habseligkeiten oben bei ihm wie den Sattel oder das Wams, den ich nochmal zum Flicken unten hatte. Dann verabschiede ich mich von ihm bis zum Abend, und er schließt sorgfältig die Luke. Ich hänge die Leiter an die Wand und meinen Hausrat daran, wie es vor seinem Auftauchen auch war. Nichts deutet nun darauf hin, dass seit zwei Wochen da oben ein Fremder haust.
Das Pferd muss aber aus Jungbauer Klaasens Stall heraus, sonst muss er das nicht nur abgeben sondern bekommt vielleicht sogar für die Zukunft die Steuer hochgesetzt. In aller Herrgottsfrühe wird also der warm angezogene und mit Proviant versehene kleine Jasper mit dem Pferd in den Wald geschickt. Nicht weit vom Müllerhügel sind einige Felsen, zwischen denen man sich einigermaßen trocken verstecken und eine Weile aufhalten kann, ohne vom Dorf gesehen und gehört zu werden. Klaas kommt mit Hurtig inzwischen recht gut zu Rande, und der kleine Jasper hat in den letzten Tagen geübt, sich das Tier vertraut gemacht, damit heute ja nichts schief geht. Unsere Vorräte an Winteräpfeln schwinden zwar zusehends, aber so ist am besten das Vertrauen des edlen Tieres zu gewinnen. Hurtig ist die Freude anzumerken, dass er ausnahmsweise etwas mehr Bewegung bekommt. Sonst geht nur der Klaas nachts mit ihm eine Runde ums Dorf, weil das Tier doch Bewegung braucht. Die Hufe sind mit Lumpen umwickelt gegen den Lärm, als der kleine Jasper das Pferd im weiten Bogen um das Dorf und die Allmende zum Wald führt.
Gegen Mittag trifft der Steuereintreiber ein. Er hat einen ganzen Tross mit Knechten und Wagen, auf denen es flattert, gackert und grunzt, Körbe mit Eiern, Säcke mit Getreide. In Wollershusen war er also schon. Auch der Müller muss seinen Anteil geben, einen Sack Mehl. Da das niemand sonst im Dorf hat und Mathes direkt dem Verwalter unterstellt ist, kann ihm dabei auch niemand helfen. Aber darum haben wir ja den Schlacht- und Backtag vorher – so kann der Eintreiber manches gar nicht mehr finden, was vorher noch da war.
Zu den meisten Häusern gehen die Knechte aus seinem Tross. Wirklich zu jedem Haus, sogar zum blinden Jasper, dem vorher gegeben wurde, was die Knechte wie immer von ihm fordern werden. Seltsamerweise gehen sie diesmal tatsächlich in alle Häuser hinein, lassen sich Zeit, sehen sich um, werfen einen Blick in jeden Stall. Das war bisher noch nie der Fall. Normalerweise bollern sie nur grob an die Tür und nehmen uns aus den Händen, was wir ihnen hinhalten. Zu mir kommt der Hauser persönlich, wenn es gilt, eine Stickerei zu holen oder einen Auftrag zu bringen. Und darum reitet er auch heute ungeduldig vor meine Tür, fragt herrisch nach dem feinen Hemd und wirft mir ein neues Bündel her.
„Der Herr Brudenhusen erwartet bis zur Weihnacht, dass du das Wams an den Schlitzen zierst und es rechtzeitig am 23. abends selbst bringst. Er wünscht ein neues Muster, das noch keiner hat."
Dann gibt er einem Knecht einen Wink, der greift das fertige Hemd und geht grußlos davon. Ob ich Zeit, Kraft, Material habe – interessiert ihn gar nicht. Aber: das ist wieder ein Huhn, das ich nicht abgeben muss. Und so halte ich stille, beschwere mich nicht und fange das neue Bündel einfach auf.
Der Steuereintreiber scheint diesmal ganz besonders schlechte Laune zu haben. Er lässt sich vom Pferd helfen, betritt ohne anzuklopfen das Haus der Drebbers und lässt sich von der Drebberin bedienen. Unser Vogt muss antreten und Rede und Antwort stehen. Hinterher erzählt er uns, was der Hauser gewollt hat. Er musste die Dorfliste vorlegen, wer wo wohnt, wer was hat. Er wurde peinlichst genau befragt, wer wann und wie ins Dorf kam, wer was besitzt. Und immer lauerte der Steuereintreiber mit stechendem Blick auf die Antwort. Fast scheint es, dass ihm die Fragerei wichtiger war als die Steuern und Abgaben. Dem Drebber stand trotz der Kälte der Schweiß auf der Stirn. Aber da nie direkt nach Hannes gefragt wurde, konnte er sich doch einigermaßen ehrlich aus der Befragung retten. Noch schlechter gelaunt als zuvor sehen wir den Steuereintreiber grußlos aus dem Haus treten.
Und er scheint seine schlechte Laune loswerden zu müssen. Ohne weitere Begründung und offensichtlich ohne jede Scham fordert er entgegen den festgesetzten Steuersätzen ein weiteres Schwein. Dann steigt er auf sein Pferd, schaut nicht mehr zurück und reitet Richtung Rhumaspring und Gieboldehusen davon. Der Vogt wird blass. Eh wir es uns versehen, holen die Knechte wahllos aus dem Stall von Bauer Ferz das letzte gute Zuchtschwein des Dorfes, laden es auf einen der Wagen und ziehen ab. Sein Knecht Kunz hält Ferz an den Armen fest und zieht ihn fort, damit er nicht versucht, das Unrecht zu verhindern. Der geprellte Bauer schäumt vor Wut.
Der Tross an Wagen und Vieh, mit all dem, was die Knechte in der Zwischenzeit aus den Häusern und Ställen geholt haben, folgt dem matschigen Weg in den Wald, um an der Kreuzung Richtung Norden abzubiegen. Und mit ihm geht ein Teil unserer Lebensgrundlage. Ratlos und entsetzt bleiben wir zurück. Ohne dieses Schwein werden wir das ganze nächste Jahr unser Soll nicht erfüllen können. Und doch sind wir machtlos gegen die Willkür, halten stille, bis der Tross nicht mehr zu sehen ist. Niemand will sein Leben verlieren, wie es mein Jacob Adam getan hat, weil er sich gegen genau diese Art von Willkür gewehrt hat.
Bauer Oswald Ferz, die Ferzin Marga und ihre beiden Töchter Grete und Linde stehen sprachlos und weinend vor dem nun leeren Schweinekoben. Was für ein Schlag! Der Vogt geht seufzend zu ihnen hin, schiebt sie in ihr Haus und wird nun sicher versuchen, zu trösten und eine Lösung zu erdenken – wo es keine Lösung geben kann. Zum ersten Male denke ich, was man zum Wohle des Dorfes mit dem vielen Geld im Beutel meines geheimen Gastes alles anfangen könnte. Aber meine Überlegungen enden sofort wieder. Gottes Wege sind unergründlich. Wir haben es nicht in der Hand, wir können nur Gott um seinen Beistand bitten, um dieses Leben hier zu bestehen. Keiner von uns – höchstens der Vogt – könnte von Rechts wegen überhaupt so viel Geld besitzen, wie die kleinste Münze in diesem Beutel wert ist. Ein Schwein einfach so auf dem Markt zu kaufen, übersteigt alles, was einer von uns jemals besitzen könnte. Also fügen wir uns in unser Schicksal.
Schweigend wenden sich alle wieder ihren Häusern zu und richten ihren Blick nach vorn. Das ist für heute überstanden, der Mann kommt erst in fünf Wochen wieder. Und ändern können wir sowieso nichts. Als ich mich meinem bescheidenen Zuhause nähere, sehe ich gegenüber den blinden Jasper vor seiner Türe stehen. Er lauscht angestrengt Richtung Dorf, hört meine Schritte im Matsch.
„Anna Adam?"
Ich antworte ihm zur Bestätigung mit einem Gruß und gehe auf ihn zu. Er kennt meine Schritte so gut wie meine Stimme.
„Könntet Ihr dem Vogt Bescheid geben, dass ich ihn dringend sprechen muss?"
Sogleich mache ich kehrt und berichte bei der Drebberin von Jaspers Anliegen, bevor ich endgültig nach Hause gehe.
Als ich gegen Abend wieder auf meinen Boden steige, meinem Gast zu essen bringe, sieht er mir erwartungsvoll entgegen.
„Träumt Ihr noch manchmal, Hannes? Oder war der seltsame Ritt von neulich der einzige Traum?"
Ich schaue ihn an, und er seufzt wieder.
„Da sind nur Fetzen, nichts, was ich festhalten könnte. Nur Hannes, der ist immer dabei."
Dann fragt er - wie auch in den letzten Tagen schon - sehr interessiert nach den Ereignissen des Tages.
Müde sinke ich auf seinen Schemel, um mir das Bündel zu besehen, das mir der Steuereintreiber zugeworfen hat. Es ist dick und sieht nach umfangreicher Arbeit aus, da sollte ich bald anfangen, denn mir bleiben nur gut drei Wochen. Zum Vorschein kommt ein neues Wams. Es ist purpurrot, reich wattiert und mehrfach geschlitzt. Zwischen dem weichen Samt blitzt kühle gelbe Seide auf. Dabei liegt ein Bund feinen gelben Seidengarnes.
Hannes kommt neugierig näher.
„Was ist das?"
Ich erkläre ihm, dass meine Abgaben an den Lehnsherrn im Grunde darin bestehen, dass ich dem Lehnsverwalter feine Stickarbeit abliefere.
Hannes starrt das Wams an.
„Aber das hier ist ein Kleidungsstück für einen König. Ein einfacher Verwalter darf doch solche Farben gar nicht tragen!"
Du erstaunst mich, Hannes. Woher weißt du, welche Farben welchem Stand zu tragen erlaubt sind? Und du merkst es selbst gar nicht!
Mir ist schon auch klar, dass unser Verwalter sich gerne über seinem Stande kleidet. Aber ich halte meinen Mund.
„Im Gegensatz zu den meisten anderen Dorfbewohnern habe ich den Verwalter schon mehrfach gesehen. Er selbst bewegt sich kaum aus dem Schloss, geht nie in die Dörfer. Er lässt alle Drecksarbeit seine Untergebenen erledigen. Aber wenn es gilt, dass ich ihm etwas anpassen muss, dann werde ich zum Schloss beordert – und kann sehen, wie der eitle Gockel reich gewandet umherstolziert und sich in hochherrschaftlichem Gebahren allzu gut gefällt. Er wird eben nicht kontrolliert."
Hannes schüttelt darüber den Kopf.
„Dann ist euer Lehnsherr entweder zu gutgläubig oder zu desinteressiert. Lässt er sich denn nie vorrechnen, wie es um seinen Besitz steht? Da müsste das doch auffallen!"
„Der Brudenhusen ist ein kleiner Mann, der gerne groß sein möchte und dabei über Leichen geht. Seit der junge Herr das Lehen von seiner Patin Agnes von Minnigerode geerbt hat, ist er nicht einmal hier gewesen. Niemand von uns hat ihn je gesehen oder weiß auch nur, wer er ist. Der Verwalter hat völlig freie Hand und nutzt das weidlich aus."
Hannes zuckt zusammen und fasst sich an den Kopf, wie immer, wenn ihn Kopfschmerzen plagen. Eine Weile sieht er mir schweigend zu, wie ich das Wams begutachte und die Garnstränge sortiere. Ich denke über ein neues Muster nach, überschlage im Kopf, wieviel Garn ich dafür brauche, wie lange es dauern wird.
Als ich Hannes berichte, was wir heute mit dem Steuereintreiber erlebt haben, wird er auf einmal unglaublich zornig.
„Wenn es doch nicht rechtens ist, warum wehrt ihr euch dann nicht???"
Wer gewohnt ist, Befehle zu erteilen, statt sie zu empfangen, hat gut reden. Für uns arme Bauern existiert Recht doch nur auf dem Papier ...
„Weil wir uns nicht freiwillig der gnadenlosen Willkür des Verwalters aussetzen werden? Weil er sonst gleich noch mehr einkassiert hätte, um uns in unsere Schranken zu weisen? Weil wir diesen Tag überleben wollen?"
Hannes stutzt.
„Weil ihr überleben wollt? Was hat das miteinander zu tun? Ihr werdet ohne die Sau vielleicht nicht überleben!"
Ich senke den Kopf, denke an meinen in den Tod geschickten Mann.
Schon wieder weckt Hannes Erinnerungen, die ich lieber in meinem Herzen begraben hätte.
Ich erzähle zum ersten Mal seit langem wieder jemand von den Umständen seines Todes. Hannes wird beim Zuhören immer zorniger. Er ballt seine Fäuste, knirscht mit den Zähnen und fängt schließlich haltlos an zu schimpfen.
„Warum ist es möglich, dass solche Personen das Volk so quälen? Wer hat diesen Menschen eingesetzt? Er scheint unfähig, seiner Verantwortung gerecht zu werden. Und selbst, wenn es ihm nicht um die Menschen gelegen ist, die ihm anvertraut sind – er sollte doch wissen, dass er sich und seinem Lehnsherren die Lebensgrundlage entzieht, wenn er die Bauern so über die Maßen ausquetscht! Was für eine Willkür! Was für ein Unsinn, einen Mann im Sturm aufs Dach zu jagen!"
Und dann verblüfft er mich.
„Ach, hätte ich doch nur das Geld, ich wollte euch zehn neue Säue kaufen fürs Dorf."
Einen Moment zögere ich noch. Aber letzten Endes hat mir der Drebber freie Hand gelassen, ganz nach Situation zu handeln. Darum gehe ich zur Strohschütte rüber, greife unters Stroh und halte ihm das Lumpenbündel mit seiner Geldkatze entgegen.
„Das gehört Euch, Herr."
Kurz runzelt er die Stirn, weil ihm wieder die Anrede nicht gefallen hat. Dann nimmt er das Bündel an.
„Was ist das?"
Ich gehe einen Schritt rückwärts, versuche, mir vorzustellen, was mit ihm geschehen wird, wenn er den Beutel sieht, vielleicht erkennt, sich an etwas erinnert.
„Öffnet es. Es gehört Euch."
Hannes beginnt, die Lumpen aufzuwickeln. Dabei klirren die Münzen im Beutel leise. Sein Gesicht ist angespannt, er ahnt noch nicht, was er in den Händen hält. Als schließlich alle Lumpen fort sind, starrt er staunend den fein gearbeiteten Lederbeutel an, der schwer in seiner Hand liegt.
„Das ... gehört mir?"
Ich nicke.
„Es hing an eurem Gürtel, Herr."
Da hockt er sich auf den Schemel, legt sich den Beutel auf den Schoß, fährt mit den Fingern den ins Leder eingebrannten Mustern nach. Ich sehe in seinem Gesicht keinerlei Erkennen. Seine Finger lösen den Knoten, ziehen den Beutel auf.
Er erstarrt. Rührt die Münzen nicht an. Versucht verzweifelt, in seinem Kopf eine Erklärung für diesen unermesslichen Reichtum zu finden.
„Na, vielleicht war doch ICH der Wegelagerer, und die Vier, die mich gesucht haben, wollten ihr Geld wieder haben?"
Ich muss spontan auflachen.
Eigentlich ist es nicht komisch, wie sehr sein Hirn versucht, der Wahrheit aus dem Wege zu gehen ...
„Wenn ich eines beschwören kann, Herr, dann ist es das: diese vier Halunken waren bestimmt nicht so reich. Und ihr wart kein Wegelagerer."
Fest schaut er mir in die Augen.
„Was macht euch so sicher, Frau Adam???"
Nun habe ich angefangen, nun kann ich auch weiter machen. Ich stehe auf und hole ihm Strümpfe, Bruche und Beinlinge, Hemd und Wams, die ich inzwischen fertig geflickt habe, lege den Mantel dazu, mit dem er seit einigen Tagen zugedeckt ist. Und ich stelle die Stiefel daneben. Ruhig erwidere ich seinen Blick.
„DAS ist nicht die Kleidung eines Wegelagerers. So seid ihr hier angekommen. Was ihr seitdem tragt, gehörte meinem Manne."
Stumm kniet Hannes vor dem ausgebreiteten Gewand, lässt die feinen Stoffe durch seine Finger gleiten, fährt über das weiße Wollfutter des Mantels, starrt die Stiefel an, schüttelt irritiert den Kopf.
Wieder greift er sich an die Schläfe.
„Das macht mir Kopfschmerz."
Kurzerhand packt er die gesamte Kleidung zusammen und legt sie in eine Ecke des Dachbodens. Nur den Mantel breitet er nach ein wenig Zögern wieder auf seinem Bett aus. Frieren will er wohl doch nicht.
Noch einmal schaut er den Beutel an, den er beiseite gelegt hatte.
„Was kostet ein Schwein?"
Ich gehe zu ihm, betrachte die Münzen, greife eine heraus.
„Ich bin mir nicht sicher über den Wert der Münzen und den Wert eines Zuchtschweins. Ich vermute, soviel wird es schon sein."
Schnell schließt er meine Hand um die Münze.
„Dann geht und kauft dem betrogenen Mann ein neues Schwein!"
Ich schüttele den Kopf und lege die Münze zurück in den Beutel.
„Das geht nicht. Außer unserem Vogt wäre niemand im Dorf in der Lage, ein Schwein zu bezahlen. Und wenn wir gleich nach diesem Tag hingingen und einfach ein neues Schwein bezahlen könnten, würde es der Verwalter erfahren und uns erst recht schröpfen. Es wäre für jeden von uns richtiggehend gefährlich, jetzt plötzlich so viel Geld auszugeben."
„Wer könnte es, und wo gäbe es so ein Schwein?"
Misstrauisch sehe ich ihn an.
„Herr, macht bitte keinen Unsinn. In eurer Lage, zu dieser Jahreszeit und nach dieser Begebenheit heute könnte niemand im ganzen Süden des Landes irgendwo ein Schwein kaufen, ohne aufzufallen und Misstrauen zu erwecken. Da müsste man ein Dorfvogt, ein Vollbauer oder ein Lehnsverwalter sein – und am besten über die Grenze ins Eichsfeld gehen, um dort auf dem Markt in Duderstadt ein Schwein zu kaufen. Dann müsste man das Tier noch hierher schaffen, entweder an der Grenze Steuern zahlen oder es drumrum schmuggeln. Hier müsste es gut verborgen werden, denn der Steuereintreiber kommt jeden Monat wieder und weiß genau, wer was hat. Und das alles im Winter bei Kälte, Nässe und unsicheren Wegen. Denkt bitte nicht mal daran."
Diesmal verkneife ich mir das Lachen. Sein Gesicht erinnert mich an meinen kleinen Jakob, wenn ich ihm nicht erlaube, durch die Pfützen zu hopsen, weil ich nicht die Zeit und Kraft habe, hinterher seine einzigen Beinlinge zu waschen. Nach und nach verändert sich sein Gesichtsausdruck bei meiner energischen Rede, beleidigt schaut Hannes mich an, dass ich ihn durchschaut habe und so deutliche Worte gesprochen habe. Dann schaut er doch wieder versöhnlich drein und gibt nach.
„Allein könnte ich das doch sowieso nicht bewerkstelligen. Ich habe nicht die richtige Kleidung, kenne die Wege nicht, weiß nicht, was ein Wanderknecht zu wissen hat, wie ich mich benehmen müsste, weiß nicht einmal, was ein Schwein kostet."
Er verstummt. Stöhnt tief und qualvoll. Er schließt die Augen, ringt um Worte.
„... NICHTS weiß ich. Nicht einmal, wer ich bin und wie ich heiße!"
Nun wieder zornig zerrt er den Beutel zu, macht einen festen Knoten hinein und pfeffert ihn zu seiner Kleidung in die Ecke. Mit verschränkten Armen und wegen der niedrigen Decke gesenktem Kopf steht er da und starrt Löcher in die Luft.
Ich warte einfach ab, will ihn weder bedrängen noch alleine lassen.
Gott, gib, dass er bald seine Erinnerungen wieder findet. Es quält ihn so sehr, er ist hier eingesperrt und sich so sehr ausgeliefert!
Erst nach einer ganzen Weile wendet er sich erneut zu mir. Seine Stimme ist nun wieder so ruhig, gleichmütig und freundlich, wie ich es von ihm gewohnt bin.
„Verzeiht, Frau Adam. Ihr könnt nichts für meine Lage. Ich bin Euch doch zutiefst dankbar. Es macht mich nur wuschig, hier tatenlos und namenlos ausharren zu müssen. Könntet ... könntet Ihr mich nun alleine lassen?"
Ich nicke und lächele ihm zu.
„Natürlich, Herr Hannes. Esst, dann schlaft, dass Ihr weiter schnell gesund werdet. Habt eine gute Nacht!"
Mit diesen Worten greife ich das Bündel mit Garn und das Wams und steige meine Leiter herunter. Kurz begegnen sich unsere Augen. Trotz aller Unsicherheiten – er vertraut mir, und ich vertraue ihm. Wir werden einen Weg für ihn finden.
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30.11.2021
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