Miram Gineah
"Was tut ihr hier?"
Es kostete Miram alle Nerven, um in dem kühlen Turm, der nur von einer Öllampe beleuchtet wurde, nicht vor Schreck loszuschreien.
Zwei Gestalten hoben sich von dem dunklen Stein ab und Miram presste sich gegen die hölzerne Tür, die sie soeben hinter sich geschlossen hatte. Das kleine Tongefäß in ihren Händen umklammerte sie ein wenig fester.
Es waren ein Junge und ein Mädchen. Beide gewiss jünger als sie selbst und gekleidet in Klamotten, die sie noch nie gesehen hatte. Doch das erstaunlichste an ihnen waren nicht die bunten Stoffe oder die merkwürdigen Schuhe an ihren Füßen. Es war die helle, fast zu helle Haut des Mädchens und das vernarbte Gesicht des Jungen. Und vielleicht war es noch erstaunlicher, dass sie ebenso viel Angst vor Miram zu haben schienen, wie sie Angst vor ihnen hatte.
Doch noch bevor sie irgendetwas sagen konnten, fand Miram ihre Stimme wieder.
"Nebenan sind ein Dutzend Angestellte, die Legionäre der Leibgarde sind nicht weit, der Chefkoch weiß, dass ich hier bin. Er wird in wenigen Minuten gewiss nach mir sehen", sagte sie in einem einzigen Atemzug. "Also wagt es nicht, mir etwas anzutun"
Der Junge hob langsam beide Hände.
Die Öllampe beleuchtete die Seite seines Gesichtes, die mit Narben übersät war.
"Wir wollen dir nichts tun", sagte er und sein Blick glitt zu seiner Begleiterin, die Miram mit ihrem intensiven Blick musterte. "Wir sind auf der Suche nach jemanden"
"Seid ihr Einbrecher?", fragte Miram. Ihr Atem war flach, ihre Hand lag wieder auf dem Türknauf hinter sich. Sie sollte Hilfe holen. "Wollt ihr den König umbringen?"
"Nein", das Mädchen sprach. Sie kräuselte die Lippen und blickte Miram an, als wäre sie hier diejenige, die den Verstand verloren hatte.
"Oh mein Gott", ein Gedanke kam Miram in den Sinn und ihr Herz schien ihr bis zum Hals zu klopfen. "Ihr arbeitet mit dem Sandmann, oder?"
Verdammt, sie wusste nicht einmal, wie der Sandmann aussah.
Man hörte ständig Geschichten über ihn, doch jede Fabel erzählte eine andere Version von ihm, in jeder Geschichte schien er anders auszusehen. Das einzige, was alle Versionen von ihm gemeinsam hatten war, dass er goldene Augen zu haben schien.
Jetzt drehte sich das Mädchen zu ihrem Freund um und sah ihn an. Ihre Augenbrauen hoben sich ein wenig und sie schienen sich ohne Worte zu verständigen.
"Ich bin verwirrt", sagte der Junge und stieß sich von der Wand ab. Er war nicht besonders groß, doch größer als Miram und größer als seine Gefährtin. "Von welchem Sandmann redest du?"
"Es gibt nur den einen", sagte Miram kühl.
Sie drehte langsam an dem Türknauf unter ihren Fingern.
Der Junge zögerte, als ob er noch immer nicht wissen würde, wovon sie redete.
"Ich bin Orion", sagte er und neigte kurz den Kopf. Dann deutete er hinter sich. "Und das ist Cara. Wir sind aus Zufall hier. Wir wollen nichts böses. Wir suchen nur jemanden"
"Man kommt nicht aus Zufall in den königlichen Palast", sagte Miram leise und strich sich die glatten Haare der Perücke aus dem Gesicht, für die sie sich an diesem Morgen entschieden hatte. "Wie seit ihr eingebrochen? Wie habt ihr die Sicherheitssysteme überwunden?"
"Wir sind nicht eingebrochen, wirklich nicht", sagte das Mädchen und erntete jedoch einen kurzen, warnenden Blick von dem Jungen, Orion.
"Ich habe hierfür keine Zeit", stellte Miram fest und ließ den Türknauf hinter schließlich los. Die beiden schienen keine Gefahr zu sein. Sie würde der Garde nur unnötig Arbeit an diesem sowieso schon aufregenden Tag bescheren. Also schob sie sich an den Fremden vorbei und nahm die Wendeltreppe hinter ihnen nach unten. "Ich weiß nicht, wer ihr seid oder wie ihr in diesen Teil des Palastes gekommen seid. Aber ich muss die Teeblätter auffüllen, also lasst mich in Ruhe"
Sie hörte Schritte hinter ihr.
"Wir brauchen aber deine Hilfe", rief Cara.
"Ich stimme zu", sagte Miram nur kurz und hob die Augenbrauen, als sie in einen noch düsteren Flur trat und die dritte Tür zu Linken in dem langen Flur unter der Erde öffnete. Miram [entzündete] die Gaslampe, die neben der Tür stand und kurz darauf die fensterlose Kammer voller Lebensmittel erleuchtete.
Das verschiedenste Obst lag in großen Schalen auf Fässern, die mit Getränken, Säften und Wein gefüllt waren. In Aussparungen in der steinernen Wand standen Gläser und Dosen, Vasen und Phiolen voller Kräuter und Gewürze. Ein Netz Zitronen und Limetten hing von der Decke, Gemüse war in hölzernen Kisten aufbewahrt. Noch mehr Pflanzen und Kräuter hingen in einer Ecke des Raumes zum Trocknen von der Decke.
Miram schritt in die Mitte des Raumes.
"Wir suchen ein Mädchen namens Emma", sagte der Junge. Er stand in der geöffneten Tür zur Speisekammer und sah Miram mit einem flehenden Gesichtsausdruck an. Sie wusste nicht, was mit seinem Gesicht geschehen ist, doch es muss schmerzhaft gewesen sein.
"Ich kennen kein Mädchen namens Emma", sagte Miram.
Sie hörte ein hilfloses Seufzen, als sie nach einem kleinen Tongefäß griff.
"Hört zu", sagte Miram und legte den Kopf schief. Sie drehte sich wieder um. "In diesem Palast gibt es keine Emma. Ich weiß nicht, wie ihr hier reingekommen seid und ich glaube euch gerne, dass ihr nichts böses wollt. Aber ich habe einen Job"
Die beiden Fremden sahen sie schweigend an.
"Woher seid ihr?", fragte Miram schließlich.
"Warum fragst du?", erwiderte das Mädchen mit einem Pokerface.
"Wenn ihr aus Phoenix wärt, wüsstet ihr, wer der Sandmann ist", sagte Miram.
Die beiden sahen sich an.
"Meinst du Phoenix, Arizona?", fragte der Junge.
Das Mädchen verschränkte die Arme.
"Außerdem wissen wir sehr wohl, was ein Sandmann ist"
"Ach ja?", Miram lief mit den Teeblättern an ihnen vorbei und bedeutete ihnen, die Tür hinter sich zu schließen.
"Halt stopp", der Junge hob eine Hand und Miram blieb am Treppenansatz stehen. Sie hatte hierfür eigentlich wirklich keine Zeit. Aurora würde bald mit dem Training fertig sein und ihren Tee trinken wollen.
"Wo sind wir hier?", fragte der Junge, nachdem er die Tür hinter sich zugezogen hatte.
"Beantwortet ihr erst meine Frage", sagte Miram mit hoch erhobenem Kinn. "Woher seid ihr?"
"Aus Konstanz", stöhnte das Mädchen schließlich.
"Ist das noch in Phoenix?", fragte Miram langsam. Eine Hand lag auf dem Handlauf der Wendeltreppe. Sie kannte sich nicht besonders gut aus in Phoenix. Sie war erst vor kurzem aus ihrem eigenen Land geflüchtet. Sie hatte kaum Möglichkeit gehabt, sich außerhalb der Palastmauern umzusehen.
"Nein, verdammt. Was ist Phoenix?", fragte das Mädchen ungeduldig.
"Konstanz ist in Deutschland", erklärte der Junge und ignorierte die hellhäutige Begleiterin neben sich.
Miram nahm eine Stufe nach oben.
"Ihr seid im Königreich Phoenix", sagte sie. "Ich habe noch nie von Deutschland gehört. Ist es schön da?"
"Ziemlich viel Papierkram", antwortete der Junge tonlos.
Miram drehte sich um.
"Ich weiß nicht, weshalb ihr diese Emma finden müsst. Und ich weiß nicht, wie ihr hier reingekommen seid. Aber ich empfehle euch, so schnell wie möglich zu verscwhinden, bevor euch eine Wache erblickt. Oder noch schlimmer: Der Sandmann"
"Wir können nicht ohne Emma verschwinden", rief das Mädchen. "Und was hat es mit diesem Sandmann auf sich?"
Miram verlor fast ihre Geduld.
"Bitte", sagte nun auch der Junge. "Wir brauchen Emmas Hilfe. Wir können ohne sie nicht zurück nach Hause"
Klirrend stellte Miram das Tongefäß auf eine Stufe vor sich.
"Also gut", sagte sie und seufzte tief. "Ich weiß nicht, ob ich euch helfen kann. Aber ich weiß, wie es ist, nicht nach Hause zu können"
Miram hielt inne und blickte von dem Mädchen zu dem Jungen und zurück.
"Ich bin aus meinem Land geflohen. Ich hatte niemanden. Ich hatte gar nichts. Aber Aurora hat mir eine Chance gegeben. Und weil ich genauso gnädig sein will, wie die Prinzessin, der ich diene, kann ich euch vielleicht hier in der Küche unterbringen"
"Wir sind nicht gerade geflohen. Es ist eher so...", setzte der Junge an.
Es schien, als ob er noch mehr sagen wollte, doch Miram beobachtete, wie der Ellbogen des Mädchens in seiner Seite landete.
"Wir wissen aber auch nicht, wie wir zurück sollen", sagte der Junge schließlich.
"Gut", sagte Miram. "Ihr könnt in der Küche aushelfen, bis ihr wisst, wohin ihr sollt. Aber ihr müsst euch etwas weniger auffälliges anziehen"
Sie musterte die Fremden für einen Augenblick.
"Wenn ich mit Pablon rede, kann ich euch vielleicht schon morgen früh unterbringen"
"Wie ist dein Name?", fragte der Junge.
"Ich bin Miram Gineah", Miram lächelte für einen Augenblick. "Ich bin die Zofe der Prinzessin, die gerade in diesem Moment auf ihren Tee wartet"
Sie hob das Tongefäß wieder auf und nickte den Fremdlingen zu.
"Wartet hier, bis ich wiederkomme. Willkommen in Phoenix"
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