21. Oktober 2022: Herzschlag
Eine Kerze brannte einsam im Schiffsgang. Ihr Licht erreichte weder Hongjoongs Kajüte noch den hinteren Teil des Flurs oder die Leitern. Mir schien, als fehlte ihrem Schein der Mut, seinen begrenzten Kreis zu verlassen und weiter zu leuchten, dort hin, wo die Dunkelheit sich öffnete wie die Tiefen des Meeres. Das aufgeregte Geflacker warnte mich, weiterzugehen, und das Ächzen der Dielen erinnerte bei jedem Schritt daran, dass das nicht der Meeresgrund, sondern ein verfluchtes Piratenschiff war. Und doch wurde es Zeit, mich in die Schatten zu wagen.
Der Gang war schmal, ich fühlte es, auch wenn ich bald nichts mehr sah. Die Enge lag schwer wie eine unsichtbare Kette um meinen Hals. Trotzdem lief ich weiter, entschlossen, weder zu stoppen noch mich zurückhalten zu lassen.
Jeden Moment könnte ich eine Leiter hinabstürzen, gegen eine Wand donnern oder einem der Geisterpiraten direkt in die Arme rennen. Aber ich hoffte, auf der richtigen Fährte zu sein - da hin, wo die Schatten am tiefsten waren. Denn in einer dieser Ecken verbarg sich eine Tür. Ich hatte sie entdeckt, als Hongjoong mich in seine Kajüte gebracht hatte, doch dann gleich wieder vergessen.
Meine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, als meine Fingerspitzen auf gewölbtes Holz stießen. Ein Türblatt. Ich tastete weiter, bis ich rostiges Metall umschloss.
Ein Knistern ließ mich zucken. Klebrige Fetzen streiften mein Haar und verfingen sich darin. Seonghwas Bemerkung über die Fettspinnen kam mir in den Sinn, und ich glaubte fast, die Augen einer Spinne neben mir zu erkennen. Spinnen springen. Und beißen. Na großartig, mein Gehirn hielt Wissen immer dann zur Hand, wenn ich es nicht brauchte. Doch ich vergeudete keine Zeit mit der Angst vor Tieren, die harmloser waren, als alles andere auf diesem verfluchten Kahn. Ich drückte die Klinke. Die Kälte des Metalls durchströmte meine Finger, doch das sture, verrostete Ding rührte sich nicht.
Die Spinnfäden bewegten sich dafür umso heftiger, griffen nach mir, als wären sie lebendig und dort, wo sie mich erwischten, hinterließen sie klebende Spuren. Selbst meine Wimpern klebten aneinander und ich merkte, wie sich darunter Feuchtigkeit sammelte. Der Rost zerscheuerte mir die Haut, als ich weiter versuchte, die Türklinke zu bewegen. Denn ich war richtig; dieser Raum war Jahre verschlossen, wenn nicht Jahrhunderte.
In meinem Bauch kribbelte es, als hätte ein Rudel Spinnen dort ihr Nest bezogen. Mit ganzer Kraft rüttelte, zog und drückte ich, dass die Spinnenfäden nur so stoben. Die Tür beschwerte sich mit Ächzen und Knacken, doch endlich - unendlich langsam und behäbig - gab sie nach. Ein Luftzug wehte mir entgegen, als sie sich einen Spalt öffnete.
Staub kratzte mir in Nase und Rachen, acht Beine krabbelten über meinen Kopf, doch etwas ganz anderes raubte mir die Luft: ein stetiger Rhythmus, gleich einem kraftvollen Herzschlag, der aus der stockdunklen Kammer drang.
Da die Tür beschlossen hatte, sich kein Stück weiter zu öffnen, egal, wie sehr ich drückte und schob, zwängte ich mich durch den schmalen Spalt in vollkommene Dunkelheit. Dicht und überdauernd, ballte sie sich zusammen, erzeugte gleichzeitig aber das Gefühl einer unendlichen Weite, deren Zentrum ich bildete. Nein. Nicht ich, etwas anderes in diesem Raum.
Der stetige Rhythmus schien aus allen Richtungen zu kommen. Ich schloss die Augen. Die Konzentration half, mich zu orientieren. Ich setzte einen Schritt in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Eine archaische Melodie; tief und gleichmäßig wie das Ticken eines uralten Metronom und drüber ein Rieseln, flüsternd, lockend, versprechend.
„Iliana!" Ich zuckte zusammen. Hongjoong.
Holz schrammte über Holz, als er das Türblatt weiter aufdrückte. Klar, dass ein Kim Hongjoong sich durch keinen Spalt quetschte. Allein das Geräusch jagte mir einen Schauer über den Rücken, als würden scharfe Krallen über mein Rückgrat kratzen.
Feste Sohlen schlugen auf Holz und steigerten den Takt des Metronoms. Natürlich hatte der Piratenkönig kein Problem, sich in der Dunkelheit zu orientieren. Gegen ihn hatten bereits hunderte vor mir ihr Leben verspielt.
„Die Zeit ist fast um."
Nein! Ich schüttelte den Kopf, um mich selbst daran zu erinnern, dass dieser Kim Hongjoong nicht der gefürchtete Pirat von vor 300 Jahren war. Der Fluch hatte ihn verändert. Tag um Tag. Ich zumindest glaubte fest daran.
„Wäre es nicht besser gewesen, deine Freunde zu suchen?"
Ich drehte mich seiner Stimme entgegen und tappte rückwärts, so weit, bis der eingängige, uralte Rhythmus tief in meinem Rücken vibrierte.
An Hongjoongs Schritten hörte ich, wie nah er war. Und dennoch vernahm ich kein Atmen. Hielt er die Luft an? Verstehen könnte ich es. Obwohl ich nichts sah, musste der Raum klein sein. Die Luft war stickig und drückend, nicht nur aufgrund ihrer Abgestandenheit. Es war die Dunkelheit. Schwärzer, älterer und finsterer als alles, dem ich je begegnet war. Scheinbar von düsterer Magie durchdrungen, lastete sie schwer auf meinen Lungen und prickelte auf der Haut. Wie in einem Gewitter, das heranzog und sich unheilvoll zusammenballte.
Dass ich den Piratenkönig unmittelbar vor mir vermutete, aber nichts sah, raubte mir fast den Verstand. „Könntest du bitte Licht machen?" Mein Flüstern konnte die Panik in meiner Stimme kaum verbergen.
Es dauerte einen Atemzug, in dem ich dachte, er würde der Bitte nicht nachkommen. Mit einem plötzlichen Knall wirbelte einen Funkenregen vor meinem Gesicht auf und ich zuckte zusammen. Eine kleine Flamme tanzte frech über Hongjoongs Hand und beißender Ruß stieg empor.
Ich hustete und blinzelte die Tränen fort, die der Rauch verursachte, erst dann erkannte ich das Steinschlossfeuerzeug in seiner Faust und kam mir mal wieder verklapst vor.
„Du kannst also kein Feuer?" Verblüfft und erleichtert endlich etwas zu sehen, wanderte mein Blick von der zuckenden Flamme zum Piratenkönig.
Er verzog das Gesicht, während das Licht tanzende Schatten auf seine Züge warf. Doch in seinen Augen züngelte etwas, so alt und mächtig wie die Schwärze um uns herum.
„Feuer war mein Tod. Daher kann ich es nicht kontrollieren. Selbst der Fluch folgt Regeln. "
„Welchen noch?", flüsterte ich, da mir die Spannung alle Luft aus den Lungen presste.
Hongjoongs Lippen verzogen sich. Aber nicht zu einem dieser Grinsen, bei dem mein Innerstes wild losflatterte, eher zu einer schmerzerfüllten Fratze. Mein Herz sank bei seinem Anblick.
„Du wirst es herausfinden." Unter einem Seufzen senkten sich die weichen Wimpern, doch als er sie wieder öffnete, war sein Gewinnerlächeln zurück. „Aber vorher zeige ich dir, welches Feuer ich beherrsche."
Die kleine Flamme verschwand und Metall polterte auf Holz, als das Feuerzeug neben mir zu Boden fiel. Doch schon im selben Augenblick umschlang mich die Dunkelheit. Mein Herz trommelte lauter als das Metronom, als etwas meine Hand ergriff. Hongjoong. Er streichelte meine Handfläche mit seinem Daumen und das prickelnde, fast elektrisierende Gefühl, das diese Berührung in mir auslöste, war mehr, als ich ertrug. Ich versuchte, ihm die Hand zu entziehen, doch als seine schlanken Finger sie festhielten, registrierte mein Unterbewusstsein einen schweren Fehler. Hongjoong mochte elegant, fast zart wirken, dennoch war er stärker als Noah, Michael und Eric zusammen. Und in seinem Griff sprang ein Funke auf mich über wie Feuer auf Eisen. Meine Magennerven flatterten. „Was hast du vor?", hauchte ich.
„Ich werde dich küssen...
... bis du in Sehnsucht verbrennst."
Oh. War alles, was meine Gedanken noch zustande brachten.
Sanft. Unendlich sanft zog er mich zu sich heran. Mein Herz hämmerte bis zum Hals und ich dachte kurz daran, mich zu wehren. Aber er war so nah. Sein gepresster Atem machte mich schwach. Ich versank in seiner Umarmung. Ließ zu, dass eine unbekannte Hitze mich ergriff, fordernd und gewillt, mir den Verstand zu rauben.
Als seine Lippen meine berührten, konnte ich nichts mehr denken. Dabei begann der Kuss ganz zart, beinah zögerlich, wie als müsse der Piratenkönig erst testen, was genau da zwischen uns war. Doch als seine Zunge über meine Unterlippe strich, zerschmolz ich in Gefühl, wie Butter in einer heißen Pfanne. Alles glühte. Ich fühlte nur ihn und seine Berührungen, aus denen wilde Flammen züngelten.
Der Kuss loderte, brannte vor Verlangen. Ohne, dass ich ausmachen konnte, ob es seines oder meines war. Wir verschmolzen in Hitze. Hongjoongs Finger verwoben sich fest in meinen Haarsträhnen, während er mit seiner Zunge auf Eroberung aus war. Ich war nicht mehr auf dem Schiff, ich war nur in dem Moment, mit ihm, losgelöst von Ort und Zeit. Während sein Mund jeden klaren Gedanken aus meinem Kopf brannte, spürte ich sein weiches, kühles Haar unter meinen Fingern. Es war so viel weicher, als ich es mir hätte vorstellen können. Samten wie Seide oder das Fell einer Katze, oder ... Urplötzlich spürte ich noch mehr. Unter der Berührung seiner Lippen schmeckte ich Schmerz. Den fast unerträglichen Schmerz einer Person, deren Herz zerbrach. Meine Lippen begannen zu zittern, doch mir war trotzdem nicht klar, ob es sein, oder mein Schmerz war.
Mit einem wilden, wimmernden Laut zog ich mich zurück und schnappte nach Luft. Bevor Hongjoong reagieren konnte, duckte ich mich.
Hier war der Aufprall, hier musste es sein.
Bingo! Ich konnte mein Glück kaum glauben, als meine Hand warmes Metall umfasste. Oder war das Metall schon wieder kalt und nur meine Haut glühte noch nach? Egal. Ich drückte den Hebel mit aller Kraft und zuckte trotzdem zusammen, als mit einem lauten Knall Funken in Richtung meines Gesichts stoben.
„Vorsicht Iliana, die Dinger sind tückisch!" Wegen des Rußes, der in meinen Augen brannte, konnte ich Hongjoong nicht sehen, aber das wollte ich auch gar nicht.
Er hatte mich abgelenkt. Schon wieder. Und Gott ja, ich hatte es genossen, aber ich war nicht in diese dunkle Kammer getappt, um mir von ihm und seinen Küssen das Gehirn aus dem Kopf brennen zu lassen und im Anschluss sang- und klanglos unterzugehen. Nein!
Wenn es eine Rettung gab, dann hier.
Bevor Hongjoong mir das Feuerzeug abnehmen, oder sonst irgendetwas Gefährliches tun konnte, wie zum Beispiel mich erneut in seine Arme zu ziehen, drehte ich mich von ihm weg.
Meine Augen weiteten sich vor Überraschung. Hier war sie. Die Uhr, die ich gesucht hatte.
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