21. Oktober 2022: Braucht wer ein Seil?
„Lass mich dir etwas zeigen." Hongjoongs Finger umschlossen mein Handgelenk. Verflixt nochmal! Wie oft hatte er mich so in eine seiner Fallen gelockt?
Mein Alarmsystem schrillte und drang auf Flucht. Doch seine Berührung war so behutsam. Sein Daumen zeichnete kleine Kreise auf der Innenseite meines Handgelenks. Angenehm. Beruhigend. Trotzdem hämmerte mein Puls bis hoch in die Ohren, als er unsere Hände anhob und sie bis an den verheißungsvollen Schlitz seiner Lederweste führte. Meine Finger zuckten in seinem Griff. Angst, mich zu verbrennen, loderte auf, doch die Hitze, die mich gleich einer Feuerwalze überrollte, kam aus mir selbst. Mein Herz stieß gegen meine Rippen und mein Puls gegen seinen Daumen, als unsere Hände unter das Leder tauchten. Erst als meine Fingerspitzen glatte, kühle Haut berührten, setzten das Hämmern und die Angst mit einem Schlag aus, als hätten meine Finger einen unsichtbaren Schalter gedrückt. Stille schwängerte die Luft. Das einzige, das ich vernahm, war ein aufgeladenes Knistern. Hongjoong war und blieb ein Schock für jeden meiner Sinne.
„Fühlst du es?"
Was? Den Sauerstoffmangel oder das vermaledeite Prickeln in meinem Inneren? Ich schloss die Augen, um mich zu sammeln und es nicht noch schlimmer werden zu lassen. Doch da, unter meiner Hand, klopfte es; gedämpft aber gleichmäßig. Sein Herz!
„Seit du hier bist, spüre ich es. Vorher dachte ich tatsächlich, es wäre irgendwann über Bord gegangen." Sein Lachen war so rau und sanft wie sein Daumen. Dennoch nutzte ich die Chance, meine Hand zurückzuziehen.
„Das wolltest du mir zeigen?" Raus. Ich musste raus. Mir war so heiß, dass ich die schicken Klamotten am liebsten direkt wieder ausgezogen hätte. Hier vor ihm.
Hongjoong neigte lächelnd den Kopf und der Schein des Feuers flackerte auf seinen Eckzähnen. „Und wenn es so wäre?"
Mein Alarmsystem bimmelte erneut Sturm und warnte mich eindringlich davor, ihn jetzt auch nur eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Um ganz auf Nummer sicher zugehen, eilte ich zur Tür.
„Iliana. Warte bitte."
Wieder besseren Wissens drehte ich mich zu ihm.
Zu meinem Erstaunen hatte er mir den Rücken zugedreht, doch das schwere Leder seiner Weste rutschte genau in diesem Moment die glatten Hügel seiner Oberarme hinab.
Und wieder war ich ihm in die Falle getappt.
Ich wollte ihn und er wusste es. Und das Feuer ebenfalls. Mit seinem Licht leckte es Hongjoongs schlanke Muskeln an Nacken und Armen, tastete sich flackernd über die Schulterblätter hinab bis zu seiner Hüfte, bereit, ihn zu verschlingen.
Ich schnappte Luft, zum allerletzten Mal. Dann tauchte ich ein in den Strudel aus Schwarz, Grau und goldorangener Hitze. Schatten und Linien, manche sanft und geschwungen, andere hart und akkurat schufen in der innigen Vereinigung mit Hongjoongs seidiger Haut und Muskulatur ein Kunstwerk - dafür geschaffen, sich auf ewig in meine Netzhaut einzubrennen. Das Tattoo, das seinen ganzen Rücken bedeckte, zeigte eine Insel inmitten tosender Wellen. Eine gewaltige Felsformation erhob sich zwischen den Schultern des Piratenkönigs. Majestätisch und gleichzeitig morbid, denn die Felsen malten die Form eines Totenkopfes, mit schwarzen Höhlen anstelle der Augen. Er sah direkt in mich hinein.
Und doch war da keine Furcht in meinem Inneren. Eher so etwas wie Frieden. So beseelt war ich von dem Gefühl, endlich am Ziel einer langen Reise angekommen zu sein.
„Das ist sie also. Die Insel, die Dampier entdeckt hatte." Mein Mund war trocken und ich war schrecklich durstig.
„Das ist die Teufelsinsel. Meine Schatzinsel." In dem Blick, den er mir über die Schulter zuwarf, schwamm Stolz in einem Meer aus Sehnsucht.
„Ich wünschte, ich könnte sie sehen." Oder besitzen. Jetzt. Hier. Auf seiner Haut. Ich erwischte mich im Ansatz, die Finger nach ihm auszustrecken und schob schnell die Arme hinter den Rücken.
„Bleib hier, dann wirst du es." Sein Grinsen sagte viel, und doch zu wenig. Aber wenigstens hatte er sich zu mir umgedreht und die Weste saß wieder so, wie sie gehörte.
„Ich denke, du willst verhindern, dass jemand sie entdeckt?"
„Richtig. Es ist meine Aufgabe, sie zu beschützen." In seinen Augen flackerte es und obwohl er nur eine schlichte Hose, Waffengurt und Weste trug, sah er aus, wie der König, der er war.
Wozu? Ich wagte nicht, es auszusprechen, aber mit dem technischen Fortschritt, den er verpasst hatte, bezweifelte ich stark, dass seine Insel unentdeckt geblieben war, wenn dann allerhöchstens der Schatz. Außerdem war Hongjoong, äh, nicht ganz lebendig; warum gab er sich also Mühe wegen ein paar Gold- und Silbermünzen, die ihm nichts mehr nützten?
Seine Augen verdüsterten sich, bis sie zu den dunkelsten Stellen seiner Tattoos passten. „Jeder braucht eine Aufgabe."
Oh.
Da war sie wieder. Die untrügliche Gewissheit, niemals schlau aus ihm zu werden.
Mit Leidenschaft stellte er mir Fallen, doch wenn er mich tief in der Grube hatte, reichte er mir stets ein Seil. Wenn ich länger hierblieb und in seine dunklen Augen sah, würde ich zu dem Schluss kommen, dass er doch nicht das Monster war, für das ich ihn hielt, aber dafür blieb nun keine Zeit mehr.
Denn auch ich hatte eine Aufgabe.
„Danke für ... das Seil." Meine Worte machten wenig Sinn, aber ich wusste, dass er verstand. Mein Herz schlug kräftig und gleichmäßig, als ich die Klinke drückte und aus seiner Kajüte eilte. Nicht wie jemand auf der Flucht, sondern entschlossen, mein Ziel zu erreichen.
Weder ihn, noch mich, noch einen der anderen würde ich enttäuschen. Ich war hier, um meine Aufgabe zu erfüllen. Rechtzeitig.
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