20. Oktober 2022: 24 SeaMiles
„Und? Was machen wir jetzt?", fragte Lisa nach dem Abendessen und hakte sich vergnügt bei mir unter. Wir schlenderten gerade durch den langen Gang, der den Speisesaal mit dem Trakt des großen Jugendherbergskomplexes verband, in dem die Schlafräume waren. Der glatt gebohnerte Linoleumfußboden quietschte leicht unter unseren Schuhen und der Geruch nach Kartoffelbrei und Fischstäbchen, der sich aus dem Speisesaal in alle Richtungen verteilte, hing schwer in der Luft.
„Ich würde gern ans Meer gehen", sagte ich das Erste, das mir in den Sinn gekommen ist, ohne groß darüber nachgedacht zu haben.
Denn seit ich diese tiefblaue, glitzernde Weite, mit ihren verspielten, von weißen Kronen geschmückten Wellen vorhin das erste Mal gesehen hatte, war ich von diesem Schauspiel mehr als fasziniert. Ich spürte eine magische Anziehung zu diesem geheimnisvollen und unsagbar schönen Naturphänomen. Gleichzeitig hatte ich das Bedürfnis in dieser kurzen Zeit, die wir hier verbringen würden, so viel Meer wie möglich in mich aufzusaugen.
Doch anscheinend hatte ich etwas Falsches gesagt, denn Lisa lies meinen Arm los und blieb stehen. „Wir sollen nach Anbruch der Dunkelheit das Gelände nicht mehr verlassen...und draußen ist es mittlerweile stockdunkel" fügte sie mit einem Blick aus einem der mit blauweißkarierten Gardinen umrahmten kleinen Flurfenster hinzu.
Noch ehe ich ihr antworten konnte, kamen Christian und Noah um die Ecke, sie hatten sich anscheinend auch nicht so lange mit den in Form gebrachten und panierten Fischresten, dem Tütenkartoffelbrei und dem roten Früchtetee aufhalten wollen.
„Also, kommt ihr nachher mit zu uns?" Noah sah mich an.
Hatten die das im Bus etwa wirklich ernst gemeint?! Ich sah unschlüssig zu meinen Freundinnen, doch Hannah warf mir einen vielsagenden Blick zu und antwortete für uns alle Drei: „Klar, kommen wir."
„Spitze!", er schien sich tatsächlich zu freuen, zumindest lächelte er. „Bringt noch was mit!", setzte er beim Weitergehen über die Schulter noch hinzu.
„Äh ...klar" antwortete ich etwas unsicher, denn mir war schon bewusst, dass er sicher keine Salzstangen gemeint hatte.
„Na toll", seufzten Lisa und ich, wie aus einem Mund, sobald die Jungs außer Sicht und Hörweite waren.
Kaum dass die Tür unseres Viererzimmers hinter uns ins Schloss gefallen war, ließ sich Lisa auf ihr Bett fallen. Das ging bei ihr ganz easy, denn sie schlief als Einzige von uns unten. Ich schlief im Stockbett über ihr und Hannah schlief in dem anderen Stockbett oben. Das zweite untere Bett war also frei, da lagen nun Klamotten von uns dreien wild durcheinander.
„Müssen wir mit denen abhängen?", Lisa klang alles andere als begeistert und ich konnte sie ein bisschen verstehen. Auch ich hatte gemischte Gefühle. „Nein. Eigentlich nicht" Trotz meiner Bedenken, die ich zweifelsohne mit Lisa teilte, klang meine Stimme bedauernd und strafte mich Lügen. Das entging auch Hannah nicht.
„Ach" sie zog eine ihrer schmalen rotbraunen Augenbrauen nach oben „Ich dachte, du wolltest diese Chance nutzen, um Noah näher kennenzulernen."
Ich schwieg. Lisa sah mich neugierig von der Seite an.
„Das ist die Gelegenheit", setzte Hannah noch hinzu.
„Also gut", ich atmete hörbar aus. Hannah hatte ja Recht. In der Schule beschränkte sich unser Kontakt bisher leider darauf, dass Noah bei Fragen zu den Hausaufgaben zu mir kam. „Dann geh ich jetzt ins Dorf und schau mal, ob ich was auftreiben kann, das wir nachher mitnehmen können". Ich machte mir zwar nichts aus Alkohol, wollte aber auch ungern mit leeren Händen gehen und wir würden es ja trotzdem nicht übertreiben.
Hannah schien das ähnlich zusehen, denn sie sagte sofort: „In Ordnung. Ich komme mit."
„Nein!" Der Einspruch kam von Lisa, und zwar heftiger als erwartet. Sie drehte sich nun auf den Bauch und sah uns mit einem Schmollmund an.
„Erstens sollen wir im Dunkeln nicht mehr raus und zweitens will ich hier jetzt nicht alleine bleiben!", beklagte sie sich, wie ein kleines Kind.
Am liebsten hätte ich ihr „Lisa du bist schon groß!" geantwortet aber sie fuhr bereits fort: „Wir wollten doch zusammen den Anime schauen!" Sie sah uns mit ihren großen Rehaugen bittend an.
„Der kann doch warten", meinte Hannah ungerührt, doch ich lenkte ein: „Bleib du bei Lisa" sagte ich zu Hannah „und fangt schon mal mit dem Anime an. Die erste Staffel kenne ich eh schon und wenn wir wirklich erwischt werden, reicht es, wenn eine von uns Ärger bekommt."
Lisa strahlte mich dankbar an und Hannah zuckte mit den Schultern. „Von mir aus, aber pass auf dich auf", meinte sie resigniert.
Da die Meisten meiner Mitschüler noch im Speisesaal, der genau in der anderen Richtung des Haupteingangs lag, oder bereits oben in Ihren Zimmern waren, konnte ich mich ohne Probleme und ungesehen rausschleichen.
Die kühle Nachtluft schlug mir entgegen, als ich durch die breite Milchglas-Tür ins Freie trat.
Die Klasse hatte zunächst ganz schön gemotzt, als Frau Haubold verkündet hatte, dass wir so spät im Jahr noch ans Meer fahren würden. Viele wären lieber im Sommer gefahren, doch Frau Haubold meinte nur mit schmalen Lippen, dass es um diese Zeit viel günstiger sei und da hatte der Protest dann auch bald nachgelassen. Da ich zu denen gehöre, deren Eltern jeden Cent zweimal umdrehen müssen, war ich darüber sehr froh gewesen. Ich wäre zu jeder Zeit ans Meer gefahren, sogar im tiefsten Winter.
Tagsüber war es in der Sonne noch angenehm warm, doch die Tage waren bereits kürzer und die Sonne war schon vor Stunden im Meer versunken.
Jetzt spürte ich deutlich, dass es bald Winter werden würde, denn der Wind hatte aufgefrischt und blies mir eisig vom Meer her kommend entgegen, sodass ich in meiner dünnen lila Softshelljacke entsetzlich fror.
Ich wandte mich nach rechts und lief eiligen Schrittes die kleine Straße entlang, die von der Jugendherberge in Richtung Städtchen führte und von der aus man bei Tageslicht zwischen den Büschen und Sträuchern hindurch, die auf beiden Seiten die Straße säumten, linkerhand das Meer erspähen konnte. Jetzt jedoch lag eine nachtschwarze, undurchdringliche Dunkelheit hinter den dunklen Büschen und Gehölzen und ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass das Meer gleich dahinter läge, wenn nicht das laute Rauschen der Wellen, die sich an den Strand ergossen, sämtliche andere Geräusche überlagert hätte. Jetzt da ich darauf achtete, konnte ich noch nicht einmal meine eigenen Schritte auf dem Asphalt hören. Ich mochte dieses weiße Rauschen, dass meine Ohren bis zum Trommelfell hin ausfüllte, denn es erzählte von Geheimnissen und Abenteuern.
Im Ort lief ich auf die Hafenpromenade, zum einen wollte ich nah am Meer bleiben und zum anderen gab es hier auch viele kleine Geschäfte, in denen ich hoffentlich finden würde, wonach ich suchte.
Die alten gusseisernen Straßenlaternen, deren warm orangenes Licht das unebene Kopfsteinpflaster erhellte und die vereinzelten Sitzbänke mit den ebenfalls gusseisernen, geschwungenen Füßen, die von, auch um diese Jahreszeit noch schön bepflanzten Blumenkübeln flankiert wurden, verliehen der kleinen Promenade eine romantische Atmosphäre und es hätte gewiss auf mich sehr einladend gewirkt, wenn nicht der eiskalte Wind so schaurig heulend darüber hinweggepfiffen wäre.
Die Promenade fiel mit einer Mauer steil zum Meer hin ab. Die Wellen donnerten mit Wucht gegen diese kleine Mauer und die Gischt schäumte und spritzte daran hoch und schwappte über sie hinweg. Der Wind brachte so viel Feuchtigkeit vom Meer mit, dass es sich anfühlte wie ein salziger Regen, der von der Seite kam.
Ich hätte meine Regenjacke noch mit über die Softshelljacke ziehen sollen. Meine Haare hingen mir bereits nass und vom Salz verklebt ins Gesicht. Mit kalten Fingern setzte ich mir schnell meine Kapuze auf.
Ich war der einzige Mensch weit und breit. Ich lief über das alte Kopfsteinpflaster und musterte die kleinen Geschäfte auf der rechten Seite. Entmutigt stellte ich fest, dass die meisten, nur bis 18 Uhr geöffnet hatten und somit schon geschlossen waren.
In den Schaufenstern gab es seltsamer Weise kaum Beleuchtung, nur die Reklamen über den dunklen Fenstern, verrieten, um welche Läden es sich handelte. Ich sah einen Bäcker, ein kleines Café, einen Blumenladen, eine Boutique, ein Schuhgeschäft und eine Buchhandlung, aber keinen Supermarkt.
Zwischen dem Schuhgeschäft und der kleinen Buchhandlung schien ein Laden leer zu stehen, denn eine schwarze Lücke klaffte zwischen diesen Geschäften.
Ich hatte das Ende der Promenade erreicht, als etwas auf dem dunklen Meer meine Aufmerksamkeit erweckte. Ich spähte in die wild rauschende Dunkelheit und erblickte etwas, das aussah, wie ein großes Schiff.
Begeistert trat ich näher ans Geländer und lehnte mich nach vorn über die Mauer. Ich hatte Glück, dass die Mauer hier hinten etwas höher war, sonst hätte mich die hochschäumende Gischt sicher komplett durchweicht.
Es war Nebel aufgezogen. Er hing tief und dicht über dem Meer und waberte nun unter mir an der Kaimauer empor.
Fasziniert sah ich zu dem großen Schiff, dessen Bug durch den dichten Nebel hindurch immer wieder aufblitzte, nur um nach dem nächsten Wellenberg wieder darin zu verschwinden.
Jetzt sah ich einen hohen Mast durch den Nebel in den tiefschwarzen Nachthimmel ragen. Es war ein riesiges, altes Segelschiff!
So ein großes Schiff hatte ich noch nie gesehen, ich lehnte mich noch weiter über das Geländer in der Hoffnung, einen noch besseren Blick auf dieses majestätische Schiff erhaschen zu können, da spürte ich plötzlich, wie das Astrolabium, das wie immer unter der Jacke um meinen Hals hing, vibrierte.
Vor Schreck zog ich mich wieder zurück und ließ das Geländer los. Ich fingerte an dem Reißverschluss meiner Softshelljacke herum und merkte erst jetzt, wie kalt gefroren meine Finger waren.
Als ich es geschafft hatte, den Reißverschluss bis zu meiner Brust nach unten zu ziehen, nahm ich das Astrolabium vorsichtig in meine Hand, meine Finger waren schon so kalt gefroren, dass es weh tat, die kleine runde Scheibe in die Hand zu nehmen und meine Finger darum zuschließen.
Es vibrierte tatsächlich! Es brummte in meiner geschlossenen Hand wie eine dicke Hummel unter einem umgestülpten Glas.
Wie konnte das sein? Unsicher stopfte ich es schnell unter meinen Pullover und schloss die Jacke wieder bis zum Hals. Als ich anschließend zum Meer sah, war das Schiff verschwunden.
Hatte ich mich getäuscht?
Das war ein riesen großes Segelschiff! Wie hatte es so schnell verschwinden können? Ich starrte in den Nebel, in der Hoffnung noch einen Blick auf das schöne Schiff, oder den riesigen Mast erhaschen zu können, doch es blieb im Nebel verborgen.
Wahrscheinlich hatte es gedreht und der dichte Nebel verbarg es nun vor meinen Blicken. Ich hätte zwar geglaubt, dass es bei diesem starken Wind von See her kommend unmöglich war, mit einem Segelschiff zu drehen, aber was wusste ich schon von Schiffen?
Eine Kirchturmuhr irgendwo in der Nähe schlug 8 Uhr und erinnerte mich daran, weshalb ich hier war.
‚Na toll', dachte ich resigniert, wahrscheinlich hat der kleine Supermarkt, wenn es hier überhaupt einen gab, mittlerweile auch zu.'
Die Fußgängerpromenade ging nun in einen Rad- und Fußweg über, der durch eine dunkle Parkanlage verlief und sicher in den nächsten kleinen Küstenort weiterführte.
Ich sah in den dunklen Park und entschied mich dazu, lieber zurückzugehen, um mein Glück nochmal in der anderen Richtung zu versuchen.
Ich war erst wenige Schritte gelaufen, als mein Blick auf eine pink leuchtende Reklame fiel. In pinken Lettern mit blauen Rahmen blinkte der Schriftzug „24 SeaMiles" in die Nacht.
Ich konnte mein Glück kaum fassen, ein kleiner Spätshop!
Wie hatte ich den vorhin übersehen können? Ich bin doch genau den gleichen Weg gekommen? Ich hätte schwören können, dass an dieser Stelle vorhin der leerstehende Laden gewesen war. Aber wahrscheinlich hatte der kleine Spätshop vorhin einfach noch geschlossen gehabt und hatte erst um 8 Uhr geöffnet und seine Leuchtreklame im Schaufenster angeschaltet.
Erleichtert atmete ich aus. Ich hatte einen Supermarkt gefunden, daran hatte ich schon nicht mehr geglaubt.
Ich strich mir die Kapuze vom Kopf, als ich den Laden betrat. Eine kleine Messingglocke, die ein golden glänzender Papagei zierte, der seinen Schnabel, weit aufgerissen in die Luft streckte, klingelte über der Tür und verriet so dem Besitzer, dass Kundschaft den Laden betreten hatte.
In unserem kleinen Ort auf dem Land gab es keinen Spätshop, aber ich hatte davon gehört, dass es sie in Berlin an jeder Ecke gab. Ich hatte sie mir immer wie normale kleine Supermärkte vorgestellt, die einfach nur länger oder zu unüblichen Zeiten geöffnet waren.
Dieser Laden war aber definitiv anders als alle anderen Lebensmittelläden, die ich bisher gesehen hatte. Am liebsten hätte ich mich auf der Schwelle wieder umgedreht und wäre wieder raus in den nasskalten Wind gegangen, doch dann wäre der ganze Weg umsonst gewesen. ‚Reiß dich zusammen, Iliana. Es ist nur ein kleines Geschäft'
Hier wirkte alles wie aus der Zeit gefallen und seltsam durchmischt. Die pink blinkende Leuchtreklame mit dem blau leuchtenden Rahmen im Schaufenster tauchte den vorderen Teil des kleinen Ladens in ein bizarres pink-blaues künstliches Licht.
Von irgendwoher aus dem hinteren Teil des Spätshops war Musik zu hören, die mich an K-Pop erinnerte. Die Bässe waren aber noch ausgeprägter und heftiger, ich wollte genauer hinhören, um die Sprache der von einer weichen Stimme gesungenen Wörter zu erkennen, wurde aber von den restlichen Dingen um mich her zu sehr abgelenkt.
An der Decke hing ein großes Fischernetz in dem zwei Degen, ein Entermesser und sogar das Steuerrad eines Schiffes befestigt waren. Das große, gelbblau gestreifte Surfbrett, das ebenfalls am Netz festgebunden war, wollte sich in diese merkwürdige Deko nicht recht einpassen. Ich sah mich um.
Die Regale neben mir waren aus dunklen, dicken Holz gefertigt und glichen den Schränken in alten Apotheken. Die kleinen Fächer waren mit einer krakeligen Handschrift beschriftet, die ich kaum entziffern konnte.
Ich las Kugelfischgift, Haizahnmehl, zerstoßene Seepferdchen, das musste doch ein Scherz sein? Gab es nicht Artenschutzabkommen, die den Handel, mit solchen Dingen untersagten? Ich drehte mich schnell um und wollte den Laden, so schnell wie möglich wieder verlassen, da sah ich auf der anderen Seite Flaschen in Regalen stehen und es standen auch Getränkekisten mit Bier und Limonade daneben. Wahrscheinlich, handelte es sich bei diesem merkwürdigen Apothekerschrank wirklich nur um einen Scherz oder eine Art Deko, dachte ich erleichtert und lief auf das Regal mit den Flaschen zu.
„Kann ich behilflich sein?" Die melodische Stimme kam aus dem hinteren Teil des Ladens und ließ mich automatisch innehalten. Ihr Klang zauberte mir das Bild von wilden Meereswogen in den Kopf.
Ein junger Mann, vielleicht Anfang 20, kam langsam auf mich zu geschlendert, er sah eher aus wie ein Theaterschauspieler, als wie ein Verkäufer und das lag noch nicht einmal an seinen blau gefärbten, glatten Haaren, die seine komplette Stirn bedeckten und ihm bis zu den langen dunklen Wimpern reichten, sondern an seiner ausgefallenen Kleidung.
Er trug eine schwarze, enganliegende Hose, ein weißes Hemd mit einem mittelalterlich anmutenden Schnitt und dazu eine schwarze taillierte Weste mit golden Knöpfen an den Seiten. Die sich plusternden Ärmel waren bis zur Hälfte seiner sehnigen Arme hochgekrempelt und mit einer Schnürung versehen, wohl damit sie nicht ständig runter rutschten. Sie entblößten ein Tattoo auf seinem rechten Unterarm. Eine Rose wuchs aus seiner Handgelenkswurzel und öffnete Ihre zarten Blütenblätter zu seinem Arm hin, den die exakten Linien einer mit Tinte gezeichneten Seekarte in Gänze bedeckten, ein Tau, das seitlich vom Handgelenk bis zum Ellenbogen verlief und dem Bild einen Rahmen verlieh, und ein Kompass, der sich wie mit einem 3D-Effekt von der Seekarte abzuheben schien und dessen Nadel nach Norden zeigte, komplettierten das eindrucksvolle Kunstwerk aus grauschwarzer Tinte.
Ich hatte mich nie für Tattoos interessiert, doch dieses war ein echtes Schmuckstück. Um nicht weiter wie gebannt auf seinen Arm zu starren, zwang ich mich dazu ihm direkt ins Gesicht zu sehen.
Ein Fehler.
Er hatte dunkle, mysteriös schimmernde Augen, die über nicht weniger Anziehungskraft verfügten, als sein schönes Tattoo. Ihre genaue Färbung konnte ich bei diesem schwachen Licht nicht ausmachen, ich tippte aber auf braun.
Sein schmales und doch markantes Gesicht trug asiatische Züge. Seine Haut war zart und ebenmäßig und um seinen breiten Mund mit den schmalen Lippen spielte ein spöttisches Lächeln.
An seinem linken Ohr blitzte etwas auf, ein Anker, der an einer filigranen Kette an einem kleinen Stecker an seiner Ohrmuschel hing.
„Suchst du nach etwas bestimmten?", sprach er mich nun erneut an und seine Stimme klang wahrhaftig wie der Ozean selbst.
„Äh ja... ich äh..." Oh Gott. War das peinlich. Reiß dich zusammen Iliana.
„Alkohol" brachte ich schließlich heraus und merkte beschämt, dass ich es damit nur noch schlimmer gemacht hatte. Das hatte ich ja wirklich super hinbekommen! Ich merkte, wie mir die Röte ins Gesicht stieg und meine Wangen, die bis eben noch halb erfroren waren, vor Hitze zu glühen begannen.
Er senkte seine langen Wimpern und lächelte „So.so ... Damit kann ich behilflich sein", sagte er und trat an das große Regal, in dem von oben bis unten Flaschen in allen erdenklichen Formen und Größen dicht aneinander standen. Einige waren mit klaren, fast durchsichtigen Flüssigkeiten gefüllt, andere schimmerten in Farbtönen, die von braun, orange bis golden jede Nuance abdeckten.
Er streckte seinen tätowierten Arm aus und erklärte:
„Wir hätten hier: Golden Rum, Aged rum, Blended Rum, braunen Rum, echten Rum, Flavoured Rum in verschiedenen Sorten mit Kokos, Mango, Banane, oder Ananas, verschiedene Sorten Jamaika Rum, diverse Solera-Rum Sorten, weißen Rum, Spiced Rum, dann hätten wir natürlich auch Gin oder Wodka?" Er zählte alles auf, ohne nur ein einziges Mal hinzusehen, sein Blick lag die ganz Zeit auf mir.
Ich war angesichts dieser riesigen Auswahl schier überfordert und hatte die ganze Zeit wie gebannt auf sein Tattoo gestarrt. „Ich nehm den Golden Rum" sagte ich schnell, als er still geworden war und ich merkte, dass er mit seiner endlos langen Aufzählung anscheinend am Ende war. Das war der Erste, den er aufgezählt hatte und der Einzige, der mir in Erinnerung geblieben ist.
Der Klang seiner Stimme, bezaubernd wie brandende Wellen und die geheimnisvolle Seekarte auf seinem Arm, hatten mich so in Ihren Bann gezogen, dass ich den Inhalt seiner Worte nicht mehr hatte aufnehmen können.
Er nickte. „Der golden Rum ist immer eine gute Wahl."
Er zögerte kurz, schien sich dann aber doch zu einer Erklärung herabzulassen: "Er eignet sich gut für Cocktails und ist im Geschmack vergleichsweise mild. Du kannst ihn mit frischem Limettensaft, einigen Spritzern Zitronensaft, Zuckersirup, Eiswürfeln und Minzblättern mixen und heraus kommt ein fruchtiger Zauber, den du nie vergessen wirst." Er sah mir in die Augen und ich konnte den fruchtig minzigen Geschmack mit der herben Unternote des Rums plötzlich auf meiner Zunge schmecken. Ich musste schlucken.
Obwohl ich so gut wie nie Alkohol trank, klang das plötzlich sehr verlockend. So viel Aufwand würden wir in der Jugendherberge aber nicht betreiben können. Er schien mir mein Zweifeln anzusehen, denn er lachte: „Ihr könnt ihn auch als Long Drink mit Cola oder Sprite gemischt trinken, auch da passt gut Limette oder Zitrone dazu. Wenn ihr ihn pur trinken wollt, solltet ihr die Gläser auf der Heizung vorher aber leicht erwärmen und dem Rum nach dem einschenken etwas Zeit geben, damit er sein Aroma besser entfalten kann."
Ich nickte erleichtert, Cola hatten wir genug auf den Zimmern und so könnte ich in mein Glas auch ganz viel Cola und nur ein mini bisschen Rum einschenken und würde den Abend dann sicher auch ohne Kopfschmerzen überstehen. Ich war beeindruckt, was der Blauhaarige alles über Rum wusste.
Er grinste, wie als hätte er meine lobenden Gedanken erraten, dann sah er mich abschätzend an. „Das ist allerdings ein elder Tropfen, nicht ganz billig."
Ich hätte fast die Augen verdreht, na toll, sicher hatte er mir mit Absicht so viel über die teuren Sorten erzählt, blöd auch, dass hier nirgends Preisschilder angebracht waren, gleichzeitig wurde mein Wunsch, den ich schon seit dem Eintreten verspürte, nämlich diesen merkwürdigen Laden schnellstmöglich wieder zu verlassen, immer dringlicher.
Ich zwang also ein Lächeln auf meine Lippen und murmelte leicht gepresst „passt schon".
Was er mit einem weiten Lächeln quittierte. „Dachte ich mir, dass wir ins Geschäft kommen und dieser edle Tropfen ist wirklich jeden Cent wert", versicherte er mir fachmännisch. Seine Augen blitzten dabei. Machte er sich etwa über mich lustig?
Bestimmt.
Ich senkte für einen kurzen Moment beschämt meinen Blick.
Noch ein Fehler.
Denn plötzlich stand er ganz dicht vor mir. Seine Schuhspitzen, die in vorn schmal zulaufenden Lederstiefeln steckten, berührten nun meine vom Regen durchweichten Turnschuhe.
„Darf es sonst noch etwas sein?", fragte er und seine melodische Stimme schien das Astrolabium unter der Schicht aus Softshelljacke und Sweatpulli zum schwingen zu bringen.
Der Geruch des weiten Ozeans umwehte mich. „Hier findet man alles, was man sucht", sagte er nah an meinem Ohr und verursachte mir damit Herzrasen und Gänsehaut auf einmal.
Das Astrolabium vibrierte nun direkt über meinem Herzen, das wiederum so heftig schlug, dass ich mir sicher, war, dass es mein unregelmäßiger Herzschlag war, der den kleinen Anhänger so in Schwingungen versetzt hatte.
Ich trat hastig einen Schritt zurück.
„ÄH nein", sagte ich schnell. In einem normalen Supermarkt hätte ich jetzt noch Knabberzeug und Limetten mitgenommen, hier wollte ich nur noch eins: So schnell wie möglich raus.
„Ich würde gern zahlen." Ich sah mich um und hielt nach der Kasse Ausschau.
„Natürlich, hier entlang", wies er mir nun den Weg in den hinteren Teil des Ladens, aus dem immer noch die basslastige, fremdsprachige Musik erklang und der leider noch spärlicher beleuchtet war, als der vordere Teil des kleinen Spätshops.
Der Zufall spielte mir entgegen, denn der Verkäufer lenkte mich durch einen Gang, in dem die Knabbersachen penibel aufgereiht und perfekt für das schnelle Zugreifen im Vorbeigehen im Regal standen. Ich griff also schnell nach einer Tafel Schokolade Traube-Nuss und einer Dose Pringles Hot &Spicy.
Am Ende des Ganges stand dann sogar noch ein geflochtener großer Korb, der bis zum Rand mit frischen Limetten gefüllt war, also nahm ich davon auch noch zwei und balancierte sie zusammen mit den anderen Sachen zur Kasse.
Die Flasche hatte zum Glück der Verkäufer mitgenommen, sonst hätte ich gar nicht für alle Sachen Platz in meinen Armen gefunden und bei meinem Geschick wären die Limetten dann sicher durch den halben Laden gekullert.
Der Verkäufer stellte die Flasche auf die hölzerne Ladentheke, auf der eine alte bauchige Petroleumlampe stand, die hier hinten die einzige Lichtquelle war. Das gelblich schimmernde Licht kam kaum durch das dicke Glas hindurch, sondern schien darin wie gefangen. Als Lichtquelle für ein Geschäft war diese Lampe mehr als ungeeignet.
Dennoch fiel ihr schwacher Schein nun auf die Rumflasche und erst jetzt schenkte ich dem, auf ihr angebrachtem Etikett Beachtung. Der darauf abgebildete Totenschädel mit den ausgehöhlten Augen lachte mich hämisch an. Im Hintergrund segelte ein großes Schiff, auf einem nur vom Vollmond erleuchten schwarzem Ozean. Über diesem Gemälde prangte in schwarzen Lettern der Name „Blacks golden Rum". Hinter dem Etikett schimmerte die in der Flasche enthaltene Flüssigkeit tatsächlich wie flüssiges Gold und verlieh dem Bild mit dem Totenschädel eine eindrucksvolle Umrahmung.
Ich hatte in meinem Leben schon zu viele Piratengeschichten gehört, um nicht gleich an Blackbeard, den gefürchteten Piraten zu denken. Na klasse, an diesen grausamen und skrupellosen Seeräuber wollte ich gerade keinen Gedanken verschwenden.
Ich wandte meinen Blick schnell von der Flasche ab und war erstaunt, als ich die Kasse erblickte. Es war eine alte Registrierkasse aus Messing, ein riesiges Teil, das ich eher in einem Museum oder einem Antiquariat erwartet hätte, als in einem Spätshop. Horst Lichter würde in der Sendung Bares für Rares sicher Purzelbäume schlagen, beim Anblick dieses Gerätes.
„Das macht dann 58,30 €", der junge, blauhaarige Verkäufer machte sich noch nicht mal die Mühe, sich das Schmunzeln zu verkneifen. Ich seufzte und fingerte schnell einen 50 € und einen 10 € Schein aus meinem Portemonnaie und reichte sie ihm über die Theke zu. Das war mehr als die Hälfte es Taschengeldes, das ich für diese Reise mitgenommen hatte.
Mit flinken Fingern drückte er die vorstehenden, alten Knöpfe und Hebel und mit einem Pling, das sogar die laute Musik, deren Quelle, ich noch nicht gefunden hatte, übertönte, öffnete sich das Geldfach. Als er die Scheine in seine antike Kasse einsortierte, glaubte ich zu träumen. Die Kasse war randvoll mit bunten Scheinen gefüllt und das waren nicht nur 100€ und 200€ Scheine, sondern auch Scheine in Farben, die ich noch nie gesehen hatte. Sie leuchteten türkis, violett und dunkelrot.
Im Münzfach sah es ähnlich aus, da waren Münzen aller Größen und Formen mit Loch in der Mitte und ohne, mit fremdartigen Gravuren und Schriftzeichen wild durcheinander gewürfelt, dennoch schien er keine Schwierigkeiten zu haben eine 1 Euro Münze, ein 50 Cent Stück und ein 20 Cent Stück aus dieser Masse an Münzen zu fischen und das bei dem schlechten Licht.
Ich war froh darüber, dass ich fast passend gezahlt hatte, denn ich hatte plötzlich Angst davor, Falschgeld wieder zu bekommen. Erneut überlief mich das Drängen, diesen merkwürdigen Ort schnellstmöglich hinter mir zu lassen.
„Vielen Dank und noch einen angenehmen Abend" wünschte er mir und seine Augen blitzten erneut, als er mir mein Wechselgeld übergab. Dann senkten sich seine dichten Wimpern und seine Mundwinkel verzogen sich zu einem angedeuteten Lächeln, fast so, als hätte er so eben einen Scherz gemacht.
Machte er sich etwa insgeheim schon wieder über mich lustig?
„Danke" murmelte ich, während ich meine Einkäufe rasch in meinem Rucksack verstaute und mich anschließend zum gehen umwandte. „Auf Wiedersehen!", sagte ich noch, mehr aus Höflichkeit, denn ich würde nie wieder einen Fuß in diesen Laden setzen.
„Ich kann es kaum erwarten" antwortete er und ich erstarrte für einen kurzen Moment in meiner Bewegung.
Dann lief ich eilig weiter zur Tür, ohne mich noch einmal nach ihm umzudrehen, die kleine Türglocke klingelte, als ich die Tür öffnete und nach draußen trat.
Der nasskalte Wind schlug mir sofort wie eine eisige Faust entgegen, doch mir fiel innerlich ein Stein vom Herzen. Ich rannte förmlich den ganzen Weg bis zur Jugendherberge zurück und die Flasche in meinem Rucksack auf meinem Rücken hüpfte dabei auf und ab und erinnerte mich mit jedem Schritt, den ich tat, an die bizarren Erlebnisse in diesem sonderbaren Spätshop.
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Hier noch ein paar Impressionen:
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