61 | Caritas omnia tolerat
Blitzartig rappelte ich mich auf, machte ein paar Schritte in Theas Richtung, erinnerte mich an die Kette und meine zertrümmerte Hand, die nun ohne jede Stütze in der Luft hing. Ich stolperte wieder zurück, meine Gedanken verschwommen durch meinen eingeschlafenen Kreislauf, den Wassermangel und die Schmerzen.
Felicia drehte das Messer in ihren Händen. „Noch irgendwelche letzten Worte?"
Ich ignorierte sie. Mein Herz schlug bis zum Hals. Sie durfte Thea nichts antun. Nicht ihr, die nichts mit Felicias Rache zu tun hatte.
„Was machst du hier?", schrie ich Thea an. Die Worte taten in meiner Kehle weh. „Du solltest Frau Schwab holen." Meine Stimme wurde immer schwächer. „Das hier ist nicht hilfreich..."
„Sehr berührend", sagte Felicia. „Leider hört sie dich nicht. Genauso wenig wie mich. Dafür sorgt unser lieber Eduard und ich schon."
Sie wechselte einen Blick mit dem Unbekannten. Noch ein Glied in der Geheimgesellschaft. Wozu machten sie sich eigentlich die Mühe, so viele Mitglieder und so viel Verratspotential anzuhäufen? Abgesehen davon, dass ich mir nicht sicher war, ob Eduard wirklich Eduard und nicht wer anders mit einer Illusion getarnt war.
„Ist das Malee?", fragte ich. Sie irgendwie am Reden zu halten, schien eine gute Idee.
Ein kurzer Ausdruck der Überraschung huschte über Felicias Gesicht. „Wie kommst du auf Malee? Glaubst du wirklich, wir würden eine nutzlose Luftbändigerin mit hierherholen?"
Diesmal war es an mir, überrascht zu sein. Denn es machte keinen Sinn. Wenn Malee wirklich Luftmagie besaß, woher war dann die Erd- und Wassermagie gekommen? War die zweite Frau womöglich die Wasserbändigerin aus dem Geheimgang gewesen, die es irgendwie geschafft hatte, noch einen Erdbändiger zu verstecken? Doch den hätte der sechste Sinn gefunden. Gab es eventuell eine Möglichkeit, dass Wasserbändiger Menschen vollkommen unsichtbar machen konnten, auch für den Magiesinn?
Schon bei der Frage gab ich es wieder auf. Diese Psychospielchen mit Wassermagie waren zu viel für mein ohnehin schon überladenes Gehirn. Ich konnte ja nicht einmal wissen, ob Felicia die Wahrheit sagte.
„Wenn wir jetzt endlich die Randinformationen geklärt haben, können wir ja endlich anfangen." Sie machte einen Schritt zurück und hob sanft Theas Kinn an. „Sie ist süß. Ich sehe, was du an ihr findest."
Wer zum Teufel hatte ihr das erzählt? Vermutlich Lorenzo. Doch es spielte keine Rolle, wer es getan hatte. Sie wusste, wie Thea zu mir stand, und sie wusste, wie sie an ihr Ziel kommen würde.
„Lass sie in Ruhe!", platzte es aus mir heraus.
Felicia drehte sich langsam um, während sie mit der Klinge des Messers an Theas Ohr entlangstrich. „Schon? Wir haben doch gerade erst angefangen."
Das kleine Rinnsal an rubinrotem Blut, das Theas starren Hals hinablief, trieb heiße Tränen in meine Augen. Nicht auch noch sie. Tina war ermordet worden, wo Max war, wusste ich nicht. Doch es durfte nicht auch noch Thea treffen. Gerade sie nicht.
„Lass sie in Ruhe", wiederholte ich verzweifelt. „Tu mit mir, was du möchtest, aber lass sie in Frieden."
Felicia lächelte. Das Messer schnellte hinab, stoppte kurz vor Theas Schulter. Sie regte sich keinen Zentimeter, starrte weiterhin an einen undefinierbaren Punkt. Automatisch griff ich nach meiner Magie, schleuderte sie auf die dunkelhaarige Frau. Sie verpuffte im Nichts.
Ich wusste, was sie wollte. Wie ich sie stoppen konnte. Doch etwas tief in meinem Inneren weigerte sich, meine Magie so schnell aufzugeben. Es war noch nicht zu spät. Felicia konnte noch einen Fehler machen, Hilfe konnte noch kommen, Nicholas konnte noch ein genialer Plan einfallen.
Und so konnte ich nur zusehen, wie die Klinge einen Weg zurück in Felicias Hand fand. Von dort aus in Theas Oberschenkel. Sie drehte es. Einmal. Zweimal. Zog es hinaus. Noch immer bewegte sich meine Freundin nicht. Es machte es nur noch schlimmer.
Denn obwohl sie physisch da war, war ich alleine. Ich wusste nicht, wie es ihr gerade erging. Ob sie den Schmerz überhaupt fühlte. Ob sie realisierte, was der Grund für die Folter war.
Einen Augenblick lang verschwamm die Welt vor meinen Augen. Es lag alles nur an mir. Ob ich sie oder meine Magie wählte. Ich musste eine Entscheidung treffen. Und niemand konnte sie mir abnehmen.
Felicia bedachte mich mit einem zutiefst enttäuschten Blick. Sie ließ das Blut von einer neuen Eisschicht überwachsen, dann ließ sie das Messer in der Luft schweben. Es näherte sich immer weiter der Stelle, an der Theas Herz saß. Beinahe konnte ich spüren, wie es sich durch die Kleidung in ihre Haut bohrte.
„Nein...", wisperte ich. Sie konnte doch nichts dafür.
„Also?"
Meine Gedanken überschlugen sich. Ich durfte sie hier nicht sterben lassen. Ich hatte darin versagt, Tina zu retten. Es durfte nicht noch jemand sein Leben lassen, wenn ich es verhindern konnte. Und wenn es mich alles kostete.
„Ich mache es."
Doch es war nicht meine Stimme, die durch das Verlies hallte. Erstaunt blinzelte ich. Auch Felicias Kopf ruckte zur Seite.
„Ich mache es", sagte Nicholas erneut.
Beinahe sah ich Enttäuschung in Felicias Haltung. „Das ist doch mal eine erfreuliche Antwort. Dann lass uns gehen."
Aber noch war Nicholas nicht fertig. „Unter einer Bedingung."
„Du bist nicht in der Position, Bedingungen zu stellen."
„Doch", sagte er bloß. „Ich bin der Einzige, der wirkliche Erfahrung hat. Ihr würdet nur davon profitieren, wenn ich den Stein binde."
Felicia schnaubte missbilligend, widersprach aber nicht. Das nahm Nicholas als Zeichen, weiterzureden. „Niemand wird hier unten zurückgelassen. Ohne Ausnahme."
Ich hörte nur noch, wie Felicia zustimmte, dann wurde meine Aufmerksamkeit wieder von Thea gefangen. Sie bewegte sich ein Stückchen, zuckte zusammen. Sofort meldete sich meine Sorge wieder und mir wurde heiß vor Scham. Ihren Zustand hatte sie nur meinem eigenen Egoismus zu verdanken.
Ich war so sehr auf die Wunden fokussiert, die ihren Körper nun zierten, dass ich das Klicken kaum bemerkte. Es kam von direkt unter mir. Mein Blick wanderte zu dem Ring an meinem Fußgelenk. Die Kette hing nicht mehr dran.
„Dann kommt", befahl Felicia.
Zur Hälfte immer noch von der Angst gelähmt vor dem, was nun kam, und zur Hälfte erleichtert über das wegfallende Gewicht machte ich die Schritte aus der Zelle hinaus. Ich stand nun direkt neben Thea. Doch ich traute mich nicht, sie zu berühren, zu versuchen, sie zurückzuholen. Es fühlte sich an wie ein gewaltiger Betrug.
Stattdessen sah ich zur Seite. Erneut wartete eine Überraschung auf mich. In meiner Vorstellung war Nicholas Flamel ein alter Zauberer gewesen, mit langem Bart, gebeugter Körperhaltung und allen anderen Merkmalen. Nun erblickte ich jedoch einen Mann in seinen Vierzigern, der genauso gut aus unserer Zeit hätte stammen können. Lediglich ein ungepflegter Bart, halblange Haare und eine gebrechliche Haltung sprachen noch für mein altes Bild. Das alles konnte jedoch genauso gut an den Monaten in Gefangenschaft liegen.
Neben mir ertönten Schritte. Felicia, Eduard und Thea machten sich auf den Rückweg. Ich folgte ihnen, nicht jedoch, ohne mir zu wünschen, sie wären näher. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, den Ring nun loszuwerden und Lorenzos Schwester auf eine sehr schmerzhafte Weise für ein und allemal zur Strecke zu bringen. Sie hatte es nicht anders verdient.
Ich ließ die Magie durch meine Adern strömen, direkt auf den Ring zu. Wenn ich genug Energie aufwandte, konnte es vielleicht funktionieren. Doch bevor ich auch nur meinen derzeitigen Vorrat geleert hatte, griff Nicholas an meinen Oberarm, knapp neben Felicias Einstichstelle. Ich sog schmerzerfüllt die Luft ein.
„Nicht jetzt", sagte er.
Bei der unterschwelligen Schärfe in seinem Tonfall ließ ich meine Magie ruhen. Was nichts an der Tatsache änderte, dass ich Felicia immer noch lebendig begraben wollte. Doch ich sah ein, dass wir vielleicht wirklich erst aus dem Verlies kommen sollten. Dann gab es auch mehr Fluchtmöglichkeiten.
Also folgten wir ihnen weiterhin. Durch eine massive Tür, eine Treppe hoch, durch eine weitere Tür. Dort flüsterte Felicia Eduard etwas Unverständliches zu. Er nickte und verschwand hinter einer weiteren Tür, Thea im Schlepptau. Ich war bereit, erneut nach der Magie zu greifen, doch dann spürte ich wieder Nicholas' Berührung. Ich riss mich zusammen und ging hinter Felicia eine weitere Treppe hinauf.
Schließlich kamen wir in einer geräumigen Halle an, immer noch aus Stein gehauen. An der Wand stand eine Amphore, sonst gab es kein Mobiliar. Es befanden sich nur noch weitere Leute dort. Hauptsächlich Unbekannte. Bis auf zwei Personen direkt bei der Amphore. Ich riss die Augen auf.
„Später", ermahnte mich Nicholas leise, als er mein Entsetzen bemerkte.
Selbst wenn ich plötzlich beschlossen hätte, meine Kräfte loslassen zu wollen, hätte ich es nicht gekonnt. Es war einfach zu viel. Zu viel für so kurze Zeit, um es zu verarbeiten. Hier in der Halle hatte ich vielleicht mit Lorenzo oder irgendeinem anderen Schüler gerechnet. Doch wer dort tatsächlich in ein Gespräch vertieft war, waren Leonie und Fräulein Schneider.
Während ich sie nur fassungslos anstarrte, wandte sich die Hausmeisterin zu uns. Anders als sonst trug sie einen feinen Anzug und dunkle, hohe Schuhe. Es war, als würde ich einer Fremden gegenüberstehen.
„Danke, Felicia", sagte sie. „Dann lasst uns anfangen."
Wie zu einer Statue erfroren, beobachtete ich, wie Nicholas zu ihr ging. Der Ring um sein Fußgelenk löste sich. Er deutete fragend auf Leonie. Fräulein Schneider nickte. Er legte die Hände an die Amphore. Und langsam hob sich eine Substanz daraus.
Von der anderen Seite der Halle ertönte ein Knall. Ich schnellte herum, endlich gelöst von dem Spektakel vor mir. Tränen stiegen mir erneut in die Augen. Doch diesmal war es vor Erleichterung. In den Felsbrocken der ehemaligen Tür standen Frau Schwab, Matthias, Lorenzo, Herr Emerson.
Sie waren doch gekommen.
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