15 | Nihil fit sine causa
Die Sonne stand prall am Himmel. Thea und ich saßen im spärlichen Schatten eines Mäuerchens und ließen alibihalber Wasser und Steine in die Luft fliegen. Genau genommen hatte ich die Übung nicht nötig. Wir hatten heute damit angefangen, Sand über einen kleinen Abgrund zu transportieren. Während die meisten anderen damit zu kämpfen gehabt hatten, hatte es bei mir dank Theas Tipps von gestern problemlos funktioniert.
Nun ließ ich zwei Steine vor mir in verschlungenen Mustern kreisen. Sobald ich den Dreh mit mehreren Objekten rausgehabt hatte, ging es einfach. Ab und an hob ich auch ein wenig Sand an.
Manchmal klappte es jedoch nur halb so gut. Ich bemerkte die Blicke, die auf mir lasteten. Seit dem Mord hatte jeder zumindest einmal meinen Namen gehört. Ich konnte ihr Gewisper förmlich spüren. Am liebsten hätte ich sie angeschnauzt, dass diese gesamte Angelegenheit sie einen Scheißdreck anging. Sie waren nicht diejenigen, die aus dem Nichts über eine Leiche gestolpert waren.
Stattdessen tat ich mein Bestes, sie auszublenden. Vor allem, weil sich die Gerüchte, ich hätte Frau Verdivis umgebracht, sich spätestens nach dem Gespräch heute mit der Polizei aufgelöst hatten. Dass die überhaupt hergekommen war, hatte mich ohnehin schon gewundert, aber wie es aussah, gab es eine Art Extraabteilung dort für die Verbrechen der magischen Welt.
Die Allgegenwärtigkeit des Mordes ließ mich trotzdem unruhig werden. Ich musste etwas tun. Wenn auch nur, um irgendwie meine wild herumschwirrenden Gedanken zu beruhigen.
„Lass uns einmal die Informationen zusammentragen", sagte ich. Thea zuckte zusammen und ihre Wasserkugel zerplatzte.
„Wir haben einen Mord mit einer blutleeren Leiche", sprach ich meine Überlegungen aus. „Laut der Polizistin ist er etwa eineinhalb Stunden bevor ich ins Bad gekommen bin geschehen, die Todesursache war die Wunde am Hinterkopf. Zu dem Zeitpunkt war noch Pause, theoretisch hätte es jeder sein können."
„Und mein Kurs hat es nur nicht bemerkt, weil die Stunde ohnehin ausgefallen ist", fügte Thea hinzu.
„Guter Punkt. So kam es dann, dass keiner von ihrem Verschwinden mitbekommen hat. Außerdem hat Frau Schwab irgendeine Vermutung, was hinter allem stecken könnte. Aber die kann sie irgendwem, vermutlich der Polizei, nicht erzählen. Wegen irgendeines Vorfalls mit der schwarzen Königin. Wer auch immer das ist. Und Herr Emerson, oder auch Will genannt, weiß davon."
Wie es sich herausgestellt hatte, war besagter Will eigentlich William Emerson, stellvertretender Schulleiter und Lehrer für PoWi und Englisch. Er hatte sogar Kurse in unserer Stufe, nur eben keine von meinen. Dafür aber Theas PoWi-Kurs. Dadurch waren wir auch letztendlich auf ihn gekommen.
„Ich war vorhin in der Freistunde noch in der Bibliothek." Konzentriert ließ sie ihren Wasserball hoch und hinuntersteigen. „Auf die Schnelle habe ich aber nichts zu einer schwarzen Königin gefunden. Nur über die Schachfigur auf Englisch."
„Okay, wenn es nichts gibt, auch vorerst nicht so dramatisch. Frau Schwab hat wie von einem vergangenen Fall davon geredet, es muss nicht unbedingt mit dem Mord zusammenhängen. Trotzdem würde mich stark interessieren, welche Vermutung sie hat. Die Polizei hat nämlich auch keine Ahnung. Oder zumindest wirkte es heute Morgen so."
Nachdenklich verfolgte ich die Bahn meiner Steine in der Luft. Gab es noch irgendwas, was wir mit Sicherheit wussten? Etwas, was ebenfalls seltsam gewesen war?
Fast sofort schnellten meine Gedanken zu den Ereignissen im Orchestergraben. Die hatte ich durch die Menge an Schulaufgaben und den Mord ganz verdrängt. Ich wog kurz die Vor- und Nachteile ab, dann entschied ich, dass ich es auch genauso gut Thea erzählen konnte. So schnell es ging, schilderte ich ihr, was ich am ersten Abend an der Akademie beobachtet hatte. Von der Stöckelschuhfrau bis zu dem Fakt, dass niemand in dem Abstellraum ein Wort geredet hatte.
Einen Moment sah mich Thea still an, den Kopf schräg gelegt. Ihr Wasser war schon längst wieder in der Wiese versickert.
„Sie wussten, dass du da warst", sagte sie schließlich.
Überrascht sah ich auf. „Wie das?"
„Du hast die Tür nicht hinter dir geschlossen, richtig? Sie müssen das bemerkt haben und hatten wohl eine Art Notfallprotokoll."
Langsam begann es mir zu dämmern. Was sie sagte, machte Sinn. Wie hatte ich das nicht schon vorher bemerkt?
„So ein Mist", entfuhr es mir. „Also wissen sie Bescheid. Dann können wir diese Spur ganz vergessen."
„Nicht ganz. Wir könnten noch einen Versuch starten. Vorsichtshalber vielleicht erst in ein paar Tagen, und angenommen, sie treffen sich immer zur gleichen Zeit."
„Gute Idee. Ist morgen zu früh?"
„Eventuell schon, aber vermutlich werden wir da die beste Chance haben. Das Treffen, das du beobachtet hast, wäre dann immerhin eine Woche her."
„Gut, dann lass uns damit anfangen." Ob eine Woche Abstand wirklich reichte, würde sich herausstellen.
Die nächsten zehn Minuten übten wir weiter. Jetzt, wo meine Konzentration fast vollständig auf meine Magie gerichtet war, war ich dazu imstande, noch ein wenig mit der schwebenden Erde herumzuprobieren. Auch wenn es mir noch mehr Aufmerksamkeit als ohnehin schon einbrachte. Niemand der Erstklässler auf der Wiese war bereits so weit mit seinem Element. Doch ich konnte nicht aufhören, nicht, wenn ich irgendetwas brauchte, um die Angespanntheit loszuwerden. Es war ein Teufelskreis.
„Das nächste Mal gehen wir zu der Lichtung", informierte ich Thea, als ich mit einer Übung fertig war. Da würden wir immerhin unsere Ruhe haben.
Sie nickte und ließ ihre Wasserkugel zurück in die Schale fallen. Ich war ihr äußerst dankbar, dass sie keine Widersprüche hatte. Ich war mir nämlich ziemlich sicher, dass es die ersten zwei Wochen für Erstklässler verboten war, außerhalb der Wiese zu trainieren. Allerdings hatten wir das zusammen mit anderen Regeln ohnehin schon ignoriert. Auf das eine Mal kam es nicht mehr an. Und wenn das gut ging, auf die anderen Male ebenfalls nicht.
Resigniert suchte ich auch meine Materialien zusammen und wir brachten sie zurück zu dem Mäuerchen. Den Sandhaufen und die Steine ließ ich dabei neben mir herschweben. Dann verließen wir das Feld der Hölle endlich.
„Und was jetzt?", fragte ich.
„Wir könnten in der Bibliothek nach der schwarzen Königin weitersuchen", schlug Thea vor.
„Gute Idee." Mein Blick landete auf den kleinen Tierfiguren auf einem Brunnen. War nicht auch auf dem Deckengemälde im Theatersaal eine Schildkröte gewesen? „Morgen ist Samstag", überlegte ich laut. „Wir treffen uns in der Bibliothek, ich muss noch was nachschauen. Wegen unserem Plan für morgen."
Thea hatte nichts dagegen. Als wir im Schloss angekommen waren, bog sie ab, ich ging weiter geradeaus. Ich wusste noch genau, wo die Tür zum Orchestergraben war.
In jedem Flur, den ich betrat, wurde es leerer. Die Tür lag ziemlich abgelegen von den Hauptfluren, und dann auch noch im Keller. Wenn mich der Mörder von Frau Verdivis auch umbringen wollte, jetzt wäre die Gelegenheit gekommen.
Obwohl ich es halb erwartete, blieb es still in den Korridoren. Niemand sprang aus der Ecke und zu einem gewissen Punkt war ich sogar vollkommen allein. Das einzige Lebewesen, das ich auf dem Weg traf, war eine vereinzelt in der Ecke herumhängende Spinne.
Schließlich war ich angekommen. Die Tür war fest abgeschlossen. Zu meinem Glück letzte Woche war es eine von den altmodischen, die man von der Innenseite so oder so öffnen konnte. Aber von außen hatte ich keine besonders große Chance, sie aufzubekommen. Vor allem, da mir gerade jetzt Tina und Emilie entgegenkamen. Meine Schlossknackkünste unter Beweis zu stellen war so auch keine Option.
„Was machst du denn hier?" Tina klang überrascht. Emilie sah mich nur leicht vorwurfsvoll an.
„Ich suche eigentlich nur Fräulein Schneider", erklärte ich. „Wegen der Aktion mit Lukas im Garten."
Emilies Miene wurde ungläubig. „Im Keller?"
„Irgendwer meinte, sie sei hier. Irgendeine mittelkleine Blonde, vermutlich aus dem zweiten oder dritten Jahr." Diese Beschreibung würde hoffentlich auf relativ viele Mädchen zutreffen. Damit aber auch ja niemand auf die Idee kam, weiter nachzufragen, fügte ich hinzu: „Und was macht ihr hier?"
„Leichen suchen." Emilie zuckte nicht mal mit der Wimper, als sie das verkündete.
Tina stieß ihr den Ellbogen in die Seite. „Wir sind auf dem Weg in den Theatersaal. Und das hier ist eine interessante Abkürzung."
Eine interessante Abkürzung also. Das kam dem Leichensuchen doch schon ziemlich nahe.
„Stört es euch, wenn ich mitkommen würde?", fragte ich. Sicher war sicher. Ich brauchte niemanden, der hier herumschnüffelte und meinen Plan auf den letzten Drücker noch zerstörte.
„Überhaupt nicht", antwortete Tina. „Was ist mit Fräulein Schneider?"
„Die kann vermutlich auch noch ein bisschen warten. Wie es aussieht, ist sie ohnehin nicht hier."
Direkt als wir die Treppe wieder hochgingen, von der ich gekommen war, hakte Emilie nach: „Stimmt es eigentlich, dass die Leiche blutleer war? Ich meine, die meisten bestätigen das, aber du weißt doch bestimmt mehr darüber."
„War sie. Es gibt aber nicht zufällig auch noch Vampire, oder?"
Tina und Emilie wechselten einen amüsierten Blick. „Noch nicht", sagte letztere. „Aber es gibt Mythen, die den Vampiren nahekommen. Von unsterblichen Elementbändigern, die sich nur durch Blut am Leben halten. Ich habe aber leider noch nie einen davon getroffen. Und glaub mir, mir sind schon so einige seltsame Gestalten begegnet."
Was im Klartext hieß, dass es nur eine nette Geschichte war und keinen wirklichen Wahrheitsgehalt hatte. Meine Vampirtheorie verlief also ins Nichts. Was durchaus nicht weiter schlimm war. So gut war sie nicht gewesen.
„Warum war die Leiche eigentlich blutleer?", fragte Tina. „Und falls es irgendwie nochmal passieren würde, glaubt ihr, es wird ein Muster entstehen?"
„Hoffen wir einfach, dass es nicht nochmal passiert und der Mörder schnell gefunden wird", sagte Emilie. „Die Schule hat schon so genug am Hals."
Da konnte ich ihr von ganzem Herzen zustimmen. Momentan wollte ich nicht noch eine Tote finden. Oder davon hören. Oder selber die Leiche sein. Noch ein Ansporn, schnellstens mehr zu dem Fall herauszufinden.
Als die beiden den Weg zum Theatersaal einschlugen, beschleunigte ich meine Schritte. Vielleicht hatte ich Glück und Thea war bereits auf etwas gestoßen.
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