no. seven - spaziergang
Als sie wenige Minuten später an Ethiws Seite durch den knöcheltiefen Schnee stapfte, fror sie nicht einmal ansatzweise. Ethiw hatte tatsächlich Kleidung in ihrer Größe auftreiben können. Das bauschige Kleid, das ihr bis zu den Knien reichte und in dunkleren Tönen gehalten war, war wärmer, als sie zuerst angenommen hatte. Nicht zuletzt, da sie darüber noch einen dicken Wollpullover und einen langen, dunkelroten Mantel mit Fellbesatz trug, dessen große Kapuze ihr immer wieder ins Gesicht rutschte. Auch die lange Strumpfhose und die hohen Stiefel, welche kunstvoll verziert waren erfüllten ihren Zweck. Yuki konnte sich nicht daran erinnern, schon einmal so schöne Kleider getragen zu haben. Die Schuluniform, die sie zu Beginn des Schuljahres noch hoch angepriesen hatte, war im Vergleich zu dem, was sie nun trug nicht mehr als Lumpen.
◇
Er selbst trug nur einen Pullover über seinem dünnen Hemd. Das genügte, um ihn zu wärmen. Als Loup Ga verfügte er über eine relativ geringe Kälteempfindlichkeit, die es ihm ermöglichte, trotz des kalten Windes nicht zu frieren. Unauffällig schielte er zur Seite, zu Yuki. Ob sie wohl auch nicht frierte? Er hoffte es inständig. Ihr Immunsystem war geschwächt, obwohl sie davon wohl kaum etwas zu merken schien. Sie musste ähnlich wie ein Mensch Kälte empfinden. Eine suspekte Vorstellung, bei der er unweigerlich die Nase rümpfte, doch trotzdem wanderte sein besorgter Blick zu ihrem blassen Gesicht mit den geröteten Wangen. "Ist dir auch nicht zu kalt?", fragte er dann doch schließlich. Sie lächelte breit. "Nein, gar nicht! Mir ist schön warm." Ein leichtes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. "Ein Glück dass ich noch passende Sachen gefunden habe", murmelte er zufrieden, mehr zu sich selbst als zu ihr. Trotzdem nickte sie. Doch dann durchzuckte sie ein anderer Gedanke, der ihr die Hitze in den Kopf schießen ließ. Von wem stammte die Kleidung, die nahezu exakt ihrer Größe entsprach? Noch dazu Damenkleidung. Verlegen kratzte sie sich am Kopf. Vielleicht von seiner Freundin? ...Hatte Ethiw eine Freundin? Yuki schielte zur Seite, zu dem Dunkelhaarigen. Gut möglich. Immerhin war er wunderschön und dazu auch noch sehr mächtig, wie es schien. Ihre Wangen färbten sich knallrot. Das ging sie ja auch eigentlich alles gar nichts an. Schließlich kannte sie den Dunkelhaarigen kaum. Eine Schneeflocke landete auf ihrer Nase und sie musste niesen. Ethiw lachte.
"Du scheinst mir den Schnee und die Kälte hier nicht wirklich gewöhnt zu sein", meinte Ethiw amüsiert. Verwirrt und ein wenig verlegen zuckte sie mit den Schultern. "Naja da wo ich herkomme, sind die Winter mild. Schnee habe ich zum ersten Mal vor zwei Wochen gesehen, als ich auf diese Insel gebracht wurde." Seine Augen verengten sich zu Schlitzen. "Du bist also wirklich erst seit kurzer Zeit auf Abigaile", murmelte er. "J-Ja, wieso?", entgegnete sie errötend. "Nun ja, du scheinst kein Home zu haben und besuchst die Klasse schwarz. So geht es den meisten Neuen zu Beginn", antwortete er, "Und außerdem riechst du ganz anders, als die anderen Loup-Ga. Die Rose deren Duft an dir haftet ist mir seltsamerweise aber nicht bekannt." Sie nickte resigniert. "Ja, das stimmt. Ich habe kein Home. Ich bekomme das einfach nicht hin. Ich rede zwar ab und an mit anderen Loup-Ga, aber bevor ich sie besser kennenlernen und so potentielle Alphatiere finden kann, wenden sie sich von mir ab...", seufzte sie. Er zog eine Augenbraue hoch. "Aber immerhin habe ich noch das hier", fügte sie schon etwas fröhlicher hinzu und zog ein Medaillion unter ihrem Pullover hervor. Es war aus Bronze und relativ einfach gehalten. Ihre Schritte würden langsamer, bis sie schließlich stehen blieb. "Es erinnert mich an meine Heimat und meine Mutter", fuhr sie fort und öffnete den Anhänger. Dann schob sie ihre geöffnete Handfläche zu ihm. Eine winzige Knospe lag in deren Innenseite. "Das ist eine 'Sukui'. Die Rose wächst nur in wenigen Gebieten entlang der japanischen Küste. Einst wurde sie zur Herstellung von Medikamenten verwendet, aber heutzutage dient sie nur noch dekorativen Zwecken. Ihr Duft ist einzigartig~", erklärte Yuki. Ihre Augen strahlten. Der Dunkelhaarige wollte nach der Knospe greifen, aber sie hielt ihn zurück. "Nicht! Sie ist unwahrscheinlich zerbrechlich!" Er nickte und fuhr sich verlegen durch's Haar. "Verzeih, daran habe ich nicht gedacht", war seine Antwort. Stattdessen beugte er sich nun zu ihr herab. " Sie riecht wie du", murmelte er. Sie verschloss das Medaillion und schob es wieder unter ihren Pullover. "Nun ja, ich denke ich rieche wohl eher nach ihr", entgegnete sie. "Auch möglich", warf er mit einem schmalen Lächeln ein. Es herrschte kurz Stille. "Lass uns weiter gehen", beendete dann schließlich der männliche Loup-Ga die unangenehme Pause, und richtete sich auf.
Sie setzten sich in Gang. "Du kommst also aus Japan?", fragte Ethiw nach. "Ja, ich bin in einem kleinen Fischerdorf im Osten aufgewachsen. Dort siedelten sich einst kleinere Rudel an, bis es schließlich zur Gründung unseres Dorfes kam. Seither lebten die Loup-Ga friedlich miteinander, bis plötzlich Menschen vor wenigen Wochen in unsere Siedlung einfielen. Sie haben alles zerstört, die Erwachsenen eingesperrt und die Jungen in Erziehungsheime gesteckt. Ich war als einzige alt genug, um an diese Schule geschickt zu werden", erzählte sie leise. "Das tut mir sehr leid", seufzte Ethiw. "Irgendwann werde ich hier raus kommen! Und dann werde ich sie wieder sehen!", entgegnete Yuki leise, aber trotzdem entschlossen," Ich bin sehr behütet, fast schon abgeschnitten von der Außenwelt, aufgewachsen. In unserem Dorf haben wir bis vor kurzem nichts von der Bedrohung durch den Menschen gewusst. Ich war und bin immer noch völlig durcheinander. Aber als ich hierher kam, erzählten mir ein Loup-Ga davon, dass es uns schon einmal gelungen ist, gegen die Menschen anzukommen. Angeblich haben es zwei Schüler geschafft, alle Loup-Ga auf Abigaile zu vereinen und so gegen die Menschen gewonnen. Zwar weiss ich nicht, ob die Geschichte so tatsächlich stimmt, aber sie gibt mir Hoffnung." Ethiw lächelte milde."Ja, diese Geschichte erzählen sich alle Loup-Ga. Es stimmt, dass sich die Gefangenen befreien und fliehen konnten." Er wandte den Kopf ab. "Aber letztenendes haben wir doch wieder verloren. Alles war umsonst." Seine Stimme wurde immer leiser. Yuki schwieg. Obwohl er sein Gesicht angewandt hatte, sah sie Trauer in seinen Zügen, Trauer, Bitterkeit und Hass. "T-Tut mir leid, ich wollte nicht...", brachte sie nur verlegen hervor. Der Dunkelhaarige zögerte kurz. " Ich weiss; das Leben auf Abigaile ist hart, aber man sollte das beste daraus machen. Wenn man sich gegen die Menschen zur Wehr setzt, bekommt man nur unnötig Probleme", meinte er. Yuki unterließ es, weitere Bemerkungen zu machen. Sie wusste doch gar nichts. Nichts. Sie war nicht dabei gewesen, nie. Sie war anders aufgewachsen, als die meisten ihrer Art. Sie hatte den Schmerz, die Erniedrigung nicht von Anfang an miterlebt. Aber einfach aufgeben? Einfach. Sie schüttelte den Kopf. Sie hatte in der Tat keine Ahnung. Die Menschen waren sadistische Wesen. Jeder Tag auf Abigaile war ein Tag voller Angst, Trauer und Frust. Trotzdem. Sie würde nicht aufgeben, noch nicht. Nicht, dass sie bis jetzt wirklich etwas unternommen hatte. Aber das konnte sie momentan ja auch gar nicht. Aber irgendwann würde sie stark genug sein, um für ihre Freihwit kämpfen zu können. Irgendwann. Aber dafür bräuchte sie Unterstützung. Ihr Plan stand fest. Auch, wenn sie bislang keinen Erfolg gehabt hatte, sie würde einen Alpha finden. Den stärksten Alpha, den es auf dieser Insel gab. Ihren Alpa. Sie biss die Zähne zusammen. Ob ihr das wohl auch gelingen würde?
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