Prolog
Ein Buch.
Es ging um ein einziges, verstaubtes Buch. Es war weder besonders groß, noch besaß es außerordentlich viele Seiten. Es verfügte auch nicht über bunte handgemalte Bilder, noch hatte der Verfasser umfassendes Wissen der Kalligrafie besessen. Man hätte fast meinen können, dass es sich um ein gewöhnliches Büchlein zum Anfertigen von Notizen handelte, das Jedermann mit sich herumtragen würde. Nichts von Bedeutung würde darin zu finden sein, so achtlos, wie damit umgegangen worden war.
Doch dem war nicht so.
Mitten in den Tiefen einer eher wertlosen Ansammlung an Literatur lag es bereits, seit der letzte Leser es achtlos auf einem Stapel eng beschriebenen Pergaments abgelegt hatte. Es war verschoben worden, andere Bücher hatten auf ihm gelegen, einmal sogar hatte ein Tintenfass einen blauen runden Abdruck auf dem ledernen Einband hinterlassen. Eine Feder hatte gedankenverloren über die Kanten der Seiten gekitzelt, ehe sie sich wieder in eiligem Tanze dem Verfassen der wichtigen Korrespondenz gewidmet hatte.
Tage waren vergangen, Monate, beinahe ein Jahr verstrich, ehe das Buch mit dem blauen Tintenfleck achtlos vom Tisch gefegt wurde und unsanft auf dem Boden landete. Es wurde Zeuge obszöner Laute, die ihm von seiner einstigen Lagerstätte entgegen wehten und es wäre wohl beinahe möglich gewesen, man hätte einen errötenden Schimmer der Scham auf seinen Seiten entdeckt, wenn irgendjemand es nur aufgehoben und darin geblättert hätte.
Doch da Bücher dessen nicht fähig sind, lag es weiterhin geschlossen auf dem Fußboden und tat nichts weiter, als geheime Worte zu hüten.
Dass es geheime Worte waren, denen das Buch ein Versteck bot, war nicht zu übersehen. An den Ecken und Kanten war der Einband mit Metall verstärkt worden. Einem Metall, das so fein und gleichsam so stark gearbeitet war, dass es neben der Zierde auch noch den nützlichen Effekt besaß, sich nicht öffnen zu lassen, verfügte man nicht über den richtigen Schlüssel. Lange Zeit war das Buch nicht geöffnet worden. Lange Zeit hatte niemand den richtigen Schlüssel in das Schloss gleiten lassen. Lange Zeit hatte niemand die geheimen Gedanken gelesen oder weitere zu Papier gebracht.
Weitere Zeit verstrich. Sonnenschein glitt durch die offenen Fensterläden des Sommers und eine frische Brise wehte den Staub hinfort. Der blaue Tintenfleck verblich so weit, dass ihn kaum noch jemand zu entdecken vermochte. Das Leder wurde alt und hart, aber nicht brüchig, denn es handelte sich um teures Leder.
Eines Tages unterbrachen es Kinderstimmen in seiner Lethargie, die ein jedes Buch befällt, wenn es nicht benutzt wird. Ein Mädchen und ein Junge tollten durch den Raum, der einst als Arbeitszimmer und Bibliothek gedient hatte. Das Lachen berührte die verschlossenen Seiten aus dickem Pergament und es schien, als würde ein leichtes Seufzen durch den Raum fliegen, wie ein Schleier, der sich gelüftet hatte.
Türen und Fensterläden schlugen auf. Kamine wurden neu befeuert und zum ersten Mal seit Jahren berührte eine Hand den verblichenen Einband des Buches. Eine Magd hob es vom Boden auf, legte es auf den Kaminsims ab und begann summend den Boden zu kehren, wo es zuletzt gelegen hatte.
Abende lang wurde das Buch Zeuge von Geschichten, die ein Vater seinen Kindern vor las. Geschichten aus der Bibel, Sagen aus der Region, Erzählungen und Gute Nacht Geschichten.
Im Flackern des Kaminfeuers hätte das Buch fühlen können, wie es beobachtet wurde. Oft stundenlang. Misstrauisch. Unzufrieden.
Eines Tages wurde es in beide Hände genommen und nahe über das Kaminfeuer gehalten. Der Ledereinband begann bereits, sich dunkel zu verfärben und ein seltsamer Geruch stach hervor. Doch nach einem weiteren Atemzug entfernte es sich wieder vom Feuer und wurde zurück auf seinen alten Platz auf den Kaminsims gelegt.
Das Buch ertrug all das mit der stoischen Ruhe, die nur Büchern zu Eigen sein kann, die ein großes Geheimnis hüten müssen. Es hätte sich sicher sein können, dass die Zeit seines Abenteuers kommen würde. Die Zeit, in der jemand beschließen würde, sein Geheimnis zu lüften und all die Antworten auf noch nicht gestellte Fragen ans Tageslicht zu bringen.
Doch die Tage kamen und gingen. Zweifel stiegen auf. Zweifel über die Bedeutung dessen, was es in sich trug. Was, wenn es etwas Schlechtes war. Etwas, das ein Unglück heraufbeschwören würde. Etwas, das versteckt und nicht auffindbar sein durfte, aber dennoch von zu großer Bedeutung war, als dass man es einfach hätte verschwinden lassen dürfen.
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