Kapitel 79 - Es gibt Schlimmeres
Die Luft war noch kühl und feucht vom Regen, der in der Nacht gefallen war und das Gras war voll von Tautropfen. Ein leichter schleierartiger Nebel hing über der Wiese. Jared reckte und streckte sich, ließ die Kühle des Windes über seine Haut streichen und seinen Kreislauf beleben, ehe er sein Hemd überzog und sich auf den Weg machte, Daemon und Dannielle mit dem Abbau des Zeltes zu helfen.
Wie er es jeden Morgen tat.
Wie er es sich jeden Morgen selber erlaubte.
Wie er jeden Morgen an nichts anderes denken konnte, bis er sie erblickte und sich nach ihrer bloßen Anwesenheit sehnte, wie ein Ertrinkender nach einem Atemzug. Sein Verstand verzerrte sich nach ihr und trieb ihn des Nachts in den Wahnsinn. Sein Herz zersprang jedes Mal in tausend kleine Teile, wenn ihr von Trauer erfüllter Blick ihn streifte. Sein Innerstes schrie und tobte wie die See in einem wütenden Sturm, wenn er sich umwandte, um ihr den Rücken zu kehren.
Und mit jedem Tag, der verging, wurde es schlimmer.
Die Stimme des Wahnsinns versuchte er zu ignorieren.
Lucida gelang es jede Nacht weniger, die tausend Splitter seines Herzens wieder eins werden zu lassen. Und die Ketten und Fesseln, die er dem Sturm in seinem Inneren anzulegen versuchte, klirrten und ächzten, als wären sie kurz davor zu zerreißen.
Noch bevor er um die Ecke eines Zeltes bog, hörte er ein amüsiertes Lachen.
Er erstarrte.
Dannielles unbeschwertes Gelächter erfüllte die Luft, während sein Freund sie von hinten mit den Armen umschlungen hielt und sie zu ärgern schien.
„Lass mich los!", konnte Jared unter dem Gekicher heraushören, doch Daemon schien nicht im Traum daran zu denken.
„Hör auf, wir müssen das Zelt abbauen!", versuchte Dannielle ihn wiederum zu überzeugen, doch bald erstickten ihre Versuche in weiterem Gekicher, da Daemon sie nur noch mehr zu ärgern begann.
Sie schienen ihre Freude zu haben und ihn keinesfalls zu vermissen. Er wollte erleichtert ausatmen. Es würde nicht mehr lange dauern und sie würde von ihm erlöst sein, sicher vor ihm sein und ihm endlich den Rücken kehren. Doch alles, was sich seiner Kehle entrang, war ein leises Geräusch, das an das bösartige Knurren eines Wolfes erinnerte. Er formte es so, dass es sich in ein verhaltenes Räuspern verwandelte und lenkte somit die Aufmerksamkeit der beiden auf sich. Zögernd schritt er zu den beiden hinüber. Unentschlossen glitt sein Blick von Dannielle zu Daemon und wieder zurück.
„Guten Morgen..." Ein falsches Lächeln lag auf seinen Lippen, das er sich selber nicht abgekauft hätte.
Daemon hielt Dannielle noch immer mit seinen Armen umschlungen. Und er sah nicht aus, als würde er sie loslassen wollen.
„Bonjour, mon ami! Fromage." Guten Morgen, mein Freund! Käse, gab er in gebrochenem Französisch zurück. Er grinste über beide Ohren, weil er offenbar stolz war, dass er die Worte fehlerfrei ausgesprochen hatte.
Dannielle räusperte sich, entwand sich dann doch schließlich aus Daemons Griff und strich ihr Haar aus der Stirn.
„Oh, der feine Herr begibt sich zum Fußvolk, um großzügiger Weise beim Abbauen der Zelte zu helfen!"
Die Schärfe ihrer Stimme versetzte ihm einen Stich, von dem er wusste, dass er ihn mehr als verdient hatte.
"In keinster Weise. Ich wollte Euch zusehen, wie Ihr Euch abmüht." Gelangweilt zog er einen Hering aus dem weichen Boden und betrachtete ihn herablassend. Die Erde, die an dem rostigen Stück Eisen haftete, fiel als nasser Klumpen zu Boden als er mit seinem Finger darüber fuhr. "Allerdings, wenn die Lady sich sonst die Hände schmutzig machen muss, weil ihre Begleitung nichts weiter im Kopf hat, als Scherzereien bleibt mir keine Wahl. Wir wollen noch heute aufbrechen." Seine Worte klangen in seinen Ohren wie eine harsche Anweisung. Nicht einmal wie der armselige Versuch, auf ihren Scherz einzugehen.
„Fein!", rief Dannielle jedoch erfreut aus, machte eine ausladende Geste und hüpfte einmal enthusiastisch. „Dann können die Herren ja abbauen und die Lady geht frühstücken! Zwei echte Kavaliere!" Ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen, machte sie sich leichtfüßig davon.
"Weibsvolk", entfuhr es ihm missmutig, als er den Stoff des Einganges zur Seite schob und das Zelt betrat. Die Decken und Felle waren jeweils ordentlich verschnürt und verpackt, bereit verladen zu werden.
Daemon folgte ihm und schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter.
„Dann mal an die Arbeit, Monsieur Kavalier!" Wieder grinste sein Freund ihn fröhlich an. Ein Grinsen, das ihn wahnsinnig machte.
„Was hast du eigentlich mit ihr zu schaffen?", kam es schneller über seine Lippen, als dass er den Worten die Beiläufigkeit hatte geben können, die er gerne gewollt hätte.
Daemon richtete sich irritiert auf, einen Stapel mit Decken im Arm.
„Moment, lass mich nachdenken!", meinte er. „Ich schlafe mit ihr in einem Zelt, ich reise seit fast zwei Monaten mit ihr durch Frankreich, mein bester Freund ist vollkommen in sie vernarrt... Ihretwegen bin ich Schiff gefahren, suche nach dämlichen Schatzkarten, werde vom Brester Adel verfolgt und zufälligerweise, seitdem ich mit dieser rothaarigen Schönheit herumreise, hängt an jeder Ecke ein Plakat mit meinem Kopf!" Daemon hatte seine Stimme erhoben, doch sein Lächeln hatte er nicht verloren. Er schmiss die Decken draußen auf die Wiese und wartete, bis Jared ihm gefolgt war. "Wie lange willst du diese Maskerade noch aufrechterhalten?", fragte er leise.
Jared warf den anderen Stapel mit Decken und Fellen daneben.
"So lange es sein muss."
Daemon warf ihm einen tadelnden Blick zu, aus dem er ehrliche Wut herauslesen konnte.
"Jedenfalls, ihre Gesellschaft ist sogar recht angenehm! Solange du nicht da bist, und sie wieder zur Furie wird", erklärte er ihm in einem provozierenden Tonfall.
Wortlos wandte Jared sich ab und verschwand wieder im Zelt, nur um zu realisieren, dass es nichts mehr gab, das er hätte heraustragen können. Angespannt ballte er die Hände zu Fäusten und versuchte tief durchzuatmen. Es gelang ihm nicht. Gerade, als er wieder heraustreten wollte, um die Seile von außen zu lösen, fiel sein Blick auf eine dicke nackte Schnecke, die gemächlich durch das hohe Graß kroch und eine glänzende Schleimspur hinter sich herzog. Ein tief sitzender, unerschütterlicher Ekel ergriff von ihm Besitz, vermischte sich mit der Abscheu vor sich selbst kroch von seinem Nacken über seine Kopfhaut und ließ ihn erschaudern.
Er mochte Lucida. Er bewunderte ihre Schönheit, ihre Kunst zu Lieben, die ihre Fähigkeiten zu Tanzen noch übertrafen. Das Whanaumädchen nahm sich seiner zerrütteten Seele an. Jede Nacht. Er war der festen Überzeugung gewesen, dass es funktionieren würde. Dass Dannielle ihn irgendwann aufgeben würde. Dass Lucidas heilsame Liebe reichen würde. Doch das tat sie nicht.
Was hatte er nur angerichtet?
Keine von beiden verdiente ihn.
Er wollte sich umdrehen und wäre beinahe mit dem Zentrum seiner Gedanken zusammengestoßen.
„Was ist?", fragte Dannielle verständnislos. „So werden wir nie fertig! Daemon sagt, ich soll heute die Mittelstange festhalten."
In seinen Ohren klangen Dannielles Worte mehr wie eine Anweisung, er solle sich gefälligst beeilen. Ohne eine Miene zu verziehen, schlängelte er sich an Dannielle vorbei und wollte nach draußen verschwinden, doch das Klingen heller Glöckchen ließ ihn erstarren. Er ertrug es nicht. Weder Lucidas Wohlwollen, noch sich selbst in ihrer Gegenwart. Mit einer geschmeidigen Bewegung presste er sich mit dem Rücken an die Innenwand des Zeltes neben den Eingang, sodass er von außen nicht zu sehen sein würde und legte einen Finger an die Lippen.
Dannielles Blick huschte nach draußen. Sie verstand augenblicklich. Hass und Abscheu schlichen sich auf ihre Miene, als sie ihn mit einem wütenden Kopfschütteln bedachte.
"Ich sollte dich hinausscheuchen!", zischte sie leise. "Auf dass sie dir und deiner ekelhaften Art die Hölle heiß macht! Was soll das?"
Jared bewegte sich nicht einen Millimeter.
"Es geht dich nichts an!", fauchte er ebenso leise zurück. "Du wolltest doch frühstücken gehen, was zur Hölle machst du noch immer hier?"
Dannielle machte einen Schritt auf ihn zu, dann noch einen.
"Was ich hier mache? Das ist mein Zelt, in dem ich seit mehr als drei Wochen schlafe Jared. Die viel bessere Frage ist doch, was machst du immer noch hier?"
"Ist es nicht, das Zelt gehört der Familie, also auch mir! Dir gehört nicht immer alles sofort, nur weil du..." Er brach mitten im Satz ab. "Verstehst du es nicht? Ich bin nicht gut für dich! Du solltest nicht in meiner Nähe sein!", versuchte er es erneut.
Dicht vor ihm kam sie zum Stehen.
"Oh du glaubst wirklich, ich bin hier, weil ich dir hinterherlaufe, Jared?" Ihr entfuhr ein fassungsloser Atemzug. "Du bist so ein egozentrischer, arroganter, verabscheuungswürdiger, eingebildeter und überheblicher Dieb, ich könnte dich..." Sie ballte die Hände zu Fäusten. Das Geräusch der von Glöckchen klingenden Schritte entfernte sich wieder, ohne dass jemand von ihrem leisen Disput etwas mitbekommen hatte.
Jared erkannte die Wut in ihren blitzenden Augen. Zornesröte schlich sich auf ihre Wangen. Er schwieg. Er brauchte ihr nicht zu erklären, was für ein dummer Idiot er war. Das hatte sie offensichtlich selbst längst begriffen.
"Nur um das klarzustellen", fuhr sie fort. "Ich reise mit diesem Volk, nicht mit dir, weil ich mit offenen Armen empfangen wurde, weil ich ihre Lebensweise schätze und ich die Gesellschaft eines guten Freundes genieße. Und dieser Freund bist nicht du! Und jetzt scher dich weg!"
Unnachgiebig deutete ihr Finger nach draußen.
Sie war ihm so nahe.
Fast hätte er sie berühren können.
Vorsichtig hob er die Hand, um eine aufgebrachte Locke aus ihrer Stirn zu streichen. Entgegen seiner Erwartung wich sie nicht vor ihm zurück. Der Sturm in seiner Seele legte sich in dem Moment, als seine Fingerspitzen ihre Haut berührten. Der Text eines alten Liedes schlich sich in sein Bewusstsein, floss flüsternd über seine Lippen, ohne dass er den Worten hätte Einhalt gebieten können.
"Und ich wollte niemals mehr woanders sein, als ihr so nah. Und ich wollte niemals mehr in all den Schein. Der jeher da. Und ich wollte ewig sehen, was sonst nicht mein. Was ich einst sah. Und ich wollte wieder ahnen, dass ich alles bin und war."
Er erkannte, wie sich ihre Augen verdunkelten. Ein rosa Schimmer schlich sich auf ihre Wangen, löste die Wut ab und glättete ihre von Zorn erfüllten Worte.
"Was redest du nur, du einfältiger Dieb!", hauchte sie.
Es war keine Frage.
Noch ehe er einen weiteren Atemzug tun konnte, tauchte Daemon im Eingang auf.
„Ihr seid ja immer noch nicht weiter gekommen!" Wütend starrte er von ihm zu ihr und wieder zurück, ehe ein hinterhältiges Lächeln über seine Mundwinkel schlich. Doch dann zuckte er zurück.
"Igitt, was zur Hölle ist denn das?"
Er hob einen seiner Füße an. An seiner Fußsohle klebte etwas unförmiges Braunes.
Dannielle starrte auf seinen Fuß, langsam verformten sich ihre Gesichtszüge zu einer vor Ekel verzerrten Maske.
Jared wandte den Kopf und massierte sich die Nasenwurzel.
„Fein! Du hast eine Schnecke zertreten, mein Bester." Ein seltsames Lächeln legte sich auf seine Lippen, sein Augenlid zuckte ein wenig.
Daemon begann seinen Fuß hin und her über die Wiese zu bewegen, um ihn von dem Anhängsel zu befreien.
„Gibt Schlimmeres...", sagte er beiläufig und ging wieder hinaus.
„Als von ihm zertreten zu werden?", wisperte Dannielle. „Wohl kaum." Sie schenkte ihm einen letzten Blick, von dem er nicht sagen konnte, ob er liebevolles Mitgefühl, überhebliche Unabhängigkeit oder amüsiertes Verschwörertum beinhaltete und folgte Daemon nach draußen.
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