Kapitel 67 - Am Anfang der Geschichte
Gegen Abend kam Dannielle endlich zur Ruhe. Die Zigeuner hatten sie sofort ohne jegliches Misstrauen aufgenommen, hatten sie neugierig über alles Mögliche auf ihrer Reise ausgefragt und ihr ihrerseits aus ihrem Leben erzählt. Sie hatte nur ausweichend geantwortet und obwohl sie den Grund ihrer Reise, die Flucht vor dem Duc und die Suche nach dem Schatz verschwieg, schlug ihr keinerlei Argwohn entgegen. Die Gruppe bestand aus Menschen, die aus den verschiedensten Ländern zu kommen schienen. Dannielle konnte sich kaum vorstellen, dass ein friedliches Zusammenleben unter so vielen unterschiedlichen Sprachen und Kulturen überhaupt möglich war.
Schon bald umringte sie eine Horde Kinder mit großen braunen Augen und zerstreuten Dannielles letzte Zweifel, die sie aufgrund der allseits bekannten Abneigung gegen fahrendes Volk gehegt hatte. Schließlich ließen auch die letzten kleinen Hände von ihren Röcken ab, um sich dem Abendessen zuzuwenden, das im Moment viel interessanter war.
Sie ließ sich erschöpft aber glücklich ins Gras vor dem großen Feuer sinken und in diesem Moment ertönte das filigrane Klingen einer Geige. Das durchdringende Geräusch eines Dudelsacks fügte sich ein und einige Trommeln untermalten die sich formende Melodie mit kühnen Schlägen. Als Dannielle sich umdrehte sah sie wie sich eine Gruppe von Feuerspuckern und Akrobaten an ihr Werk machte, um in Richtung des Jahrmarktes zu ziehen.
Fasziniert beobachtete sie die flinken Bewegungen der jungen Männer, verfolgte mit ihren Augen jede einzelne der geschickten Gesten und die Lichter der Fackeln, die sich in Richtung der Stadttore entfernten. Dannielle lauschte dem Klang der Fiedeln, wie sie immer leiser und leiser wurden.
Kurz darauf ließ Daemon sich neben sie sinken. Mit einem freundlichem Lächeln auf den Lippen reichte er ihr einen Becher.
„Jared scheint es recht gut zu gehen, er schläft", sprach er munter und stieß dann mit seinem Becher gegen den ihren, ehe er ihn zum Mund führte.
Dannielle lächelte zufrieden und tat es ihm gleich.
„Ihr macht nicht das erste Mal die Bekanntschaft einer Whanaufamilie, oder?", fragte sie dann. Es war nicht zu übersehen, dass die Natürlichkeit und das Vertrauen, das Daemon dem Volk entgegenbrachte, von guten Erfahrungen zeugte.
Daemon sah verlegen zu Boden, doch ein Schmunzeln zierte seine Miene. Dann nickte er.
"Die richtigen, alten Whanau sind die hilfsbereitesten und gastfreundschaftlichsten Leute, die es auf dieser Welt gibt", erklärte er. "Du kannst dir vielleicht vorstellen, dass jemand wie Jared und ich...", Dannielle merkte, dass es ihm unangenehm sein musste, "des Öfteren gerne eine helfende Hand annehmen", schloss er.
Dannielle lächelte sanft. Ein wohliges Gefühl hatte sich in ihrem Innern ausgebreitet und wärmte sie auf eine angenehme Art und Weise.
„Diese Geschichte sollte Jared dir vielleicht besser erzählen." Daemon räusperte sich verhalten.
„Ist sie so schlimm?", fragte sie amüsiert.
Daemon wagte noch immer nicht sie anzuschauen.
„Schlimm?", wiederholte er, „Nein, nein, keineswegs. In meinen Augen ist es nichts Verwerfliches." Ein unsicheres Lächeln erschien auf seinem Gesicht und er spülte es mit einem großen Schluck hinunter. „Erstaunlich wie wenig Wein diese Becher doch zu fassen vermögen. Andauernd sind sie leer." Amüsiert griff er neben sich nach einer Flasche, entkorkte sie und bot Dannielle höflicher Weise etwas an.
Dannielles Becher war eigentlich noch so gut wie voll, da sie aber nicht ablehnen wollte, hielt sie ihm den ihren hin und er füllte ihn bis zum Rand.
„Vielleicht hat der deine ein Loch?", fragte sie gedankenverloren und überlegte wie sie Daemons Worte zu deuten hatte. In seinen Augen war ja nahezu überhaupt nichts schlimm oder gar verwerflich.
Daemon besah seinen Becher von allen Seiten und stürzte den Inhalt in einem Zuge hinunter.
„Dem sollte man vorbeugen!" Den nächsten Schluck nahm er direkt aus der Flasche. „Vielleicht...", begann er „Wenn du interessiert bist, sollten wir bei Jareds Geschichte am Anfang beginnen."
Dannielle schwieg eine Weile und starrte ins Feuer. Dann nickte sie.
Daemon strahlte.
"Ich sollte das nicht tun, aber der Alkohol macht mich redselig", lachte er. Und er begann zu erzählen.
***
Es geschieht nicht selten in England, dass arme Familien oder Frauen, die ihre Liebe verkaufen, ein Kind zur Welt bringen, das sie nicht ernähren oder auch grade nicht gebrauchen können. Manchmal sterben diese Kinder einfach. Manchmal verliert sich ihre Spur in der Dunkelheit. Und manchmal werden Säuglinge vor den steinernen Mauern von Klöstern gefunden.
Es war in einer Sturmnacht. Vor den Toren von London brannten in jener Nacht die Scheiterhaufen, um die Gottlosen und Hexen vom Antlitz der Erde zu tilgen und sie dem ewigen Fegefeuer zu übergeben.
Die Nonnen eines nicht weit entfernten Klosters hatten sich als gemeinsame Prozession aufgemacht, um für die armen Seelen der Hingerichteten zu beten.
Als sie zurückkehrten, hörten sie bereits von Weitem das Schreien eines kleinen Säuglings, der auf der Schwelle des Klosters lag.
Sein Köpfchen war bedeckt mit pechschwarzem Flaum, doch seine Augen funkelten in tiefstem Blau im Licht der Fackeln und Kerzen. Es waren kluge Augen.
Sie diskutierten und berieten sich und schließlich gaben sie dem kleinen Bündel einen Versuch, denn oft starben die kleinen Dinger, ehe man sich versah. Verhungerten, weil keine Muttermilch da war, erfroren, weil man sie zu spät gefunden hatte oder wurden krank und ließen sich durch Gebete nicht heilen.
Doch dieses eine nicht.
Sie fütterten es mit Ziegenmilch, bis es Brei und Brot essen konnte. Es begann zu Krabbeln und zu Laufen und zu wachsen. Und weil sie es am achtzehnten Tag des Oktobers gefunden hatten und dies der Namenstag des Evangelisten Lukas war, tauften sie ihn nach einiger Zeit auf dessen Namen.
Man muss zugeben, Einfallsreichtum gehörte nicht zu ihren Stärken.
Lukas wuchs und fügte sich mehr oder weniger in das Alltagsleben der Nonnen ein. Einige fraßen einen Narren an dem frechen Bengel mit den dunklen Locken und den klugen blauen Augen. So zum Beispiel die alte Äbtissin, die es liebte, dem Kleinen die Zusammenhänge von Gottes Schöpfung zu erklären. Sie wurde es auch nicht müde, jede noch so triviale Frage zu beantworten. Kinder können neugierige Nervensägen sein. Und dieses hier war besonders anstrengend. In seiner kindlichen Arglosigkeit wagte er bereits Fragen zu stellen, auf die selbst die alte weise Kirchenfrau keine Antworten mehr wusste. Und es war ihr eine Freude Nächte lang mit dem Kind über Gott und die Welt zu diskutieren.
Lukas begriff schnell, dass er es als Kind ohne Mutter und Vater nicht leicht haben würde. Das verstand er spätestens, als er mit ein paar anderen Kindern Lesen und Schreiben, sowie Latein und Französisch lernen sollte. Die meisten waren die Zweitgeborenen irgendwelcher Landadeligen, die für die Bildung ihrer Nachkommen bezahlten. Und Lukas lernte das Wort Bastard kennen. Es machte ihm nicht viel aus. Ihm fiel stets eine freche Antwort ein, die ihm oft mit Tritten oder Schlägen vergolten wurde, doch es kümmerte ihn nicht. Zumindest versuchte er alle dies glauben zu lassen.
Kinder haben außerdem immerzu Hunger oder sie wollen ganz und gar nichts essen. Lukas gehörte zur ersten Sorte, auch wenn er so spindeldürr war, dass die Nonnen jeden Herbst fürchteten, er würde nicht durch den Winter kommen. Sie fütterten ihn und gaben ihm zu Essen so viel sie konnten, doch es half nichts. Und so entdeckte Lukas bald eine seiner frevelhaften Fähigkeiten, die er bereits begann zu perfektionieren: Er begann zu stehlen.
Nichts Großes oder Wichtiges. Hier einen Apfel, den jemand liegen gelassen hatte, dort einen harten Kanten Brot, den niemand mehr essen wollte. Einmal nahm er sich einen ganzen Tiegel mit Butter und hütete diesen, bis er schlecht wurde. Ha, er bekam ordentlich Ärger, als eine Ordensschwester die ranzige Butter unter seinem Bett entdeckte.
Ärger bekam er oft, aber es war nie schlimm.
Nicht, bis eines Winters die alte Äbtissin krank wurde und kurze Zeit später an der Schwindsucht starb.
Lukas versteckte sich und weinte heimlich ein paar Tage lang. Als er wieder hervor kam, hatten die Nonnen bereits ein neues Oberhaupt bestimmt. Und diese Frau hatte eine andere Meinung zu so gut wie allem. Sie war eine sehr überzeugte Gläubige und hatte nichts anderes als Ordnung und Arbeit im Sinn.
Und sie mochte Lukas nicht.
Lukas mochte sie nicht.
Ab diesem Zeitpunkt geschahen ein paar unschöne Dinge.
Lukas passierten dauernd ein paar Missgeschicke, kannst du dir bestimmt vorstellen. Er schlief während der Messe ein, ließ ein wertvolles Buch auf den Boden fallen oder er versäumte, rechtzeitig zum Unterricht zu erscheinen. All die kleinen Dinge, die ihm zuvor auch passiert waren und für die ihn nie jemand belangt hatte, wurden ihm nun mit Verachtung und Groll nachgetragen. Und er fand sich des Öfteren allein und weinend in seinem Zimmer eingeschlossen hungrig oder mit blau geschlagenem Rücken wieder.
Als die neue Äbtissin letztendlich dazu überging, Lukas für all das büßen zu lassen, was die Adelskinder in der Klosterschule versäumten zu lernen oder falsch antworteten und jene begriffen, wie sie es schaffen konnten, den Bastard noch mehr mit Füßen zu treten, gab es einen Moment in dem der Keim des Zweifels in Lukas Kopf gesetzt wurde.
Unser kleiner Lieblingsbastard war der Äbtissin also ein Dorn im Auge. Und das Kloster hatte wie alle anderen auch immerzu Geldsorgen. Es gab genug zu essen und Kleidung, aber für eine neue Kirche oder ein geflicktes Dach reichte es nicht wirklich.
In dieser sehr armen Welt zwischen Hungersnöten und Zukunftszweifeln ist die zweitbeste Lösung, ein Kind loszuwerden, es ans Bergwerk zu verkaufen. Dort enden diejenigen, deren Eltern sich nichts Anderes mehr einfallen lassen können. Und nachdem einer jener fahrenden Händler, der Kinder kauft und einsammelt an die Tore des Klosters klopfte, griff die Äbtissin die Gelegenheit beim Schopfe und tauschte den kleinen Lukas gegen etwas Geld in ihrer Spendenkasse ein.
Zuerst wusste unser Lukas nicht wie ihm geschah. Doch als er, einen Strick um seine Handgelenke, die Mauern des Klosters durchschritt und sich umwandte, fiel sein Blick auf die selbstgefällig lächelnde Kirchenfrau.
Keine Sorge, natürlich hat unser kleiner Lukas das Bergwerk nie erreicht. Es war nicht schwer für ihn, den plumpen Fingern des Kinderhändlers zu entkommen. Er brauchte sich nicht einmal darum zu sorgen, dass man ihn entdeckte, denn er wusste, das würde man nicht.
Was auch immer ihm in diesem Moment diese Sicherheit verlieh, blieb an ihm haften, wie sein Schatten. Er und ein paar andere Kinder machten sich auf den weiten und gefährlichen Weg in die Hauptstadt.
Vor ihnen lag das weite Land und in der Ferne quollen dichte Rauchschwaden aus den Schornsteinen Londons. Lukas blickte nicht zurück. Und das Kloster hat den Jungen mit den klugen blauen Augen seither nie wieder gesehen.
***
Daemon endete mit einem lauten Rülpsen. Er liebte es, Geschichten zu erzählen und sie einstweilen mit ein wenig Farbe zu würzen. Auch wenn er sich nur bei der Hälfte der Sachen sicher war, dass sie ungefähr so geschehen sein mussten, so hatte er Spaß daran, die andere Hälfte einfach dazu zu erfinden. Der Namenstag des Lukas am achtzehnten Oktober war außerdem der Einzige, den er kannte und er fand, es hörte sich stimmig an.
Dannielle war schweigsam geworden an seiner Seite. Daemon sah, wie Tränden in ihren Augenwinkeln schimmerten. Oder war es doch nur das Flackern des Feuers?
„Ist das wirklich wahr, Daemon?", fragte sie ungläubig. „Jared... Lukas hätte ein Mönch werden können? Das erklärt so Vieles und wirft gleichzeitig so viele neue Fragen auf. Daher kann er also Lesen und Schreiben."
Daemon nickte und schüttelte fast gleichzeitig den Kopf.
„Jared wäre nie ein Kirchenmann geworden", antwortete er und fügte nach einem Schluck hinzu. „Und Lukas? Nun, ich weiß nicht einmal, ob der Kleine wirklich so hieß, das musst du ihn schon selbst fragen, wenn du den Mut dazu aufbringst." Daemon erschauerte kurz, als er an Jared den Antichristen denken musste, dessen Seele womöglich irgendwann in der Hölle schmoren mochte. Sofern er überhaupt noch eine besaß.
Dannielle hingegen hing an seinen Lippen.
„Und dann?", fragte sie vorsichtig weiter. „Wohin ist er gegangen? Wie konnte so ein kleiner Junge... Wie alt mag er gewesen sein?"
Daemon konnte am Glanz ihrer Augen sehen, dass Dannielle Feuer und Flamme für den nächsten Teil der Geschichte war, doch da würde sie sich ein wenig gedulden müssen.
„Es ist spät, lass uns schlafen gehen..." Daemon schüttelte verwundert den Kopf. Schon den zweiten Abend hintereinander wollte er früh und vor allem allein zu Bett gehen. Aber die erste Nacht in einem Whanaulager war immer eine besondere. Eine, in der man seine Freunde nicht allein ließ. Schließlich erhob er sich, reichte Dannielle seine Hand und zog sie auf die Beine.
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