Kapitel 10 - Eine Botschaft
Ein großer Karren mit Stroh rumpelte an ihnen vorbei, als sie die Pferde zügelten und ein Mann, in einen dicken Wollmantel gehüllt, grüßte sie freundlich. Das Dorf war aufgeräumt und besaß einen großen Marktplatz, in dessen Mitte sich ein Brunnen befand. Es gab ein paar mehr Straßen, die vielleicht eher als Wege zu bezeichnen waren und bedeutend mehr Einwohner als in der letzten Ortschaft, in der sie genächtigt hatten. Der Ort lebte vom Handel. Die Routen aus und in den Norden Englands kreuzten sich hier und Handel bedeutete immer Wohlstand. Unwillig ließ Jared sich von seinem Pferd gleiten und landete sicher auf seinen Füßen.
Es gefiel ihm nicht. Nichts von alldem. Ohne seine Umgebung aus dem Auge zu lassen trat er neben die Lady, um auch ihr sicher aus dem Sattel zu helfen. Sie fiel beinahe in seine Arme und hielt sich für eine Sekunde erschöpft fest, nur um ihn dann plötzlich loszulassen, als hätte sie sich an seinem Mantel verbrannt.
Mit zusammengebissenen Zähnen gab er sie frei.
Er verfluchte sich selbst, dass er sich den Tod des Grafen gewünscht hatte. Was in seiner Vorstellung ein durchaus romantischer Vorteil gewesen war, war nun in der Realität zu einer nervenaufreibenden Verantwortung geworden, die er gar nicht hatte haben wollen. Er kam sich vor, wie eine Amme, die sich um ein Kind zu kümmern hatte.
Und gleichzeitig Diener einer bezaubernden Herrin.
Nun, er war beides Mitnichten.
Zähneknirschend griff er nach den Zügeln ihrer beider Pferde und führte sie in die Stallungen einer mittelklassigen Unterkunft, wo ein Stalljunge ihm die Tiere mit einer Verbeugung abnahm. Es war vielleicht nicht gut genug für eine Gräfin, aber immerhin würde es seine ohnehin schwindenden finanziellen Mittel nicht zu sehr belasten. Er hatte keine Lust, sein Geld für eine mittellose Landgräfin auszugeben. Abgesehen davon mangelte es an Alternativen.
Irritiert sah er dem Kind hinterher, das ihm im Tausch für die Zügel ein zerknittertes Pergament in die Hand gedrückt hatte. Er faltete es auseinander und überflog die hastig dahingekritzelten Zeilen.
Graf Caramount,
Ich bin dem Dieb des Buches auf den Fersen. Werde ihn bald stellen. Folgt mir weiter nach Süden. Für unser weiteres Vorgehen ist es unabdingbar, dass eure Schwester euch begleitet. Es mag sich eine Allianz mit dem Herzog von Brest schmieden lassen.
Auf bald.
T.
Eilig faltete Jared das Geschriebene wieder zusammen und ließ es in seiner Tasche verschwinden. Der Junge musste gedacht haben, dass er als Begleiter der rothaarigen Lady der Empfänger sein sollte. Obwohl er mitnichten aussah wie ein Graf.
T. musste für Tenebros stehen. Der Ire, von dem die Geschwister geredet hatten.
Jared musste lächeln. Er bezweifelte, dass Tenebros dem Dieb auf den Fersen war. Eher das Gegenteil war der Fall. Aber er war sich sicher, dass wenn er den Iren fand, auch wissen würde, wo sich sein Freund Daemon aufhielt. Ein kaltes Lächeln stahl sich auf sein Gesicht und seine Hände ballten sich kurz zu wütenden Fäusten.
Eine zarte Stimme holte ihn aus seiner Fantasie.
„Mylord?"
Er wandte sich um.
„Wollen wir hinein gehen?", fragte die Lady. Es hatte leicht zu schneien begonnen und kleine weiße Flocken verfingen sich in ihrem Haar. Ihre Augen waren von Trauer und Tränen gerötet. Sie sah aus, als würde sie sich kaum noch auf den Beinen halten können.
Jared besann sich auf die Wirklichkeit, in der er sich befand und rang sich ein zuversichtliches Lächeln ab. Wenn der Ire so große Stücke auf die Anwesenheit der Lady legte, würde er sie vielleicht gegen seinen Freund eintauschen können.
„Sicher Mylady."
Nur dazu musste sie ihm weiter folgen und nicht morgen den Heimweg antreten. Höflich öffnete er die Tür zum Schankraum und hielt sie für die Lady offen. Ihm würde irgendetwas einfallen müssen, womit er sie an sich binden konnte. Einen Atemzug später hatte er bereits eine Idee.
Die Schankstube war hell und gemütlich. Kerzen und Öllampen beleuchteten den Raum und im Kamin brannte ein wärmendes Feuer. Hier und dort saßen bereits ein paar andere Reisende, Händler oder Einheimische und unterhielten sich freundlich miteinander. Die Bewohner des Ortes waren an Fremde gewöhnt, die Nachrichten, Aufträge oder Waren durch das ganze Land brachten. Jared unterdrückte den Impuls, sich die Hände zu reiben. Mindestens zwei von ihnen sahen aus wie Kuriere, die auf Arbeit warteten. Keiner von denen würde einen Auftrag ablehnen, der bis in die benachbarte Grafschaft reichte. Schnell gemachtes, einfaches Geld, selbst bei dieser Witterung.
Eine freundliche Bedienung mit tiefbraunen Augen und dunklem Haar, das sie geflochten und zu zwei Schnecken an den Seiten ihres Kopfes aufgedreht hatte, setzte sie an einen Tisch weiter hinten im Schankraum, der über etwas mehr Privatsphäre verfügte. Sie brachte ihnen warmen gewürzten Wein und zwei große Schalen voller Eintopf, der so heiß war, dass er dampfte.
Jared machte sich gierig über sein Gericht her, während er die Lady beobachtete, die nur lustlos in der Suppe herumrührte. Gedankenverloren inspizierte sie ein Stück Zwiebel auf ihrem Löffel und ließ es dann unverrichteter Dinge wieder in die Brühe fallen. Anschließend griff sie nach ihrem Becher, nahm einen Schluck und verzog angeekelt das Gesicht.
Misstrauisch griff Jared nach seinem eigenem Getränk. Doch als er es probierte, fiel ihm nichts Ungewöhnliches auf. Es war vielleicht etwas stark und zu sauer, aber warm und genau das Richtige nach einem langen Ritt durch den Schnee.
Mit einem unguten Verdacht griff er, als die Lady nicht hin sah, nach ihrem Becher und probierte auch von diesem, doch er konnte keinen Unterschied feststellen. Erleichtert atmete er aus und versuchte seinen paranoiden Verstand zu beruhigen. Offenbar versuchte zumindest hier niemand, sie zu vergiften. Dennoch stank die Sache zum Himmel. Es war durchaus möglich, dass der Überfall der Räuberbande kein Zufall gewesen war. Dass jemand genau gewusst hatte, wann sie die Brücke passieren würden. Er würde vorsichtig sein müssen, bis sie Daemon und den Iren erreichten und sich hoffentlich alles aufklären würde. Aber so lange konnte es nützlich sein, so viel wie möglich herauszufinden.
„Mylady...", begann er mit ruhigem Tonfall, nachdem er seine Schüssel gelehrt hatte. „Gibt es noch andere Familienmitglieder, die Ihr habt... Die sich Eurer annehmen können?"
Dannielle hörte auf in ihrer noch immer halb vollen Schale herum zu rühren und schob sie angestrengt zur Seite. Sie hatte nicht viel gegessen. Kraftlos griff sie nach ihrem Becher und schüttelte langsam den Kopf.
„Meine Mutter starb, als ich noch sehr jung war", sagte sie mit matter Stimme. „Ich habe keine Erinnerung an sie. Da waren immer nur mein Vater und mein Bruder. Und all die Mägde und Diener...", sie unterbrach sich und nahm einen Schluck aus ihrem Becher, um die Trauer und die Tränen hinabzuspülen. „Es gibt nur das Anwesen, zu dem ich zurückkehren sollte. Aber das... Ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich tun soll..."
Jared wollte sich ohrfeigen. Er würde keine bedeutenden Informationen aus einem seelischen Wrack herausbekommen können. Also legte er sanft seine Hand auf die Dannielles.
„Es wird niemanden geben, der Euch sagen kann, was Ihr tun solltet", begann er langsam. „Das könnt nur Ihr allein am besten wissen. Ihr seid jetzt Gräfin. Ihr wurdet für diesen Titel geboren. Wenn Ihr nicht wisst, was zu tun ist, dann auch kein anderer."
Zu seiner Überraschung fielen seine Worte auf offenbar fruchtbaren Boden. Dannielle nickte und wischte sich kurz mit den Fingern über die Augenwinkel. Dann streckte sie den Rücken durch, setzte sich aufrecht und nahm noch einen Schluck aus ihrem Becher.
Jared ergriff die Gelegenheit beim Schopfe.
„Mylady, ich kann mich damit anfreunden, Euer Angebot anzunehmen." Es gelang ihm, einen verschwörerischen, ermutigenden Tonfall zu treffen.
„Welches Angebot?", fragte die Lady mit festerer Stimme.
„Wir werden den Dieb des Buches gemeinsam stellen", erwiderte er. „Die Abmachung, die ich mit Eurem Bruder hatte, habe ich auch mit euch", wiederholte er ihre Worte von zuvor. Gespannt beobachtete er, wie sie die verschiedenen Möglichkeiten abwog und sich ihr Entschluss deutlich in ihrer Mimik abzeichnete.
Er hob seinen Becher, damit sie mit ihm anstoßen konnte, um ihren Handel zu besiegeln. Zögerlich stieß sie das Tongefäß gegen den seinen.
„Wenn Ihr das Buch wieder in Euren Händen habt, könnt Ihr es an diesen Händler verkaufen und mit dem Geld in Eure Grafschaft zurückkehren. Das sollte Euch ein gutes Startkapital liefern, für was auch immer Ihr mit eurem Land vorhaben mögt." Jared begriff, dass die Lady Hilfe brauchte, ihre Möglichkeiten abzuschätzen. Dass es dazu führen konnte, dass sie als Braut eines französischen Adeligen enden mochte, behielt er für sich.
„Nun gut." Die Lady strich sich mit einer Geste die Locken aus der Stirn. „Ich sollte dann wohl einen Brief an meinen Vogt verfassen, der bestätigt, dass ich wohlauf bin und den Auftrag zu Ende ausführen werde, ehe ich heimkehre", stellte sie fest. Ihre Stimme war weich und trug ein wenig Stolz in sich.
Jared lächelte und winkte der Kellnerin ihnen Papier, Tinte und Feder zu bringen. Sein Plan würde aufgehen.
Dannielle brauchte eine Weile, um das Pergament mit eng beschriebenen Zeilen ihrer ordentlichen Handschrift zu füllen. Hier und dort strich sie eine Formulierung durch, fragte Jared nach seiner Meinung und setzte zu guter Letzt ihren Namen samt Titel unter die letzte Zeile. Jared fand sie so unendlich naiv. Er kam sich beinahe schlecht vor, dass er so einfach ihr Vertrauen gewonnen hatte und sie nun ohne zu Zögern annahm, was er ihr vorschlug. Aber nur beinahe.
Abschließend las sie ihm das gesamte Schreiben noch einmal vor und nachdem er seine Zustimmung gegeben hatte, lächelte sie sogar ein wenig.
„Das ist meine erste Korrespondenz als Gräfin Caramount", gab sie zu.
„Wunderbar", kommentierte er, überprüfte, ob die Tinte trocken war, faltete das Papier zusammen und träufelte ein wenig Kerzenwachs darauf. Lächelnd hielt er Dannielle die offene Hand entgegen, die sofort begriff und den Siegelring ihres Bruders aus der Tasche zog.
Jared drückte das Wappen in das Wachs und betrachtete es kurz.
Er hatte keine Ahnung, was es darstellen sollte.
Er winkte der Bardame, deren Augen freundlich lächelten und wies sie an, das Schreiben der Lady an einen der Kuriere an der Bar auszuhändigen, der sich besser noch heute auf den Weg machen sollte. Dannielle legte eine Münze auf das Pergament. Zwei weitere Münzen würde es bei Ablieferung geben, wie sie es auf Jareds Rat hin im Brief geschrieben hatte. Hüftschwingend entfernte sich die Bardame und Jared und Dannielle beobachteten, wie sich einer der Männer erhob, in ihre Richtung verneigte und die Schankstube durch die Tür nach draußen ins kalte Dunkel verließ.
„Wird er den Weg finden?", fragte Dannielle mit einem Mal unsicher. „Es ist immerhin bereits dunkel draußen."
„Kuriere finden immer den Weg!", antwortete Jared schulterzuckend. „Sie wählen diesen Beruf ja nicht, weil sie gut darin sind, sich zu verirren." Nachdenklich nahm er noch einen Schluck aus seinem Becher. „Ich bin mit einem gereist, der den Namen jeder Stadt und jeden Dorfes kannte und war es eine noch so kleine Ansammlung von Häusern. Er wusste, wo all das lag und wie weit es etwa von seinem Standort entfernt war. Außerdem kannte er so gut wie jeden", erinnerte er sich. „Womöglich hat er auch mit Wölfen gekämpft und konnte so lange die Luft anhalten, dass er durch einen ganzen See tauchen konnte, ehe er wieder zum Atmen an die Oberfläche musste."
Dannielle legte müde ihren Kopf auf ihre Fingerknöchel.
„Was mag aus ihm geworden sein?", gähnte sie.
„Weiß der Henker...", antwortete Jared. „Bringt wohl noch immer Dinge von A nach B."
Dannielle nahm einen letzten Schluck aus ihrem Becher.
„Wie auch immer... Gebt mir meinen Ring zurück und ich werde zu Bett gehen, damit wir morgen früh aufbrechen können. Für heute Abend seid Ihr von euren Pflichten entbunden." Erwartungsvoll hielt sie ihm ihre offene Hand entgegen.
Doch Jared rührte nicht einen kleinen Finger.
„Sofort, Mylady", sprach er wachsam. „Sobald Ihr mir den Meinen zurückgegeben habt." Er tat es ihr gleich und hielt ihr ebenfalls die offene Hand entgegen.
Dannielle entfuhr ein leises „Oh". Jared beobachtete, wie sie errötete.
„Ich habe Euren Ring nicht", versuchte sie es dennoch.
Jared verdrehte genervt die Augen. Er hatte damit nicht gerechnet, dass es tatsächlich die Gräfin war, die ihm den verschlungenen Bronzering abgenommen hatte. Zuerst hatte er Daemon in Verdacht gehabt, dann den Grafen, doch nachdem der nichts bei sich getragen hatte, hatte er nur noch ins Blaue schießen wollen, um sich ganz sicher zu sein, dass nicht sie es gewesen war. Offensichtlich hatte er sich geirrt.
„Das wollt Ihr nicht wirklich abstreiten!", entfuhr es ihm.
„Selbst wenn es so wäre", ereiferte sie sich. „Wiegt der Wert meines Siegelringes viel schwerer, als der des Euren! Ihr könnt doch nicht einfach nur aufgrund eines Verdachts meinen Ring stehlen..."
„Oh doch, natürlich kann ich!", unterbrach er sie zischend. „Und was wollt Ihr über den Wert eines Euch unbekannten Schmuckstückes wissen, hm? Ihr seid nicht über jeden Zweifel erhaben, nur weil in Euren Adern blaues Blut fließen mag!"
Dannielle öffnete ihren Mund und schloss ihn wieder, ohne etwas gesagt zu haben. Mit vor der Brust verschränkten Armen ließ sie sich zurück auf die Bank sinken.
„Was erdreistet Ihr euch?", kam es erbost über ihre Lippen. „Ich habe Euer Leben vor dem Tod gerettet..."
„Und zumindest diese Schuld habe ich heute mehr als beglichen, Mylady!" Noch immer hielt er ihr seine leere Handfläche entgegen. Als sie grimmig seinem Blick auswich, löste er seine Geste genervt auf und verschränkte ebenfalls die Arme vor der Brust.
„Die Welt ist ungerecht, Dannielle! Gewöhnt euch an den Gedanken! Ihr bekommt euren Ring erst zurück, wenn der Meine wieder aufgetaucht ist. Und bis dahin..." Er unterbrach sich selbst während die Barfrau einen Krug zwischen ihnen auf den Tisch stellte. Dannielle folgte den Bewegungen der Kellnerin mit fragender Missbilligung.
„Bis dahin würde ich Euch empfehlen, so viel von diesem Wein zu trinken, bis Ihr denkt, tief und traumlos schlafen zu können." Ohne ihre Antwort abzuwarten schickte Jared sich an, ihrer beider Becher bis zum Rand zu füllen. Sie hatte ihre Familie verloren, den Tod ihres Bruders mit angesehen und war Räubern und Dieben begegnet, die sie überfallen hatten, denen sie nur mit Mühe und Not entkommen war. Es war nachvollziehbar, dass sie ein bisschen durchdrehte. Und Jared war geduldig. Er konnte unendlich lange auf seinen verschlungenen Bronzering warten, wenn das bedeutete, dass er so lange einen schweren goldenen Siegelring tragen würde. Diese Bürde machte ihm wahrhaftig nichts aus.
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