Kapitel 1 - Ein Diebstahl
Das Buch mit dem verblassten Tintenfleck auf dem mit Silber beschlagenem ledernen Einband lag auf dem Kaminsims der Bibliothek des Anwesens. Die Kälte eines Winterabends drang geduldig durch die dicken Mauern und die geschlossenen Fensterläden. Dann und wann gab der Wind, der um die Zinnen und Türme wehte, ein unheilvolles Heulen von sich, das bis in den großen Raum im Erdgeschoss des Gebäudes hallte.
Die Bibliothek verfügte über einen massiven Schreibtisch aus dunklem Eichenholz, auf dem zu jeder Zeit Tinte und Pergament bereitlagen. Im Kamin befanden sich einige Scheite Brennholz, um immerzu dem Raum mit einem behaglichen Feuer die Wärme zu verleihen, die es an einem kalten Winterabend brauchte. Kerzen steckten in Leuchtern, um überall Licht zu spenden, sollte sich einer der Bewohner des Anwesens dazu berufen fühlen, seine Zeit hier bei den Büchern zu verbringen.
Doch es war niemand da.
Stille Trauer erfüllte die Räumlichkeiten.
Der Tod eines Familienmitgliedes ließ die Dienerschaft andächtig flüstern, hüllte das Anwesen ein, wie ein schwarzer Schleier. Die Familie hatte sich in ihre Gemächer zurückgezogen. Besuchern war es frei zu kommen und die Trauer um den verstorbenen Herrn des Hauses zu teilen.
Schnee fiel auf die Dächer.
Hier und dort stieg Rauch auf.
Ein paar Mägde entzündeten in der kleinen Kapelle ein paar Kerzen und beteten für die Seele des Verstorbenen, ehe sie zurück an ihre Arbeiten gingen, wie sie es seit jeher taten. Das zierliche Licht der Flammen spiegelte sich in dem teuren Buntglasfenster, das die Geburt Jesu Christi darstellte.
Das Holz der Gemäuer knackte. Das Geräusch klang beinahe freudig, in der willkommenen Erwartung, die Mühen des Arbeitstages beenden zu können und sich in die dunkle Trauer des Januarabends zurückziehen zu dürfen. Allein zu sein.
Das Licht der Kerzen flackerte unstet, wie in einem Luftzug.
Und plötzlich bewegte sich eine einzelne Flamme.
Sie entfernte sich von den anderen.
Kurz schien es, als würde der Schatten einer menschlichen Hand sie vor dem Ausgehen bewahren, ehe sie in eine kleine Laterne gestellt wurde. Das Licht schwankte kurz. Dann verließ es die Kapelle.
Es bahnte sich den Weg durch das Schneegestöber auf dem Hof, hielt kurz inne, ehe die Tür zum Hauptgebäude für eine Sekunde geöffnet wurde und verschwand daraufhin im dunklen Inneren des Gebäudes, als würde es ausgehen.
Hier war es so dunkel, dass die kleine Flamme es kaum schaffte, einen ganzen breiten Korridor zu erleuchten. In seinem Licht erschienen die glänzenden Rüstungen und bunt bemalten Truhen, die die Wände säumten, wie dunkle Schatten in farblosem Grau. Am rechten Ende lag eine große Treppe, die hinauf in die oberen Stockwerke und somit in die Dunkelheit führte. Rechts und links davon verbreiterte sich der Gang und führte zu beiden Seiten in andere Bereiche des Haupthauses.
Das Licht huschte an den Rüstungen vorbei, getragen von seinem eigenen Schatten, ließ die breite Treppe rechts hinter sich und warf seinen Schein kurz auf einen dicken, kunstvoll gewebten Teppich, ehe es diesen wiederum in Finsternis zurück lies.
Das Licht und sein Schatten glitten um eine Ecke, eilten eine kleine Treppe hinauf, die nur aus fünf Stufen bestand und wandten sich nach links.
Sie schienen etwas zu suchen. Etwas Bestimmtes, von dem sie offenbar ganz genau wussten, wo sie danach suchen mussten. Sie mussten nur die richtige Tür finden.
Im Licht der Laterne zog sich der Schatten die Handschuhe von den Fingern und begann sorgfältig eine Tür abzutasten. Was er zu finden hoffte, musste etwas sein, das sich im Licht der Kerze nicht erkenntlich zeigen würde.
Diese eine Tür schien nicht die Richtige zu sein. Irritiert trat er zurück. Er schüttelte ungeduldig den Kopf, ging weiter und überprüfte noch zwei weitere Türen. Doch auch hier blieb sein Erfolg aus.
Unschlüssig ließ der Schatten das Licht zu Boden gleiten. Die Laterne berührte die Dielen, ohne ein Geräusch zu machen. Nachdenklich ließ er seinen Blick von einer Tür zur nächsten wandern, als würde er überlegen, wo sein Fehler gelegen haben mochte.
Ohne zu einem ersichtlichen Ergebnis gekommen zu sein, wollte er sich zu seinem Licht hinunterbücken, das seiner Existenz Gestalt verlieh.
In dem Augenblick näherten sich Schritte.
Das Licht erlosch.
Zwei Mägde betraten den dunklen Korridor, die eine trug eine Laterne und einen Arm voll Feuerholz, die andere ein Tablett mit Brot, Schinken und Käse. Es war weder Eile in ihren Bewegungen zu erkennen, noch eine gewisse Dringlichkeit. Nichts ließ darauf schließen, das etwas vielleicht nicht so war, wie es sein sollte.
Diejenige, die das Tablett trug, hielt plötzlich inne.
„Hier riecht es, als wäre soeben eine Kerze gelöscht worden, oder nicht?"
Die andere verdrehte die Augen.
„Nun mach schon... Probiere halt was von dem Käse." Kopfschüttelnd schickte die mit dem Feuerholz sich an, weiterzugehen. „Nur weil du schwanger bist, riechst du hier plötzlich dieses und dort jenes und von deinem Appetit müssen wir gar nicht erst anfangen, liebes Fräulein!"
Kichernd schob sich die andere ein Stück Käse in den Mund und kaute anerkennend.
„Sehr gut. Unser junger Herr wird sicherlich zufrieden sein. Oder was meinst du?"
Seufzend griff nun auch die andere Magd nach einem Stück.
„Bin mir nicht sicher... Ich sollte auch den Schinken überprüfen. Wir wollen doch nicht, dass sich der Herr oder sein Gast den Magen verderben, oder etwa nicht? Herr im Himmel, und ich glaube, das Brot ist vielleicht verdorben."
„Wir sollten wohl zurückgehen und Neues holen."
„Du wirst Recht haben, meine Gute!"
Als die Mägde den Gang kauend und schwatzend wieder verlassen hatten, erhob sich der Schatten in vollkommener Dunkelheit.
Seine Laterne war offensichtlich nutzlos geworden. Er hatte nichts bei sich, mit dem er das Licht wieder hätte entzünden können.
Eine Weile stand er nur dort. Als würde er darauf warten, ein Teil von der sich manifestierenden Finsternis zu werden.
Dann setzte er sich in Bewegung, fand ohne Mühe den Weg zurück zur kleinen Treppe. Kurz hielt er inne. Doch anstatt sich auf den Weg zurück zum Ausgang zu machen, probierte er es nun auf der anderen Seite des Aufganges.
Hier schritt er zur zweiten Tür, die vom Flur abging und befühlte auch deren Außenseite zielstrebig. Dann trat er andächtig einen Schritt zurück.
Es schien, als hätte er gefunden, wonach er gesucht hatte.
Vielleicht hätte man in der Dunkelheit erkennen können, wie er sich die Hände rieb, ehe er vorsichtig vor dem Schloss nieder kniete und zwei lange dünne Metallstücke aus seinen Taschen holte und vorsichtig in das Schloss steckte.
Es dauerte nicht lange und es gab ein leises Klacken. Der Schatten drückte die Klinke hinunter und verschwand im Innern der Bibliothek.
***
Der Ire sah sich gelangweilt in der großen Halle um, die dem offiziellen Eingang des Anwesens angeschlossen war. Weißer Schnee glitzerte auf seinen Schultern, der sich im Innern des Hauses nur langsam in Feuchtigkeit verwandelte, die sich in der Wolle seines schwarzen Mantels verfing. Es war nur um ein Weniges wärmer hier, als draußen. Fackeln wurden eilig entzündet und ein paar Kerzenleuchter auf Kommoden drapiert, um den Gast nicht in vollkommener Dunkelheit warten zu lassen. Ein Feuer im Kamin zu entfachen, würde sich kaum lohnen.
Eine der Mägde hatte ihn herein gebeten. Er hatte seinen Hut abgenommen, wobei blondes, zu einem ordentlichen Zopf gebundenes Haar zum Vorschein gekommen war. Die Enden seines sauberen Halstuchs waren sorgfältig im Kragen seines Wamses verborgen, an dem alle Knöpfe zwar aus einfachem Metall, aber blank poliert waren. Am Saum seines Mantels oder seiner Stiefel war kein Matsch zu finden oder etwas, was darauf hindeutete, dass der groß gewachsene Mann eine lange Reise hinter sich haben musste. Er war glatt rasiert und musterte seine Umgebung zwar abwesend, aber mit wachen Augen.
Jean-Jacques beobachtete seinen Gast aus dem Verborgenen und versuchte sich ein Bild zu machen. Nur wollte ihm das nicht ganz gelingen. Seitdem die Magd einen Besucher angekündigt hatte, wurde er das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte.
Natürlich hatte er den Brief aus Frankreich erhalten und gelesen. Natürlich hatte er verstanden, dass für einen Liebhaber alter englischer Poesie, die Bibliothek des Anwesens ein gefundenes Fressen war. Er hatte sich bereit erklärt, einen Gesandten des französischen Herzogs, von dem er noch nie etwas gehört hatte, zu empfangen, der vielleicht ein paar Stücke kaufen oder ausleihen wollen würde.
Zu einem vortrefflichen Preis natürlich.
Vortrefflich für ihn und seine Grafschaft.
Das Begräbnis seines Vaters hatte die Kassen geleert und er würde bis zum Frühjahr warten müssen, ehe er seine Schwester dazu würde überreden können die Steuern zu erhöhen.
Seine Schwester... Seine liebliche kleine Schwester trauerte den ganzen langen Tag um ihren verstorbenen Vater. Sie hatte an ihm gehangen, er war ihr der Liebste gewesen.
Wann immer er versucht hatte sie zu verheiraten, hatte sie ihn nur ansehen müssen und er hatte mit einem Seufzen zugestimmt, ihr noch etwas mehr Zeit mit ihren Büchern zu gewähren. Nun war sie bereits achtzehn Winter alt und noch immer nicht unter der Haube.
Doch jetzt war er fort und es war an ihm, Jean-Jacques, sich all der Verantwortung anzunehmen, die eine Grafschaft mit sich brachte. Es war an der Zeit, dass er damit anfing und die Trauer beendete. Seine Schwester würde untröstlich sein, wenn er ihre geliebten Bücher verkaufte, aber es ging nicht anders.
Er lenkte seine Aufmerksamkeit wieder zu dem Gast, der noch immer geduldig wartete. Er empfand es fast als seltsam, dass er zu so später Stunde hier aufgetaucht war. Er würde ihm sicher kein Zimmer in seinem Haus zum Übernachten anbieten. Einem Iren auch noch. Sollte er doch im Dorf in der Schenke nächtigen. Es handelte sich um ein passables Etablissement! Eines, das wahrlich mehr Gewinn machen sollte.
Der Schnee auf seinen Schultern war inzwischen fast vollständig geschmolzen und sammelte sich zu seinen Füßen, als Jean-Jacques die Galerie betrat. Der Ire hatte die Hände anständig hinter dem Rücken verschränkt und löste sich aus seiner wartenden Pose, als er erkannte, dass sein Gastgeber nun nicht länger unpässlich war.
„Mylord", begann er mit einer tiefen aufrichtigen Stimme. „Verzeiht mir die späte Störung. Ich hörte von eurem Verlust und vermutete, es sei in eurem Sinne, wenn unser Anliegen eure Zeit nicht allzu lange in Anspruch nimmt." Er verbeugte sich kurz und schmucklos vor seinem Gegenüber.
Jean-Jacques nickte ihm zu.
„Euer Name ist McGalen", erkundigte er sich.
„Tenebros McGalen, Mylord." Der Ire lächelte höflich. „Mein Herr schickt mich aus Frankreich in einer Angelegenheit der Literatur zu recherchieren."
Jean-Jacques nahm einen der Kerzenleuchter von einem Sekretär. Sein Gast hatte nicht einmal Dreck unter den Fingernägeln. Sein Herr musste Wert auf ein gepflegtes Erscheinungsbild legen. Und vermutlich wahnsinnig reich sein.
„Folgt mir", wies er den Iren knapp an und jener setzte sich unverzüglich in Bewegung. „Ihr übernachtet im Dorf?", fragte er weiter. Nur um sicherzugehen.
„Ja, Mylord. Wenn wir überein kommen, werde ich morgen früh unmittelbar abreisen. Es gibt ein Schiff in Liverpool, das in einer knappen Woche ablegt."
Schweigend folgte der Ire ihm durch die dunklen Eingeweide des Anwesens. Sie waren beinahe am Ziel, ehe Jean-Jacques das Wort erneut ergriff.
„Ist er alt? Euer Herr, meine ich?"
Der Ire schenkte ihm einen durchdringenden Blick und lächelte wiederum höflich. Doch irgendetwas an diesem Lächeln trieb Jean-Jacques einen unsichtbaren Schauer über den Rücken.
„Man würde ihn einen alten Mann nennen, wenn man sein Alter erfährt, doch sein Verstand ist der eines jungen Herrschers", fasste McGalen zusammen und fügte hinzu „Und seine Schatzkammern sind gut gefüllt, also..." Er beendete den Satz nicht.
Jean-Jacques machte ein zustimmendes Geräusch, von dem er hoffte, dass es beinhaltete, dass er sich nicht wirklich darüber gesorgt hatte, ob der Herr des Iren auch über die nötige Liquidität verfügte.
„Und wonach genau seid Ihr auf der Suche?", fragte der junge Graf schließlich, als sie vor einer mit dunklem Eisen beschlagenen Tür haltmachten.
„Das wird sich noch herausstellen..."
Jean-Jacques steckte einen Schlüssel in das Schloss und drehte ihn herum. Die Tür sprang auf und er betrat das Lieblingszimmer seines Vaters. Die Luft roch muffig und alt und er hatte das Gefühl, Staub auf der Zunge zu schmecken. Er beschloss, gleich morgen eine der Mägde zum Putzen herzuschicken. Selbstsicher schritt er durch den Raum und entzündete ein paar weitere Kerzen. Als er sich umwandte, hatte er beinahe das Gefühl, dass er seinen Vater vor dem mächtigen Schreibtisch in dem ledernen Sessel würde sitzen sehen. Es schmerzte, dass dort niemand saß.
„Meine Quellen informierten mich, dass Eure Familie außerdem noch eine jüngere Schwester beinhaltet", sprach der Ire ruhig, während er begann, die Buchrücken in den hohen Regalen in Augenschein zu nehmen. „Kommt sie mit dem Verlust ihres Vaters zurecht?"
„Wie? Oh ja, sicher, sie betet viel. Mit Gottes Hilfe wird sie bald darüber hinwegkommen."
Während er sich zu dem Iren umdrehte, fiel sein Blick auf eine Stelle auf dem Kaminsims. Eine Stelle, die leer war.
Tenebros McGalen folgte seinem Blick.
„Ah, fehlt irgendetwas?
„Das Buch..." Jean-Jacques begann zu stottern. „Hier stand immerzu ein Buch. Genau hier." Hastig durchquerte er den Raum und legte seine Hände auf die leere Stelle des kalten Kaminsims, auf dem nichts als ein Abdruck im Staub zu sehen war. „Er wird es doch nicht... mitgenommen haben... Nein, das ist doch nicht möglich!"
Der Ire legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter.
„Ist es möglich, dass eine Magd oder eure Schwester das Buch genommen haben? Oder wurde es zum Staub wischen verräumt? Schaut Euch genau um!"
„Nein, nein, nein! Nur Familienmitglieder haben einen Schlüssel und wie Ihr sehen könnt, wird hier auch nicht Staub gewischt!" Jean-Jacques hielt seinem Gast seine vollgestaubte Hand entgegen. „Und meine Schwester hätte zuvor nach Erlaubnis gefragt! Wo kann es nur sein, das ist..."
Tenebros hatte die Arme vor der Brust verschränkt und beobachtete den fülligen jungen Grafen berechnend, der drauf und dran war in eine Art leichter Panik zu verfallen.
„Was stand in dem Buch? War es wertvoll für eure Familie?"
„Was? Woher soll ich das wissen, wir haben nie hineingesehen."
Ein Lächeln huschte über das Gesicht des blonden Mannes.
„Ihr habt nie hineingesehen? Warum nicht? Es hatte einen gewichtigen Platz."
„Weil es verschlossen war, zum Henker noch mal!"
„Es war verschlossen?"
„Ja, es hatte einen silbernen Verschluss über und über und man konnte es nur mit einem Schlüssel öffnen. Wir haben natürlich gerätselt, was der Schlüssel sein könnte, aber wir haben es nie herausgefunden. Dieses Geheimnis hat mein Vater mit ins Grab genommen."
Jean-Jacques ließ sich in einen Sessel sinken. Seine erste Stunde als neuer Herr der Grafschaft und schon verließen Dinge ihre angestammten Plätze, ohne, dass er es erklären konnte. Er sollte sich ein Glas Schnaps kommen lassen.
Zwei Mägde betraten den Raum durch die offene Tür. Die eine, die ein Tablett trug, nahm sofort wahr, in was für einem aufgelösten Zustand sich ihr junger Herr befand und eilte zu ihm. Die andere begann, ein Feuer im Kamin zu entfachen.
Schwermütig schob Jean-Jacques das Dienstmädchen von sich weg.
„Marie, sei so gut und bringe uns eine Flasche aus dem Keller und zwei Gläser." Er rieb sich die Stirn. „Ihr müsst entschuldigen, McGalen. Ich halte Euch von eurer Arbeit ab. Sucht Euch die Stücke heraus, die Euer Herr zu besitzen wünscht und lasst uns allein."
Schweigen war die Antwort, die er erhielt. Erst, als Jean-Jacques aufsah, setzte sich der Ire mit gerunzelter Stirn in Bewegung.
„Ich fürchte, es wird hier unter diesem Dach zu keinem Geschäft kommen, Mylord. Was mein Herr suchte, scheint diese Mauern bereits verlassen zu haben."
Jean-Jacques brauchte einige Momente, bis er begriff.
„Euer Herr interessierte sich für dieses wertlose Stück? Was hätte er damit anfangen können? Und was meint Ihr damit, dass es diese Mauern verlassen hat? Es wird doch nicht gestohlen worden sein?" Unsicherheit schlich sich in seine Stimme. Er nahm das Glas, das ihm gereicht wurde und nahm einen tiefen Schluck. „Aber... wer?"
Tenebros hob seinen Finger an die Lippen.
„Oder aber..." er schloss die Augen, als könnte er so hören, was im ganzen Anwesen vor sich ging. „Oder aber, es ist noch hier... Es ist noch ganz nahe." Er öffnete die Augen wieder und sah sich im Raum um. „Du da!", herrschte er eine Magd an. „Verriegelt alle Türen und Tore, sodass niemand herein oder herauskommt. Auch die Fenster! Sofort!" Dann wandte er sich wieder Jean-Jacques zu. „Es ist vielleicht sogar noch hier in diesem Raum."
Verständnislos sah Jean-Jacques zu ihm auf und nickte dem Dienstmädchen zu, dem Befehl des Iren folge zu leisten. Dann beobachtete er tatenlos, wie sein Gast um den Schreibtisch herum schritt und darunter schaute, dann hinter Vorhänge und zu guter Letzt noch hinter der offenen Tür nachsah.
„Wir haben jemanden gestört, Mylord, genau in dem Moment, als wir diesen Raum betreten haben", stellte er fest. „Seht."
Jean-Jacques erhob sich und sah hinunter auf das, was Tenebros ihm zeigte. Dort lag, beinahe zu offensichtlich, ein einsames Goldstück.
„Bewahrt Ihr eure Ersparnisse in diesem Raum auf, Mylord?"
Jean-Jacques Hand zitterte, als er sein Glas in einem Zuge leerte und zum Schreibtisch stürzte, um die Schublade mit der geheimen Schatulle zu überprüfen.
Als er die Schublade öffnete, tat sein Herz einen Satz.
„Sie ist offen", stellte er fest.
Der Ire nickte.
„Richtig, aber Ihr werdet feststellen, dass nur sehr wenig fehlt. Wie ich schon sagte, wir haben einen Dieb gestört, der sich Eures Eigentums bemächtigen wollte. Ich vermute, als er gehört hat, dass wir kommen, hat er anstatt des Geldes einfach das nächst Beste gegriffen, das er in die Finger bekommen hat. Dann brauchte er nur hinter der Tür zu warten, bis wir uns den Büchern widmen und dann konnte er den Raum verlassen. Ich hoffe, dass Eure Wachleute ihn bereits geschnappt haben werden."
„Wachleute? Macht Euch nicht lächerlich."
Jean-Jacques winkte ab. Er zählte die Münzen und musste feststellen, dass der Ire Recht behalten hatte. Sorgfältig verschloss er die Schatulle und die Schublade zum Schreibtisch wieder. Dann ließ er den Schlüsselbund in seine Tasche gleiten.
„Wir haben so gut wie Nichts, das es sich zu stehlen lohnen würde. Und unseren Pächtern geht es gut. Keiner aus dem Ort neidet uns unseren Reichtum. Wir kennen jeden Namen, jedes Gesicht. Es gab nie einen Grund für uns, Wachpersonal zu beschäftigen."
„Ihr... Ihr habt keine Wachen?", nun war es an dem Iren, keine Worte zu finden.
Jean-Jacques schüttelte den Kopf.
„Und was soll ich meinem Herrn berichten? Dass Euch das Buch unterm Allerwertesten entwendet wurde?"
„Euer Herr interessiert mich einen Dreck! Ich wurde offensichtlich bestohlen! Wie zum Henker hätte ein Dieb denn hier hineingelangen sollen? Nur ich habe einen Schlüssel. Die Tür war verschlossen und kein einziges Fenster war offen. Es gibt keine geheimen Zugänge oder Türen. Es wäre überhaupt nicht möglich gewesen, dass..."
Tenebros unterbrach den aufgebrachten dicken Lord, indem er geduldig die Hände hob.
„Beruhigt Euch bitte, Mylord. Setzt Euch." Er geleitete ihn zurück zum Stuhl, auf den er sich sinken ließ.
„Ihr müsst verstehen, ich will Euch einen Vorschlag machen", begann er. Seine Stimme klang ruhig und vertrauenerweckend. „Ihr müsst mir versichern, dass dies das einzige verschlossene Buch mit einem braunen Ledereinband und silbernem Verschluss ist, das sich in eurem Besitz befunden hat."
Jean-Jacques nickte.
„Ich schlage Euch einen Handel vor. Ich werde denjenigen finden, der Euch bestohlen hat und ihn zur Rechenschaft ziehen."
Der Graf sah ungläubig auf.
„Was sind eure Bedingungen?"
„Ihr verkauft mir das Buch zu einem Preis, den Ihr selbst bestimmen könnt."
„Ihr scherzt!"
„Wohl kaum!"
„Das würde bedeuten, dass Euer Herr ein Idiot ist. Und Ihr noch viel mehr. Es handelt sich nur um ein einzelnes, verstaubtes Buch. Es ist weder besonders groß, noch besonders dick. Eher besonders unscheinbar." Jean-Jacques nahm noch einen Schluck aus seinem Glas und schenkte auch seinem Gast ein. Der nahm dankend an.
„Und mein Herr wünscht nichts weiter als in Besitz dieses Stückes zu sein. Ihr wäret ein Narr, wenn Ihr mein Angebot ausschlagen würdet. All eure Geldsorgen könnten mit einem mal der Vergangenheit angehören. Ihr könntet eurer Schwester eine hübsche Mitgift verschaffen. Aber, wenn ich den Dieb für Euch finde, müsst Ihr verkaufen!"
Feierlich hob der Ire sein Glas, wie um auf den Handel anzustoßen.
„Mylord..."
Jean-Jacques hob ebenfalls sein Glas. Nach einem Augenblick des Zögerns stieß er mit dem Iren an und leerte sein Glas in einem Zug.
„Was mag das alles zu bedeuten haben?", murmelte er.
Tenebros indes nippte an seinem Getränk und stellte das Glas beinahe unangetastet auf dem großen breiten Schreibtisch ab.
„Es bedeutet Mylord, dass ich mich sofort auf den Weg mache." Etwas leiser sprach er an sich gewandt „Und dass noch jemandem der Wert dieses Stückes offensichtlich nicht entgangen ist." Er verbeugte sich ein letztes Mal vor dem jungen Grafen, dem der Kopf schwer auf die Hand gesunken war und ließ ihn allein in einem Anwesen voller Dunkelheit.
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