Verräter im Berg
Ohne sich eine Pause zu gönnen, eilte die Gruppe aus Elben und Zwergen durch den Wald. Es wurde Nacht, doch sie liefen weiter. Amaya und Tauriel führten die Krieger stetig weiter nach Nordosten, sie rasteten nicht, aus Angst doch noch von Verfolgern aus Dol Guldur eingeholt zu werden und, um die schwer verletzte Königin unter dem Berge so rasch wie möglich in den Erebor zu bringen.
Als der Morgen dämmerte, erreichten sie die Reittiere der Zwerge, die man nahe des Waldrandes zurück gelassen hatte. Hier verweilten sie kurz und Amaya versorgte notdürftig Lyranns Wunden.
Besorgt sah Fili auf seine Freundin hinab, die dort am Waldboden lag, während die Elbin sich über sie beugte. Fenja und Rhon kauerten mit blassen Mienen an der Seite ihrer Mutter. Seit ihrer Flucht von der Festung glitt Lyrann von Ohnmacht in einen fiebrigen Schlaf und wieder zurück. Selten öffnete sie die Augen, doch schien sie ihre Umgebung kaum wahrzunehmen. Manchmal murmelte sie unverständliches oder schrie gar plötzlich auf, wenn etwas Grausames sie in ihren Fieberträumen heimsuchte.
Lyrann glühte vor Fieber. Ihr Gesicht war voller aufgeplatzter Wunden, von denen manche angefangen hatten zu eitern. Auch ihr restlicher Körper war bedeckt mit Schürfwunden und blauen Flecken. Fili mochte sich gar nicht ausmalen, wie man sie behandelt hatte. Am schlimmsten hatte es ihre rechte Hand getroffen. Mehrere Fingerknochen waren gebrochen oder gar aus ihren Gelenken gesprungen. Die Handgelenke waren wund gescheuert und offen von der langen Zeit, die sie in den Handschellen gehangen hatte.
Voll Grauen betrachtete Amaya die malträtierte Hand, bevor sie sacht ihre Finger darum legte und darüber tastete. „Sie hat Glück gehabt.", murmelte die Elbin, „Die Brüche sind nicht kompliziert, aber ich muss die Gelenke jetzt einrenken." Fili nickte und kniete neben Lyrann nieder. Er griff nach den Schultern der Halbelbin, als Amaya mit einer kräftigen Bewegung die Gelenke wieder zurecht rückte.
Ein lauter Schrei entfuhr Lyrann und sie riss die Augen auf. „Mutter!", rief Fenja auf und streckte die Hand nach ihrer Mutter aus. Doch diese sackte bereits wieder zusammen, von gnädiger Ohnmacht umfangen.
„Kommt!", sagte Fili und hob Lyrann hoch, „Wir müssen weiter."
Die Zwerge eilten zu ihren Reittieren. Kurz übergab Fili seinem Bruder die Ohnmächtige, stieg auf sein Pony und nahm Lyrann wieder entgegen. Kraftlos sackte der Kopf der Halbelbin gegen seine Schulter. Auch die anderen Zwerge stiegen auf. Es war Zeit, sich von den Elben zu trennen, die weiter nach Norden zu Thranduils Palast ziehen würden.
Rhon stand mit sorgenvollem Blick neben Filis Pony und hielt die bandagierte Hand seiner Mutter. Er würde mit den Elben gehen und sie nicht zum Erebor begleiten.
„Habt Dank für eure Hilfe! Ohne euch hätten wir wohl nicht überlebt.", wandte Fili sich dankend an Amaya, deren Elben bereits im Zwielicht zwischen den Bäumen verschwanden. Die Elbin nickte und warf einen langen Blick auf Rhon, der unglücklich die Lippen aufeinander presste.
„Sie wird sich erholen, Rhon.", sagte Fili sanft zu seinem jüngsten Vetter. Die dunklen Augen des jungen Prinzen sahen zu ihm auf. „Sie ist stark und dein Vater wird sich gut um sie kümmern."
Rhon holte tief Atem, küsste kurz die Hand seiner Mutter und nickte seiner Schwester zu. Dann wandte er sich ab und folgte Amaya, um Thranduil Bericht zu erstatten.
Fili versäumte keine weitere Minute. Er lenkte sein Pony gen Osten und trieb es in einen flotten Trab. Die fiebrige Wärme, die von Lyrann ausging, mahnte ihn zur Eile.
Es war fast Mittag, als sie endlich den Saum des Waldes erreichten und sie den langen See vor sich sahen. Im Osten stürzte der Wasserfall von Thal in den See, auf den Felsklippen leuchteten die bunten Dächer der Menschenstadt in der Mittagssonne dieses Spätsommertages und dahinter erhob sich majestätisch der Erebor. Voller Erleichterung ließ Fili sein Pony in einen Galopp fallen. Bald würden sie zuhause sein.
Vollkommen erschöpft saß Thorin auf seinem Thron und mühte sich, den einzelnen Bittstellern aus seinem Volk zu lauschen, die bei der öffentlichen Audienz vor ihn traten. Es schien ihm, als wären es zwar weniger Zwerge, die ihn aufsuchten, seit der Krieg begonnen hatte, doch ihre Anliegen waren bedrohlicher geworden.
Unzählige Witwen oder hinterbliebene Familien kamen in den Thronsaal und baten um Unterstützung, um ihre Familien zu ernähren. Ehemänner, Brüder oder Söhne waren im Kampf gefallen und nun fehlte wichtiges Geld. Hunger und Elend drohte den Überlebenden, wenn keine Unterstützung gefunden wurde.
Manche nun allein stehende Frauen baten darum, die Werkstätten ihrer gefallenen Verwandten fortführen zu dürfen. Normalerweise mussten derartige Rechte in einem langwierigen Prozess beantragt werden, doch die wenigsten Familien konnten so lange warten. Bereitwillig erteilte Thorin die Erlaubnisse, dankbar um jede Zwergin, die so selbstständig sich und ihre Kinder vor Armut bewahren konnte.
Auch Händler traten nun vermehrt vor ihn. Schon lange konnte Thorin keinen Geleitschutz mehr ihren Karawanen zur Seite stellen, ihm fehlten schlicht die Soldaten dafür. Und so war das Geschäft der Händler eingebrochen. Es kamen weniger Fremde mit ihren Waren zum einsamen Berg und der Warentransport eigener Erzeugnisse war sehr viel gefährlicher geworden. In ihrer Not schlossen sich die Händler zu großen Reisegruppen zusammen und heuerten selbstständig Söldner an. Doch Thorin fürchtete, dass diese wichtige Einnahmequelle bald vollständig versiegen würde, sollte sich der Krieg so weiter entwickeln wie bis jetzt.
Doch seit Tagen war es ihm kaum noch möglich, sich auf die Nöte seines Volkes und die Meldungen von der Front zu konzentrieren.
Die Sorge um Lyrann ließ ihn nicht zur Ruhe kommen. Schlaf fand er schon lange kaum noch. Wenn er dann doch einmal einschlief, so wachte er oft kurz danach schweißgebadet aus Alpträumen auf. Jede wache Minute zermartete er sich das Hirn, ob seine Frau noch lebte, wie es ihr ging, wo sie war. Hatte Fili sie gefunden? Lebten die Soldaten, die er ausgesandt hatte, überhaupt noch? Was würde passieren, wenn er auch weiterhin die Kapitulation verweigerte?
Zu aller Sorge kam noch dazu, dass Fenja verschwunden war. Thorin war sich sicher, dass sie Fili gefolgt war. Im ersten Impuls hatte er Soldaten losschicken wollen, sie zurück zu holen. Doch auch dies wäre mit den ohnehin strapazierten Ressourcen kaum zu vereinbaren gewesen. Und so fürchtete er nun um das Leben von Frau, Tochter und Neffen. Es machte ihn schier wahnsinnig. Zum ersten Mal verstand er wirklich seine Schwester, die immer wieder hatte zurück bleiben müssen, mit nichts als Hoffnung und Furcht als Gesellschaft.
Thorins Blick schweifte zu seiner Rechten, wo Frerin stand. Der junge Mann war ganz grau im Gesicht vor Müdigkeit. Seine dunklen Augen wirkten etwas glasig, während er sich auf den Zwerg, der vor ihnen stand, konzentrierte.
Es zerriss Thorin das Herz zu sehen, wie sehr Frerin litt. Sein Sohn hatte eine solche Stärke in den letzten Monaten bewiesen, die Thorin dem eher sanftmütigen, dem Kunsthandwek zugeneigten jungen Zwerg nicht zugetraut hatte. Doch nach Thrains Verschwinden hatte Frerin ohne zu klagen dessen Pflichten mit übernommen, war schnell als Thorins rechte Hand über sich hinaus gewachsen, trotz all der Mühen, die es ihn gekostet hatte. Es war eine sehr schwierige Zeit für Frerin gewesen, das wusste Thorin, um so stolzer war auf seinen Sohn. Gerne hätte er ihm Ruhe gegönnt. Doch nun war Frerins Mutter in Gefangenschaft und auch noch seine Zwillingsschwester verschwunden. Die Sorge hatte sich tief in das Gesicht Frerins gegraben.
Endlich war auch der letzte Bittsteller gegangen. Der Mittag war lange vergangen und draußen vor dem Berg neigte sich die Sonne bereits gen Westen. Schweigend verließen Thorin und sein Sohn den Thronsaal und gingen in die benachbarte Beratungskammer. Dort stand ein schon ein Schreiber bereit, um neue Beschlüsse des Königs festzuhalten. Außerdem lagen ein ganzer Stapel königlicher Befehle bereit, meist für die Front gedacht, damit Thorin sie abzeichnete.
Frerin unterdrückte ein Gähnen, als die beiden sich am Tisch niederließen. Thorin zog Schreibfeder und Tinte zu sich heran und sah seinen Sohn an. Der erwiderte seinen Blick genauso müde und abgekämpft wie er sich fühlte.
„Frerin...", begann Thorin langsam, „Geh auf deine Gemächer und ruh dich aus. Ich brauche dich hier nicht."
„Aber Vater...", erwiderte Frerin. Doch Thorin schüttelte sanft den Kopf, während er sich einen Kelch Wein einschenkte. „Schlaf etwas mein Sohn. Du musst bei Kräften bleiben.", sagte er sanft.
Plötzlich flog hinter ihnen eine Tür auf und ein Wächter vom Haupttor schlitterte in den Raum hinein. Nach Luft japsend kam er vor dem Tisch zum Halten.
Alarmiert sah Thorin zu ihm auf. „Was ist passiert?", verlangte er zu wissen.
„Mein König!", stieß der Mann hervor, „General Fili...ist zurück! Die Königin..."
Weiter kam er nicht. Thorin sprang auf und rannte los. Sein Herz raste in einer Mischung aus Furcht und plötzlich erwachter Hoffnung. Hatte Fili Lyrann gefunden? War sie bei ihm? Lebte sie? Oder brachte er die Nachricht von ihrem Tod?
Frerin folgte ihm auf den Fersen.
„Aus dem Weg!", brüllte Thorin, als er die wie immer lebhafte Vorhalle erreichte. Waren hier noch mehr Zwerge zusammen gekommen als sonst?
Am Portal war ein Auflauf entstanden, dutzende Zwerge umringten eine Gruppe Reiter, die eben in dem Berg gekommen waren.
„Lasst den König durch!", wurde gerufen. Die Menge teilte sich und gab den Blick auf die Soldaten frei. Thorin erkannte Fili, der eben von seinem Pony gestiegen war, in seinen Armen lag Lyrann.
Sein Herz schien für einen Moment still zu stehen, als Thorin auf Lyranns Gesicht sah, das leichenblass unter einer Vielzahl von Wunden war. War sie tot?
Doch dann fing er Filis Blick auf. Sein Neffe lächelte und Thorins Knie wurden weich vor Erleichterung.
„Lyrann!", schrie er und stürzte nach vorne. Tränen rannen über sein Gesicht, als er seine Frau erreichte. Fili übergab sie ihm und Thorin schlang die Arme um sie, als wolle er sie nie wieder loslassen. Nun gaben seine Beine doch nach und er sackte auf dem Boden zusammen, Lyrann an sich gedrückt.
„Mahal sei Dank!", flüsterte er mit brüchiger Stimme. Sacht strich er über Lyranns Gesicht, so unglaublich dankbar dafür, sie wieder bei sich zu haben. Sie lebte! Sie war zuhause!
Doch wie furchtbar sah sie aus! Fassungslos starrte er auf die unzähligen eitrigen Wunden in ihrem Gesicht, sah hinab auf das offen gelegte Fleisch an ihren Handgelenken. Sie hatte in Ketten gelegen, war brutal misshandelt worden!
„Oh meine Lyrann.", murmelte er und barg sie in seinen Armen. „Was haben sie dir nur angetan?"
Er bekam kaum mit, wie die Soldaten und seine Neffen einen Ring um sie bildeten, um ihn und Lyrann von neugierigen Blicken abzuschirmen.
Frerin kniete neben ihm nieder, streckte die Hände nach seiner Mutter aus. Voll Grauen betrachtete der junge Mann die Wunden, die man der Königin beigebracht hatte.
„Vater... Frerin...", erklang da eine leise Stimme und beide hoben den Kopf. Fenja stand da, das Gesicht brennend vor Scham und den Blick gesenkt. Thorin wollte schon aufspringen und sie ebenfalls an sich ziehen, doch sein Sohn war schneller.
„Fenja!", brach es aus ihm heraus. Frerin zog seine Zwillingsschwester in eine knochenbrechende Umarmung. „Wie konntest du uns das nur antun?", rief er, „Warum bist du fortgegangen? Du hättest sterben können!"
Fenja sah ihn blinzelnd an und im nächsten Moment liefen Tränen über ihr Gesicht. „Ich...", begann sie zittrig, doch Thorin unterbrach sie. „Fenja, komm her!", rief er sie sanft aber bestimmt.
Mit großen Augen näherte sie sich und ließ sich neben ihm auf die Knie sinken. Er könnte sie schimpfen, doch Thorin war viel zu dankbar und glücklich, sie wohlbehalten zu sehen und Lyrann wieder hier zu haben. Wortlos zog er seine Tochter an sich, die hemmungslos schluchzend gegen ihn sackte. Sanft lächelnd sah Thorin über ihre Schulter zu Frerin hoch. Er formte die Worte, „Lass gut sein.", mit dem Mund und winkte seinen Sohn zu sich, der nach kurzem Zögern zu ihnen kam und ebenfalls Fenja in die Arme schloss.
Äußerst umsichtig trug Thorin seine Lyrann die Korridore entlang zu ihrem Gemach. Mehrere Soldaten hatten sich erboten, ihm die Last abzunehmen, doch er hatte abgelehnt. Seine verwundete Frau würde er selbst zu ihrem Bett tragen.
Frerin hatte Fenja sofort zum Hospital mitgenommen, damit man sich dort um sie kümmern würde. Er hatte versprochen, Dori so schnell wie möglich zu seinen Eltern zu schicken. Fili würde später am Abend noch für einen Bericht vorbei kommen.
Doch nun gehörte der Moment erstmal Thorin und Lyrann. Voller Sorge sah Thorin auf seine Geliebte hinab.
Die Tür zum Gemach zu öffnen und dabei Lyrann im Arm zu halten, gestaltete sich als etwas kompliziert, doch endlich stand er vor ihrem Ehebett und legte seine Frau sanft auf ihre Seite des Ehebettes, die in den letzten Nächten so schmerzlich leer gewesen war.
Er setzte sich neben sie auf den Rand des Bettes und betrachtete sie. Lyranns Atem ging flach und unregelmäßig. Ihre Haut glühte vom Fieber. Die Kleidung hing ihr nur noch in Fetzen vom Leib. Ihr ganzer Körper schien von Wunden übersät, Schmutz und geronnenes Blut bedeckte Haut, Kleidung und Haar.
„Was haben sie dir nur angetan, meine Geliebte?", flüsterte er fassungslos und tief in sich spürte er einen unglaublichen Zorn auf die Peiniger seiner Frau erwachen. Was gäbe er nur dafür, selbst in Dol Guldur gewesen zu sein! Er hätte puren Schrecken unter Lyranns Gefängniswärtern verbreitet! Abgeschlachtet hätte er jeden einzelnen von ihnen! Sie hatten es gewagt, Hand an seine Frau zu legen, an seine Königin!
Wenn ihm der Nazgul je wieder gegenüber stünde... Nichts, selbst Saurons ganze Macht, würde ihn vor dem Zorn Thorins schützen! Kein Ork wäre vor Orcrist sicher. „Ich werde dich rächen.", versprach er Lyrann leidenschaftlich, „Sie werden den Moment verfluchen, in dem sie es wagten, dich zu berühren!" Seine Stimme bebte vor Wut.
Doch nun war nicht die Zeit für Rache. Lyrann brauchte ihn.
Thorin stand auf und eilte ins Badezimmer, wo er eine Schale mit Wasser füllte und mehrere Tücher an sich nahm. Dann ging er zurück zu seiner Frau. Er würde sie pflegen, bis sie wieder gesund war, an Körper und Geist. Kaum vorstellen mochte er sich die Schrecken, die sie erlebt haben musste. Wie lange würde dieser Schatten auf ihr verweilen?
Vorsichtig streifte er die zerrissene Kleidung von ihrem Körper. Ein leises Stöhnen kam über Lyranns Lippen, als er sie dabei hin und her drehte. Die Stiefel ließ er achtlos neben das Bett fallen, die kläglichen Überreste ihrer Lederrüstung warf er daneben, das Hemd zerriss er einfach. Es dauerte einen Moment, bis er seine Frau aus aller Kleidung befreit hatte.
Tränen des Zornes stiegen ihm erneut in die Augen, als sie nun vor ihm lag und er jede einzelne Wunde ihres geschändeten Körper sehen konnte. Kaum wagte er es, sie zu berühren. Vorsichtig wickelte er sie in eine Decke. Dann begann er, ihr Gesicht zu reinigen. Sanft spülte er den Schmutz von ihrem Antlitz, bemühte sich, die Wunden nicht aufzureißen.
Seine Frau stöhnte leise, murmelte etwas unverständliches. Langsam strich er mit dem feuchten Tuch über ihre Stirn. Da schlug Lyrann plötzlich die Augen auf.
Verschwommen irrte ihr Blick hin und her, so ganz schien sie ihre Umgebung nicht erfassen zu können.
„Lyrann!", rief Thorin sie und beugte sich über sie. Zärtlich nahm er ihr Gesicht in beide Hände. Sie war wach! Unglaubliche Dankbarkeit durchströmte ihn und sacht küsste er ihre Stirn, ihre Lippen, ihre Augenbrauen.
Sie sah ihn an, verwirrt und fragend. Dann öffnete sie den Mund. „Thorin?" Ihre Stimme war kaum mehr als ein heiseres Wispern.
„Alles ist gut!", antwortete er, sanft fuhr sein Daumen über ihre Schläfe. „Du bist zuhause. Du bist in Sicherheit. Niemand wird dir etwas antun! Ich kümmer mich um dich."
„Thorin?", fragte sie erneut. Es war, als könne sie nicht glauben, wirklich im Erebor zu sein. Hielt sie ihn für ein Trugbild, einen Traum? Es brach ihm das Herz, sie so verletzt und verunsichert zu sehen. Ihr Geist schien noch immer auf Dol Guldur gefangen zu sein.
„Ich bin hier, Liebste! Wir sind im Erebor! Fili hat dich gefunden und nach Hause gebracht.", erklärte er und küsste erneut ihre Stirn.
„Du musst durstig sein.", sagte er leise, griff nach einem Kelch und füllte ihn mit frischem Wasser. Mit einer Hand hielt er den Becher, während er mit der anderen Hand Lyranns Kopf stützte, war die Halbelbin doch kaum stark genug, eine Hand zu heben.
Sehr langsam nahm Lyrann einige wenige Schlucke. Dann sackte ihr Kopf kraftlos zurück.
„Thorin...", murmelte sie müde.
Voll Sorge sah er auf sie hinab. Es würde lange dauern, bis sie wieder gesund war. „Schlaf meine geliebte Frau!", sagte er sanft und begann nun, ihre Arme zu waschen. Vorsichtig wischte er das geronnene Blut von ihrer Haut, schrubbte den Schmutz der Gefangenschaft weg. Voller Wut presste er die Lippen aufeinander, als unter dem Dreck viele kleine Schnittwunden und blauen Flecken zutage traten. Lyrann wimmerte leise, als er vorsichtig die offenen Stellen an ihren Handgelenken auswusch.
„Alles ist gut...", brummte er leise, „Du bist in Sicherheit. Du bist nicht mehr auf Dol Guldur."
Doch da öffnete Lyrann die Augen erneut, auch wenn es sie größte Kraft zu kosten schien. Der Blick jedoch, mit dem sie zu Thorin sah, war klar und fest. Erstaunt erwiderte er ihn.
„Zahina...", sagte sie plötzlich.
„Was ist mit ihr?", fragte Thorin, ein ungutes Gefühl machte sich in seiner Magengegend breit. Er hatte die Zwergin seit Tagen ignoriert. Die quälende Angst um Lyrann hatte jeden Gedanken an die seltsamen Gefühle für Zahina komplett ausgelöscht. Nichts war mehr von dieser Verwirrung übrig geblieben.
„Sie war auf Dol Guldur.", flüsterte Lyrann.
Erstarrt sah Thorin auf seine Frau hinab. Zahina... auf Dol Guldur...
„Was sagst du da?", erwiderte er fassungslos. Lyrann nickte mit letzter Kraft. „Zahina war auf Dol Guldur.", bestärkte sie noch einmal, dann sackte ihr Kopf zur Seite, als ihr geschwächter Körper erneut der Bewusstlosigkeit erlag.
Die Sekunden verstrichen, während Thorin versuchte, das eben gehörte zu verarbeiten. Lyrann war in ihrer Gefangenschaft auf Dol Guldur Zahina begegnet. Doch Zahina war hier, im Erebor! Er hatte sie erst noch am Morgen aus der Entfernung gesehen.
Das ließ nur einen Schluss zu! Heiße Wut stieg in ihm auf, löschte jeden Gedanken in ihm aus. Er erhob sich, sein Atem ging stoßweise, während er Zahina vor sich sah, wie sie vor seiner angeketteten Frau stand, diese verhöhnte.
„Verräterin!", knurrte er. Alles fügte sich nun zusammen.
Seit ihrer Ankunft im Berg war Zahina auf den Thron des Erebor aus gewesen! Er hatte gewusst, dass sie und Lyrann einander nicht mochten, doch nie hatte er die Ausmaße dieser Feindschaft verstanden. Zahina war bereit gewesen, ihr Volk zu verraten, um sich den Thron zu sichern! All ihre Annäherungen, ihr freundliches Geplänkel, die Nähe, die sie bei ihm gesucht hatte... All das, um sich einen Platz an seiner Seite zu sichern!
Sein Innerstes brannte vor Scham, als er daran dachte, dass er auf sie hineingefallen war. Er hatte sie geküsst, er hatte sich vor Leidenschaft und Sehnsucht nach ihr verzehrt! Und all die Zeit hatte sie nur die Krone im Sinn gehabt! Sie hatte ihn und ihre Freundschaft benutzt! Das Blut rauschte ihm in den Ohren, die Hände, die noch immer das feuchte Tuch hielten, mit dem er Lyrann gewaschen hatte, zitterten unkontrolliert.
Wann hatte Zahina beschlossen, dass sie Unterstützung benötigte, um den Thron zu erobern? Wann hatte sie sich dem Nazgul zugewandt? Er erinnerte sich noch, wie sie ihn, nachdem sie die Nachricht von Lyranns Gefangenschaft erhalten hatten, versucht hatte zu Verhandlungen mit dem Nazgul zu überreden! Sie hatte sich bemüht, ihn zur Kapitulation zu drängen! Wie konnte sie es wagen, ihn, ihren König zu hintergehen!
Ihr musste doch klar gewesen sein, dass er sie niemals als Königin akzeptiert hätte! Doch hätte er das wirklich? Voll Grauen dachte er an die wilden Tagträume, die ihn noch vor kurzem verfolgt hatten und die Zahina an seiner Seite gezeigt hatten.
Jedoch niemals hätte er das Knie vor Sauron gebeugt. Aber er zweifelte nun auch nicht mehr daran, dass Zahina seinen Tod in Kauf genommen hätte, wenn es ihr nur die Herrschaft über den einsamen Berg gesichert hätte.
Wie heißes Feuer loderte der Zorn durch seine Adern. Er war benutzt worden! Und Lyrann wäre fast gestorben! Zahina würde bezahlen! Mit einem Reißen fiel das feuchte Tuch in Stücken zu Boden.
Da klopfte es an der Tür. „Herein!", rief er mit nur mühsam beherrschter Stimme. Dori trat ein, zwei seiner Heiler folgten ihm, beladen mit Arznei und Verbandsmaterial. Der langjährige Freund des Königspaares zog voller Mitleid die Luft ein, als sein Blick auf die zugerichtete Lyrann fiel.
Thorin trat beiseite, um ihm Platz zu machen. Sofort begann der Zwerg fachkundig Lyrann zu untersuchen. Während seine Gehilfen begannen, Salben für Lyranns zahlreiche Wunden anzurühren, widmete sich Dori Lyranns verbundener Hand. Vorsichtig nahm er den Verband ab und tastete jeden einzelnen Finger ab.
„Gebt ihr etwas Mohnsaft, um sie zu betäuben.", wies er die anderen an, „Ihre Gelenke wurden wieder eingerenkt, das ist gut und hat weiteren Schaden vermieden. Aber manche Knochen haben bereits wieder angefangen, zusammen zu wachsen. Ich muss sie erneut brechen und gerade ausrichten, sonst wird sie ihre Hand nicht mehr gebrauchen können."
Thorins Wut wurde bei den Worten, wenn möglich, noch größer. Zu hören, welche Verletzungen Lyrann erdulden musste, war fast zu viel für ihn. Der Wunsch, Zahina jede einzelne dieser Wunden eigenhändig zuzufügen, brannte übermächtig in ihm. Oh sie würde sich wünschen, nie geboren zu sein, wäre er mit ihr fertig!
„Dori...", wandte er sich an den Freund, die Stimme nur mühsam ruhig haltend. Dori hob den Blick zu ihm empor. „Kümmer dich um sie!", wies Thorin ihn an, „Ich muss etwas erledigen."
Mit einem letzten Blick voll Liebe auf Lyrann, wandte er sich ab und verließ das Gemach.
„Mitkommen!", befahl Thorin scharf den beiden Wachen, die den Eingang zu den königlichen Gemächern bewachten.
Kurz sahen die beiden Zwerge einander an, dann eilten sie ihrem König hinterher. Dieser schlug ein scharfes Tempo an. Unglaubliche Wut rauschte noch immer durch ihn hindurch. Er konnte es nicht glauben. Wie sehr er sich doch in Zahina getäuscht hatte! Jedes Zeichen, jede Warnung hatte er ignoriert, blind darauf vertrauend, dass seine alte Freundin sich nicht verändert hatte. Dís' Mahnungen, Lyranns wütende Vorwürfe, selbst Dwalins vorsichtiges Fragen hatte er in den Wind geschlagen und die Augen vor Zahinas Abneigung gegenüber seiner Frau verschlossen. Und eben diese hatte nun den Preis dafür gezahlt.
Jeder Zwerg, der ihnen entgegen kam, wich respektvoll zur Seite. Manch ängstlicher Blick folgte dem König unter dem Berge, dessen Miene kalt und finster war. Niemand wagte es, dem König den Weg zu versperren.
Wortlos lief Thorin weiter, bis er endlich die Quartiere der Adeligen erreicht hatte. Nach wie vor hauste Zahina in den Wohnungen Mims.
Eben hob Thorin die Faust, wollte donnernd auf die Tür einschlagen und mit all der Autorität des Königs Einlass fordern. Doch da kam ihm Dwalins Bericht in Sinn, der Mim und Zahina gemeinsam bei einer Unterredung beobachtet hatte. War Mim etwa mit Zahina im Bunde?
Der alte Zwerg war schon lange ein entschiedener Gegner Lyranns gewesen. Nur die Tatsache, dass Lyrann so vom Volk verehrt wurde, hatte ihn davor zurück gehalten, offen gegen sie vorzugehen. Wenn er in Zahina eine Bündnissgenossin gefunden hatte... Jetzt hatte er die Gelegenheit eben dies herauszufinden und Mim zu überführen.
Finster stierte Thorin die Tür an. Alles in ihm verlangte danach, dieTür aufzureißen, brüllend in die Wohnung Mims zu stürmen und Zahina an ihrem glänzenden schwarzen Haar wieder hinaus zu zerren. Sein Puls raste und der Zorn vernebelte sein Denken.
Mühsam zwang er sich dazu, tief durchzuatmen. Dann gab er den beiden Soldaten ein Zeichen, leise zu sein. Vorsichtig drückte er die Tür auf und schlich hinein. Würde zu dieser späten Stunde überhaupt noch jemand wach sein?
Er war nur wenige Meter gegangen, als er leise Stimmen hörte.
„Fili hat es geschafft, sie zu retten? Lebt die Königin?"
Das war ohne Zweifel Zahina. Thorin ballte die Faust vor Zorn. Langsam näherte er sich den Stimmen, schob sich einen Flur entlang auf eines der hinteren Zimmer zu. Das Gespräch wurde lauter.
„Ja, sie lebt. Schwach und verwundet ist sie, aber sie lebt.", antwortete Mim kalt, „Offenbar genügte deine Warnung nicht aus, um sie in einen Hinterhalt zu locken."
„Das kann nicht sein!", erwiderte Zahina heftig, „Sie müssen Hilfe gehabt haben!"
Beide schwiegen einen Moment.
„Ich muss den Berg verlassen.", fuhr Zahina dann leise fort, „Die Königin sah mich auf Dol Guldur."
Thorin hatte genug gehört. Diese beiden Verräter würden nicht ungesühnt davon kommen!
Donnernd schlug er gegen die angelehnte Tür, die mit einem lauten Knall aufflog.
Mim und Zahina erstarrten. Thorin baute sich im Türrahmen auf, die Arme vor der Brust verschränkt, die Augen blitzend vor Hass und Zorn. Mit weit aufgerissenen Augen erwiderten die beiden seinen Blick.
„Ihr seid verhaftet!", donnerte er. Seine gewaltige Stimme ließ die Möbel um sie herum erzittern. Weder Zahina noch Mim schienen in der Lage, sich zu rühren. „Der König und die Königin unter dem Berge klagen euch des Hochverrates an!", sagte Thorin und seine Worte durchschnitten die Luft wie eine Peitsche.
Die beiden Soldaten traten an ihn heran, bereit, die Verräter in Gewahrsam zu nehmen. Thorin durchmaß das Zimmer mit großen Schritten. Eine Aura der Macht und des Zorns ausstrahlend näherte er sich Zahina, die unwillkürlich einen Schritt zurück wich. Doch er ließ sie nicht weit kommen. Thorins Hand schnellte vor und packte sie am Kragen.
Mit einem Knurren zog er sie heran und sah zornfunkelnd auf sie hinab. Auf die Zehenspitzen hoch gehoben, hing Zahina in seinem Griff. Angstvoll starrte sie ihn an.
„Du wagst es, mit dem Feind zu paktieren!", begann Thorin zu sprechen, die Stimme bebend vor Wut und zunehmend lauter werdend, „Du wagst es, mich zu hintergehen und den Platz deiner Königin einnehmen zu wollen! Du wagst es, dein Volk zu verraten!" Seine Stimme hallte von den Wänden des prachtvollen Zimmers wider.
Unbändige Wut rauschte durch ihn hindurch, er hob die Hand, bereit auf Zahinas feines Gesicht einzuschlagen. Die Zwergin zuckte zusammen und kniff die Augen zu. Doch dann besann sich Thorin. Sie war es nicht wert.
Er lies die Hand sinken und entließ die ehemalige Jugendfreundin aus seinem Griff. Ihr Verrat schmerzte ihn unglaublich. „Du widerst mich an.", sagte er leise und spuckte ihr verächtlich vor die Füße. Dann wandte er sich ab und verließ rasch das Zimmer, während die Soldaten Mim und Zahina in Gewahrsam nahmen.
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