Vergebung
Wie erstarrt blickte Thrain zu seinem Vater. Sein Kopf fühlte sich mit einem Mal vollkommen leer an. All die Worte, die er sich zurecht gelegt hatte, waren fort.
Sämtlicher Lärm um ihn her war vergessen, während er das so vertraute Gesicht seines Vaters anstarrte, unfähig sich zu bewegen oder etwas zu sagen.
In Thorins Blick lag pure Verwunderung. Vollkommen überrumpelt sah er zu ihm, sagte kein Wort.
Angst schlang sich in Thrains Magen zu einem kalten Klumpen zusammen, seine Hände zitterten. Was konnte er nur sagen? Schon machte er sich auf einen Wutausbruch des Königs gefasst.
„Vater...", brachte er schließlich mit brüchiger Stimme hervor, „Ver..."
Die Worte „Vergib mir" waren noch nicht über seine Lippen, als sein Vater die Distanz zwischen ihnen plötzlich mit wenigen, schnellen Schritten überbrückte und ihn in eine knochenbrechende Umarmung zog.
„Mein Sohn!", hörte er die raue Stimme Thorins, „Ich dachte, ich hätte dich verloren!"
Thrain schlang die Arme um seinen Vater, während er spürte, wie Tränen seine Augen füllten.
„Verzeih mir, Vater!", brach es aus ihm heraus. Soviel Verzweiflung und Angst war da in ihm, drang nun an die Oberfläche. Seine Schultern begannen zu beben.
Er fühlte, wie Thorin sanft eine Hand an seinen Hinterkopf legte und der König leise murmelte: „Nein, vergib mir, Thrain. Ich habe dich nicht gut behandelt. Nie habe ich mir verziehen, dich aus dem Berg vertrieben zu haben."
Langsam lösten sie sich voneinander und sahen sich an. Den Auflauf an Zwergen, der um sie her entstand, nahmen beide gar nicht wahr. Auch die Stimmen, die Thrains Namen riefen und miteinander tuschelten, hörten sie nicht.
Ein warmes Lächeln glitt über Thorins Züge. Sacht strich er über Thrains Wange. „Du bist zuhause...", sagte er. Thrain nickte, überwältigt von der Erkenntnis, die wie eine Welle über ihn herein brach. Er war wieder daheim. Die Zeit seiner ziellosen Reise war vorbei.
„Thrain!"
Voller Unglauben starrte Lyrann auf die Szene, die sich vor ihren Augen abspielte. Sie stand auf einem etwas erhöhten Absatz, von wo aus sie sich ein Bild über den Zustand der aus Thal geflohenen hatte machen wollen.
Doch ihr Blick war von einem Auflauf an Zwergen angezogen worden, der sich an der anderen Seite der Halle gebildet hatte.
Und dort... dort stand Thorin mit einem jungen Mann, mit Thrain!
„Thrain!", rief sie erneut.
Die Knie schienen ihr fast nachzugeben, ihr Herz setzte einen Schlag aus. Wankend stützte sie sich an der nächsten Steinsäule ab, dann rannte sie los.
Die Menge teilte sich vor ihr und da war er, ihr Sohn!
Verwundert fiel Thrains Blick auf sie, Thorin ging einen Schritt beiseite, da war sie auch schon bei den beiden.
„Oh Thrain!" Mit einem Aufschluchzer schlang sie die Arme um ihren Sohn und fühlte, wie auch er sie in eine feste Umarmung zog.
„Mutter!", sagte er leise mit bebender Stimme.
So fest sie konnte hielt Lyrann ihren ältesten Sohn in Armen, wollte ihn nie wieder los lassen. Er war zurück, er war wieder zuhause, bei ihr. Thrain lebte und er war heimgekehrt.
Sie meinte, vor Gefühlen zerspringen zu müssen. Tränen rannen über ihr Gesicht.
Da fühlte sie, wie auch Thorin seine Arme um sie beide legte und für einen langen Moment hielten sie drei sich einfach nur fest.
„Mutter... Vater...", flüsterte Thrain. Er hob den Kopf und sah sie beide an. „Es tut mir so entsetzlich leid..."
Lyrann hob den Blick und sah ihren Sohn an. Tränen schimmerten in seinen hellblauen Augen. Sacht schüttelte sie den Kopf. „Es ist alles gut, Thrain.", sagte sie liebevoll.
Aufmerksam betrachtete sie den jungen Mann. Thrain hatte sich stark verändert. Entsetzt sah sie auf die Narbe, die sich quer über sein Gesicht zog. An seinem Hals waren Spuren alter Verbrennungen zu sehen. Das Haar war etwas kürzer als früher. Gekleidet war ihr Sohn wie ein einfacher Reisender, nichts deutete mehr auf seine königliche Geburt hin, mehrfach geflickt war die Kleidung. Einzig auffällig war ein grauer Umhang mit einer Brosche in Form eines Blattes, der über seine Schultern fiel. Der Blick seiner Augen, denen des Vaters so ähnlich, war viel erfahrener und leiderprobter.
Thrain musste viel erlebt und viel erlitten haben auf seinen Reisen.
„Oh mein Sohn...", sagte sie leise, „Was musst du alles mitgemacht haben."
So dankbar, seine beiden Eltern wohlbehalten vor sich zu sehen, sah Thrain von einem der beiden zum andern. Seine schlimmsten Ängste hatten sich in nichts aufgelöst. Voller Liebe und Glück, ihn wieder bei sich zu haben, hatten sie ihn empfangen.
Nun nahm Thrain auch das Tuscheln der Zwerge um sie her wahr. Er wandte den Blick von Thorin und Lyrann ab und sah sich um. Dutzende Zwerge scharten sich um sie, die meisten von ihnen waren Krieger, eben aus Thal gekommen, doch es waren auch einige Heiler und Zwerge aus anderen Schichten da. Sogar einige Menschen konnte er erkennen.
Voller Staunen sahen sie zu ihm und deutlich konnte er ihre Unterhaltungen hören: „Thrain..." „Prinz Thrain, er ist es wirklich!" „Er ist heimgekehrt."
Thorin neben ihm räusperte sich und Thrain drehte sich wieder seinem Vater zu.
„Ich muss mich um unsere Krieger und die Menschen aus Thal kümmern.", begann sein Vater. „Ich komme mit und helfe dir!", erwiderte Thrain, doch Thorin schüttelte sanft den Kopf. Er legte eine Hand auf Thrains Schulter und sagte: „Geh in dein Gemach, mein Sohn. Ruh dich aus, du hast eine lange und beschwerliche Reise hinter dir."
Thrain nickte. Sein Vater wandte sich ab und ging mit raschen Schritten davon. Langsam sah Thrain zu seiner Mutter, die ihn etwas traurig anlächelte. „Ich muss ebenfalls mich um die Neuankömmlinge kümmern und schauen, dass im Hospital alle gut versorgt werden. Auch sollte ich Brand und Kelra suchen und Unterkünfte für die Menschen aus Thal finden.", sagte sie, „Geh und ruh dich aus, ich werde nachher zu dir kommen." Lyrann beugte sich vor und gab ihm einen kurzen Kuss auf die Wange. „Ich bin froh, dass du zuhause bist, mein Sohn."
Die tuschelnde Menge teilte sich vor Thrain, der langsam durch die Halle schritt. Neugierige Blicke verfolgten jeden seiner Schritte. Leise geflüsterte Unterhaltungen drangen an sein Ohr. Der Thronfolger... Prinz Thrain war heimgekehrt...
Er erreichte eine der Treppen, die aus der Vorhalle heraus führten und wandte sich um. Dutzende, vielleicht sogar hunderte Augenpaare blickten zu ihm auf. Es war ungewohnt, wieder so im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen. Doch gleichzeitig fühlte er, wie das Wissen, Prinz des Erebor zu sein, ihn nicht mehr so erdrückte. Kurz lächelte er den Umstehenden zu, dann verschwand er in einem der Korridore, die in Richtung der königlichen Gemächer führten.
Vollkommen ausgestorben war der Gang und laut hallten die Schritte Thrains von den fackelbeleuchteten Wänden wider. Er war zuhause... Er war im Erebor!
Die Erkenntnis traf ihn mit voller Wucht.
Mit angehaltenem Atem ließ er seine Fingerspitzen über das glatte, grünliche Gestein des Korridors gleiten. So wohlbekannt, so vertraut waren diese Mauern. Wie sehr hatte er sich nach seiner Heimat gesehnt! Deutlich konnte er die Kraft und Stärke, die pulsierende Lebendigkeit dieses mächtigen Berges spüren, atmete er den Duft des Steins, fühlte jedes Detail der Mauer.
Voller Rührung sandte er ein Dankgebet an Mahal, dass er ihn wieder hierher geführt hatte.
Plötzliche Schritte holten Thrain aus seinen Gedanken. Er drehte den Kopf eben, als zwei Zwerge um die Ecke bogen.
Beide blieben wie angewurzelt stehen. Thrain stockte der Atem.
Da standen seine Geschwister, Frerin und Fenja.
„Thrain?", durchbrach sein Bruder fragend die Stille.
Dieser machte nun einen Schritt auf die beiden zu und hob in einer begrüßenden Geste die Arme. „Frerin! Fenja!", rief er aus, „Oh wie glücklich ich bin, euch beide wohlbehalten zu sehen!"
Sie waren es, sie waren es tatsächlich. Beide in Rüstungen gekleidet und bewaffnet, wirkten sie so viel älter. Wortlos starrten sie ihn an, als hätten sie einen Geist gesehen, schienen um Worte zu ringen.
„Ich bin wieder zuhause.", sagte Thrain und ging rasch auf sie zu. Sein Herz machte wilde Freudensprünge. Wie sehr hatte er um sie gefürchtet!
Doch noch bevor er sie beide erreicht hatte, war Fenja bei ihm. Mit einem zornigen Aufschrei schlug sie ihm ins Gesicht, drehte auf dem Absatz um und rauschte mit klirrendem Kettenhemd davon.
Nach Atem japsend hielt sich Thrain die brennende Wange und sah seiner Schwester fassungslos hinterher. Diese war mittlerweile verschwunden. Ratlos blickte er zu Frerin, der ihn argwöhnisch betrachtete.
„Warum bist du hier?", fragte sein jüngerer Bruder und Traurigkeit überkam ihn. Frerin hatte über ein Jahr lang die Rolle des Thronfolgers übernehmen müssen und man konnte ihm deutlich ansehen, wie viel ihm das abverlangt hatte. Er war nicht zum Anführer geboren, noch fühlte er sich als solcher wohl, ein äußerst begabter Handwerker war er, am glücklichsten, wenn er sich ganz seiner Kunst widmen konnte.
„Frerin...", begann Thrain, die Worte waren so schwer zu finden.
„Es tut mir so unendlich leid. Ich hätte nie fortgehen sollen. Ich hätte euch nie im Stich lassen sollen..."
Um Vergebung flehend sah er seinen Bruder an. Dieser erwiderte nichts, sondern musterte ihn nur nachdenklich.
„Vater und ich... Wir haben uns gestritten.", suchte Thrain weiter verzweifelt, sich zu erklären, „Ich weiß, ich hätte nicht gehen sollen. Frerin, ich... Ich weiß, in welche Lage ich dich gebracht habe, es war nie meine Absicht, dir weh zu tun! Ich..."
„Wirst du bleiben?", fiel sein Bruder ihm leise ins Wort. Der Blick aus seinen dunklen Augen war scharf und fordernd. Er wollte die Wahrheit wissen, wollte erfahren, ob er sich darauf verlassen konnte, dass sein ältester Bruder ihn nicht wieder im Stich lassen würde.
Thrain lächelte und nickte. „Ich werde bleiben, Frerin.", erwiderte er, „Ich bin nach Hause gekommen und werde euch nicht wieder verlassen. Dies ist meine Heimat, ihr seid meine Familie."
Tatsächlich breitete sich nun ebenfalls ein Lächeln auf Frerins Gesicht aus, er trat nach vorne und umarmte seinen Bruder. Dankbar, dass er ihm scheinbar verziehen hatte, erwiderte Thrain die Umarmung.
Langsam lösten sie sich voneinander. „Fenja?", fragte Thrain etwas verunsichert. Und zu seinem Erstaunen lachte Frerin. „Sie wird dir verzeihen.", erwiderte er grinsend, „Gib ihr etwas Zeit."
Dann klopfte er Thrain auf den Oberarm. „Ich muss los, Vater und Mutter suchen. Wir sehen uns, Thrain.", verabschiedete er sich, dann ging er weiter in Richtung Portal.
Mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen folgte Thrain dem Gang weiter bis zu den königlichen Gemächern.
Und da war sie, die Tür zu seinem Gemach. Er streckte eine zitternde Hand nach dem Türgriff aus und öffnete.
Mit angehaltenem Atem trat er über die Schwelle in das Zuhause, das er vor über einem Jahr verletzt und wutentbrannt verlassen hatte.
Langsam ging er durch den Korridor, vorbei an seinem Studierzimmer und dem Badezimmer und trat in den Hauptraum des Gemaches.
Es sah noch genauso aus, wie er es in Erinnerung hatte. Da war der mächtige Kamin, kunstvoll in den Stein gehauen und besetzt mit Verzierungen aus Saphir, davor zwei Sessel bespannt mit blauem Samt. In den Boden mit blauem Edelstein eingelegt das Wappen der Durins. Ein hölzerner Tisch, seine Kleidertruhe, ein Regal mit einigen Büchern, einige davon Geschenke Rhons, wie er sich mit einem erheiterten Lächeln erinnerte. Und sein Bett, mit den Vorhängen aus blauem Tuch, die Kissen und Decken frisch aufgeschüttet, als hätte Minna das Zimmer erst vor wenigen Stunden für ihn hergerichtet. Wie es ihr wohl ging?
Thrains Blick fiel auf die Ecke hinter seinem Bett und zum wiederholten Mal an diesem Tag setzte sein Herz einen Schlag aus. Dort stand die Doppelaxt, welche sein Vater für ihn geschmiedet hatte, die elegante, todbringende Waffe des Thronfolgers.
Langsam ging er darauf zu, streckte die Hand danach aus und schloss die Finger um den Stiel der Doppelaxt, der sich nach wie vor perfekt in seinen Griff schmiegte. Vorsichtig hob er die Waffe empor, spürte ihr vertrautes Gewicht, ließ den Blick über die Gravuren auf den beiden Axtblättern gleiten:
„Mit dem Segen Mahals, Durin zur Ehre." „Ich bringe den Zorn der Valar über Morgoths Kreaturen."
Dies war seine Waffe und damit würde er nun wieder den Feinden seiner Familie entgegentreten.
Mit einem langen Ausatmen ließ er sich auf sein Bett sinken. Seine Finger strichen immer wieder über die Waffe in seinen Händen. Es schien ihm so unwirklich, dass er wieder hier war. Sein Blick glitt durch den so vertrauten Raum. Doch es war kein Traum. Er war wirklich zuhause, bei seiner Familie.
Wie lange er dort gesessen hatte, tief in Gedanken versunken, wusste er nicht. Doch ein leises Klopfen an der Tür, holte ihn aus seinen Grübeleien.
„Herein!", rief er.
Wenig später betrat seine Mutter das Zimmer. Das blutverschmutzte Mithrilkleid, das sie im Kampf um Thal getragen hatte, hatte sie gegen blaues Kleid ausgetauscht. Mit einem warmen Lächeln trat sie auf ihn zu.
„Ich habe immer geahnt, dass du eines Tages wieder hierher kommen würdest.", sagte sie leise, „Deswegen ließ ich das Zimmer stets säubern."
Thrains Hand strich über die Felle auf seinem Bett. „Es ist so seltsam, wieder hier zu sein.", erwiderte er.
Er sah zu seiner Mutter und sagte mit trauriger Stimme: „Fenja ist zornig auf mich. Ich bin ihr und Frerin eben begegnet."
„Was ist passiert?", fragte Lyrann sanft und ließ sich auf einem der Sessel ihm gegenüber nieder.
Thrain senkte den Blick. „Frerin hat mit mir gesprochen, ich denke, er hat mir verziehen, dass ich ihm die Rolle des Thronfolgers aufzwang. Doch Fenja... Sie ließ nicht zu Wort kommen." Er hob eine Hand und fuhr sich über die noch immer gerötete Wange. Leise lachte er auf. „Sie hat mir eine Ohrfeige verpasst.", berichtete er. Es passte zu seiner temperamentvollen Schwester, sich nicht mit Worten zu belasten.
Lyrann seufzte leise.
„Sie liebt dich, Thrain.", erwiderte sie.
Thrain hob den Blick und sah seine Mutter zweifelnd an.
„Du warst schon immer Fenjas Lieblingsbruder. Frerin vielleicht ausgenommen, aber zu ihm hat sie eine andere Beziehung als zu dir oder Rhon. Kaum, dass Fenja laufen konnte, ist sie dir überall hin gefolgt, egal, wie oft sie dabei stürzte oder sich verletzte.", erzählte sie leise,
„Dich zu verlieren, war ein harter Schlag für sie. Sie stürzte sich in ihr Training, als würde die Erschöpfung ihr die Trauer um deinen Verlust austreiben. Sprich mit ihr Thrain, Fenja wird dir vergeben."
Die Königin unter dem Berge erhob sich.
„Schlaf vielleicht ein wenig, Thrain. Und iss heute Abend mit uns gemeinsam.", verabschiedete sie sich und verließ den Raum.
Thrain war tatsächlich furchtbar müde. Doch er wollte nicht schlafen. Vorher wollte er noch einmal versuchen, mit seiner Schwester zu sprechen.
Und so erhob er sich und verließ sein Gemach. Ratlos blieb er stehen. Wo war Fenja? Wo sollte er sie suchen gehen?
Fürs Erste würde er es in ihrem Zimmer versuchen. Und so wandte er sich nach links, folgte dem Hauptkorridor des königlichen Flügels und stand dann schließlich, nachdem er an Rhons Zimmer vorbeigegangen war, vor Fenjas Tür.
Sorge legte sich um sein Herz. Sie war sehr wütend gewesen und er konnte es ihr nicht verdenken. Würde sie ihm tatsächlich vergeben, so wie seine Brüder und seine Eltern?
Sacht klopfte er an und wartete. Doch es kam keine Antwort. Eine Ewigkeit schien ihm zu vergehen, aber niemand reagierte auf sein Klopfen.
Und so legte er eine Hand auf den Türknauf und drückte vorsichtig. Tatsächlich schwang die Tür auf und er betrat das Gemach der Prinzessin. Überall um ihn her schimmerte und glitzerte es von den Quarzadern und Diamanten, die die Räumlichkeiten zierten, in denen Fenja wohnte. Für seine wilde Schwester war ihm ein derartig prachtvolles Zimmer immer ein wenig unpassend erschienen.
„Fenja?", rief er vorsichtig, erhielt aber keine Antwort.
Langsam schritt er durch ihre Räume, denn er traute ihr durchaus zu, in ihrem Zorn einfach nicht auf ihn zu reagieren. Aber tatsächlich war Fenjas Gemach leer.
Wo war seine Schwester dann?
Einer Eingebung folgend, drehte er sich um und verließ das Zimmer. Sein Ziel waren die Trainingshallen der Krieger.
Als er sich den Hallen näherte, in denen er als junger Mann so wie viele andere Krieger vor ihm trainiert hatte, drang das vertraute Klirren von Waffen an sein Ohr. Er bog um die letzte Ecke und betrat das große Gewölbe, in dem mehrere Gruppen Soldaten trainierten. Nicht nur Zwerge waren hier in ihre Übungen vertieft, er erkannte auch Menschen und sogar einige wenige Elben.
Die ersten erkannten ihn und ließen verwundert ihre Waffen sinken, während sie zu dem heimgekehrten Prinzen blickten. Thrain jedoch ignorierte ihre Blicke und das aufkommende Getuschel. Konzentriert nach seiner Schwester suchend durchschritt er die Halle und betrat schließlich die angrenzenden Räume, die ebenfalls fürs Training genutzt wurden.
In einem der kleineren Zimmer stieß er auf eine Gruppe von drei Zwergen. Und da war sie...
Thrains Atem stockte, als er die beiden Krieger erkannte, die bei seiner Schwester waren. Skafid und Jari!
Jari lehnte an der Wand und beobachtete Fenja und Skafid, die in ein wildes Gefecht verwickelt waren.
Staunend verfolgte Thrain die Bewegungen seiner Schwester. Geschickt wehrte sie Skafids Angriffe mit ihren Dolchen ab, wirbelte um ihren Gegner herum, griff ihn ihrerseits an und brachte seinen alten Freund mehrfach arg in Bedrängnis. Der Rock flog ihr dabei um die Beine, das Kettenhemd rasselte und klapperte bei jeder Bewegung und ihr Zopf peitschte durch die Luft. Fenja war trotz ihrer Jugend bereits eine erfahrene Kriegerin, die Schlachten gesehen hatte.
Da fiel Skafids Blick auf ihn und verwundert ließ der junge Mann seine Waffe sinken. Fenja bremste ihren Schlag noch gerade rechtzeitig, bevor sie ihn verletzt hätte.
„Thrain?", fragte Skafid leise. Die anderen beiden wirbelten herum. Jari klappte der Mund auf und Thrain meinte, Zorn über sein Antlitz huschen zu sehen. Doch es war ihm in diesem Moment egal. Er wollte mit seiner Schwester sprechen.
Diese jedoch wandte sich schon wieder ab, das Gesicht voller Kälte. „Ich habe dir nichts zu sagen, Thrain.", wies sie ihn scharf ab.
Sie wollte schon gehen, als Skafid die Hand nach ihr ausstreckte und sie am Arm fasste. Leise murmelte er ihr etwas zu. Fenjas Gesichtsausdruck veränderte sich und sie sah wieder zu ihrem Bruder.
„Na gut...", sagte sie leise.
„Komm Jari!", sagte Skafid scharf und wies den Krieger aus der Halle. Jari dagegen holte schon Luft, um etwas zu sagen, doch Skafid fiel ihm ins Wort, „Lass die zwei miteinander reden!"
Er packte den kahlköpfigen Zwerg und bugsierte ihn durch die Tür.
„Was willst du von mir?", fragte Fenja feindselig und wandte sich Thrain zu, die Arme vor der Brust verschränkt.
„Mich entschuldigen... Dich um Verzeihung bitten... Versuchen, dich mir zu erklären... Und dich fragen, was ich tun kann, damit du mir vergibst.", sagte Thrain leise und ging langsam auf sie zu.
Fenja war genau wie Frerin und Rhon schnell erwachsen geworden. Das Kindliche in ihrem Gesicht war verschwunden, bei ihr noch mehr als bei den beiden Brüdern. Ein Schatten lag in ihren Augen, der Thrains Herz vor Sorge verkrampfen ließ.
„Warum sollte ich dir vergeben?", fragte sie hart, „Du hast uns im Stich gelassen!"
Er senkte den Blick. „Ich weiß... Und nichts, was ich sage oder tue wird das ändern können. Ich kann die Vergangenheit nicht ungeschehen machen, Fenja. Ich kann dir nur sagen, dass es mir schrecklich leid tut.", erwiderte er.
Seine Schwester schwieg. Schließlich drehte sie sich weg und begann, ihre Trainingsmaterialien weg zu räumen.
„Jari hält dich für einen Verräter...", begann sie, „Er ist voller Wut. Skafid dagegen..." Sie hielt inne und ihre Stimme wurde mit einem Mal weicher, „Skafid sagt, wir sollen dich nicht verurteilen ohne deine Seite der Geschehenisse zu kennen."
Thrain antwortete nicht. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
Fenja sah wieder zu ihm.
„Weißt du überhaupt, was wir durchgemacht haben?", rief sie, „Das Gerede, nachdem du weg warst... Vater und Mutter voller Verzweiflung... Sie haben wochenlang nicht miteinander geredet!" Ihre Stimme wurde lauter und lauter. „Frerin, der plötzlich Thronfolger war! Ich habe ihn nie so unglücklich erlebt! Rhon, der mit einem Mal sich in einen riesigen Berg von Arbeit hinein stürzte!" Nun schrie sie. All das Elend, all den Zorn schrie Fenja sich von der Seele. Und Thrain stand da, Tränen in den Augen und wusste nicht, was er erwidern sollte.
„Und dann wurden wir angegriffen! Ein Nazgul stand plötzlich vor dem Erebor! Immer mehr Feinde fielen in unser Land ein! Plötzlich versanken wir im Krieg! Daín ist tot! Mutter wurde entführt und ist fast gestorben! Und wo warst du?"
„Mutter...?", echote Thrain entsetzt. Was war passiert? Was hatte man der Königin angetan?
Doch Fenja achtete nicht auf ihn.
„Wir kämpfen seit Monaten um unser Überleben!", schrie sie, „Und du treibst dich irgendwo in Mittelerde herum!"
Wütend gestikulierte sie in seine Richtung und dabei fiel Thrain eine Lederbandage an einer ihrer Hände auf. Es fehlten zwei Finger...
„Fenja!", rief er entsetzt auf, „Deine Hand..."
Seine Schwester verstummte und warf ihm einen zornigen Blick zu. Dann drehte sie sich um und senkte den Blick zu Boden. „Ich wurde verletzt...", sagte sie leise.
Mit einem raschen Schritt war Thrain bei ihr, griff nach der Hand und barg sie in der seinen. Voll Grauen sah er auf die Verstümmelung, die seine kleine Schwester hatte erdulden müssen.
„Oh Fenja...", flüsterte er mit brüchiger Stimme, „Es tut mir so entsetzlich leid..."
Da begannen die Schultern der Kriegerin plötzlich zu beben. Sie sah ihn an, Tränen floßen über ihre Wangen.
„Ich... Ich habe so viele Kämpfe gesehen, Thrain.", flüsterte sie zitternd, „Meine Hand... So viele starben um mich her... Und ich bin nun ein Krüppel."
Sacht zog Thrain sie in eine Umarmung und Fenja sackte gegen ihn, schlang die Arme um ihn und hielt sich fest.
„Ich sah, wie ein ganzes Dorf abgeschlachtet wurde... Die Bilder stehen mir immer noch vor Augen, wenn ich schlafen will. Nie werde ich das vergessen... Dieser Krieg hat so viel Grausamkeit und Leid über unser Volk und so viele andere gebracht. Und ich finde keine Ruhe mehr..."
Voller Kummer barg Thrain seine Schwester in den Armen und streichelte ihr sanft den Kopf. „Alles wird gut, Fenja.", sagte er sanft, „Ich bin wieder zurück."
Mit klopfendem Herzen näherte Thrain sich dem Kaminzimmer, in dem seine Familie sich schon seit Jahrzehnten zum Essen traf, wenn noch Freunde oder Gäste dazu geladen waren.
So viele Zwerge würde er nun wiedersehen, zum ersten Mal seit über einem Jahr wieder mit seiner Familie zusammen essen... Wild wirbelten seine Gedanken umher, während er mit raschen Schritten zum Abendessen eilte.
Schließlich erreichte er die letzte Abbiegung und stand vor der Tür zum Kaminzimmer. Die gemurmelten Unterhaltungen drangen durch diese zu ihm hindurch. Einen Moment verharrte er, unschlüssig, gespannt und erwartungsvoll, dann öffnete er.
Das Herz ging ihm über vor Freude, als er die Versammelten erblickte.
Sie waren fast alle da.
Am Kopfende der langen Tafel saßen seine Eltern, die beide mit einem glücklichen Lächeln zu ihm blickten. Seine Mutter stand sofort auf und kam auf ihn zu. Neben ihnen waren Fenja und Frerin. Reichlich verwirrt stellte Thrain fest, dass Skafid neben seiner Schwester saß. Was machte er hier? Und wenn er hier war, warum war Jari dann nicht auch anwesend?
Fili, Kili und Tauriel waren auch anwesend. Voller Freude blickte Thrain zu seinen beiden Vettern, wo seine Tante Dís gerade aufstand, um ihrer Schwägerin zu folgen, Thrain zu begrüßen.
Dwalin saß da und bei seinem Anblick durchzuckte Thrain einen Stich der Trauer, als er Balin gedachte. Bei dem besten Freund seiner Eltern saßen Bombur und Bofur, die beide blaß und verloren aussahen. War etwas passiert? Und dort waren Dori und Gloin, ins Gespräch vertieft mit zwei Zwergen, die Thrain fremd waren. Doch als einer der beiden den Kopf ihm zuwandte, erkannte er auf einmal den schwarzgewandteten Zwergenkrieger, der bei der Flucht aus Thal an seiner Seite gewesen war.
Am anderen Ende des Tisches, seinen Eltern gegenüber, saß König Brand aus Thal, an seiner Seite die hochschwangere Kelra.
„Thrain!", erklang da die Stimme Lyranns. Er drehte sich um und wurde augenblicklich von seiner Mutter in eine feste Umarmung geschlossen. Sie strahlte ihn an. „Ich kann immer noch kaum glauben, dass du wieder bei uns bist!", sagte sie und fuhr über seine Arme, wie um sich zu versichern, dass er tatsächlich vor ihr stand.
„Thrain, mein Lieber!", rief ihn da Dís und schloss ihn ebenfalls fest in die Arme. Kurz hielt sie ihn ein Stück von sich weg, um ihn ausgiebig zu mustern. „Du hast dich sehr verändert.", stellte sie fest, der Blick hing an der Narbe, die sich noch immer deutlich erkennbar über sein Gesicht zog. Doch er ahnte, dass sie nicht nur das Äußere meinte. Er nickte, „Ich bin nicht mehr der Thrain, der den Erebor im Zorn verließ."
Nun erhoben sich auch andere. Fili, Kili und Tauriel waren rasch bei ihm und die Vetter umarmten einander. „Es ist gut, dich wieder hier zu haben, Thrain!", sagte Kili grinsend. Fili und Thrain tauschten einen langen Blick und der Blonde nickte ihm schließlich zu. Lange Gespräche würden zwischen ihnen noch bevorstehen, das ahnte Thrain, bis das alte Verhältnis zwischen ihnen wieder bestehen würde.
Gemeinsam mit seiner Mutter ging Thrain zu den alten Gefährten seiner Eltern, die er glücklich begrüßte. Sein Blick fiel auf Dwalin. „Dwalin...", begann er leise, doch der Krieger winkte ab. „Ich habe bereits von Balins Tod erfahren, Thrain.", sagte er, unglaublich tiefe Trauer in der Stimme. Sie sahen einander an. „Balin weilt nun in den Hallen unserer Väter.", erwiderte Thrain nun, „Ich zweifel nicht daran, dass er an ihrer Festtafel einen Ehrenplatz gefunden hat."
Dann sah er zu Bofur und Bombur. Ein ungutes Gefühl stieg in ihm auf. Bifur hatte in Thal gelebt. Fragend suchte er den Blick der anderen. Kili sah zu ihm und schüttelte mit trauriger Miene den Kopf. Schmerzvoll zog sich Thrains Herz zusammen, als er an den Spielzeugmacher dachte, der nun eines der vielen Opfer des Krieges geworden war.
„Thrain!"
Brands Stimme drang da zu ihm hinüber. Der König von Thal hob grüßend einen Kelch in die Höhe. Mit einem Neigen des Kopfes erwiderte Thrain den Gruß. „Brand, Kelra!", erwiderte er, mit einem Lächeln an die Krönung des jungen Königs zurück denkend, „Es ist gut zu sehen, dass ihr unversehrt seid."
„Utarth und Kharyur!", wandte seine Mutter da das Wort an die beiden Zwerge, die Thrain aufgefallen waren. „Ihr erinnert euch an unseren erstgeborenen Sohn, Thrain, Thorins Sohn, Thrains Sohn, den Thronerben des Erebor."
Die beiden Zwergenfürste erhoben sich und mit Staunen erkannte Thrain, dass er am Morgen dieses Tages Seite an Seite mit dem König der Schwarzschmiede gekämpft hatte.
„Du bist also zurück gekehrt, Thrain.", sagte dieser nun, „Hoffen wir, dass du nie wieder deine Familie im Stich lässt."
„Er ist zurück gekehrt, Kharyur!", warf der rothaarige Utarth ein, „Das ist das, was zählt!"
Nach dieser Begrüßung gingen Thrain und Lyrann zu ihren Plätzen, wo sie sich niederließen. „Es ist so schade, dass Rhon nicht bei uns ist.", sagte Lyrann traurig, „Endlich wären wir alle wieder zusammen."
„Ich habe ihn gesehen, Rhon.", warf Thrain ein und sofort drehten sich alle Köpfe der Familie ihm zu.
„Geht es ihm gut?", fragte sein Vater sofort drängend. Thrain nickte mit einem Lächeln. „Er kämpft zusammen mit den Elben Thranduils. Eine Kriegerin namens Amaya weicht ihm kaum von der Seite.", erwiderte er, „Ich bin mir sicher, dass es ihm gut gehen wird."
Erleichterung machte sich unter den anderen breit. Skafid und Fenja tauschten einen Blick und der blonde Freund Thrains legte sachte seine Finger um Fenjas Hand.
„Skafid...?", fragte Thrain mit hochgezogenen Augenbrauen. Sein Blick kreuzte den seiner Schwester, die ihn mit einem kurzen Schulterzucken angrinste.
„Wusstest du davon?", wandte Thrain sich an seinen Vater, der lachte leise. „Sicher", erwiderte Thorin und nickte Skafid kurz zu. Thrain schnaubte und wandte sich seinem Freund zu. Drohend hob er das bereit liegende Silbermesser. „Wir unterhalten uns noch!", sagte er mit gespielter Drohung. Doch der Blick, den er dem Krieger zuwarf, war nicht gespielt. Er hatte über ein Jahr lang seine Schwester nicht beschützt. Das würde er nun ändern.
„Wo ist Minna?", fragte er seine Mutter, als ihm plötzlich die Abwesenheit seiner Amme auffiel. Lyrann senkte unglücklich den Blick. „Sie ist im letzten Sommer gestorben, Thrain.", erklärte sie leise.
Thrain keuchte auf. Wie viele würden sie noch verlieren? Balin, Ori, Oin, Daín, Bifur und Minna, wer würde noch in diesem Krieg fallen?
Kummer fraß sich in ihn. Minna war wie eine weitere Tante für ihn gewesen, immer hatte er zu ihr kommen können, immer hatte sie Verständnis gehabt. So sehr hatte er sich auf ein Wiedersehen mit ihr gefreut.
Er fühlte die Hand seiner Mutter sanft auf seiner Schulter. „Ich zeige dir morgen ihr grab, Thrain.", sagte sie leise.
Da schob Thorin seinen Stuhl nach hinten und erhob sich. Mit einem Räuspern hob er sein Glas.
„Heute hat der Feind Thal erobert.", begann er mit ernster Stimme, „Die Streitkräfte Saurons und Khamuls stehen nun bald vorm Erebor. Noch sind sie nicht bis vor unsere Tore gekommen, sondern befestigen ihre Position in der Stadt der Menschen. Das Ende ist nahe, auch wenn noch nicht feststeht, wessen Ende."
Schweigen kehrte ein. Bedrückt sahen die meisten zu Thorin, auf dessen Gesicht aber plötzlich ein breites Lächeln zurück kehrte.
Er legte eine Hand auf Thrains Schulter und sah ihn voller Wärme an.
„Doch heute feiern wir. Denn unser Sohn, Thrain, ist endlich wieder nach Hause zurück gekehrt. Für mich soll es ein Zeichen der Hoffnung sein, dass Mahal uns geschickt hat. Nicht alles ist verloren und wir werden weiter kämpfen. Auf Thrain! Auf unser Volk!"
Er hob seinen Kelch in die Höhe und die Versammelten taten es ihm gleich.
Wärme durchflutete Thrains Herz, endlich war er wieder bei seiner Familie.
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