Thrains Entschluss
„Tarl!", riss ihn Evolets Stimme aus seinen Grüblereien. Er drehte sich um und sah die Bäuerin im Türrahmen stehen. Der helle Schein aus der Stube fiel über den kleinen Vorplatz des Hofes, der mittlerweile in nächtlicher Dunkelheit lag. „Das Essen ist fertig!", sagte Evolet und ging wieder hinein.
Rasch nahm Thrain seine Schnitzarbeit an sich und lief zum Haus. In der Stube schob er unauffällig die Haarnadel unter sein Bettzeug und nahm am großen Tisch Platz, wo Gringorn und Jolinda bereits saßen. Das Mädchen sah ernst zu Thrain, als dieser neben ihr Platz nahm. Er lächelte ihr beruhigend zu, doch konnte er die Sorgenfalten auf ihrer jungen Stirn nicht ganz vertreiben. Auch der Vater sah schweigsam auf die Tischplatte, während Evolet und Geron das Essen auftrugen.
Der Frühling hatte dafür gesorgt, dass sie ihren Speiseplan nun etwas bereichern konnten. Und so servierte Evolet zwei frisch gebackene Fische aus dem Anduin, dazu ein Omelett aus Wildvogeleiern und feinem Bärlauch aus dem umliegenden Wald. Thrain seufzte leise. Unter anderen Umständen hätte er sich über dieses Mahl gefreut, denn nach dem langen Winter war ihm die karge Kost aus Getreidebrei und Kohl fade geworden. Zwar würde es noch dauern, bis der Speiseplan wirklich reichhaltig wurde, aber erst am vorigen Abend hatten sie sich gefreut, dass der Spinat im Gemüsegarten so prächtig gedieh und bald erntereif war.
Nun jedoch war die Stimmung gedrückt und jeder aß mit traurigem Blick von seinem Teller. Worte wurden kaum gewechselt. Mit leisen Worten ließ Gringorn seine Frau wissen, wie trefflich ihr der Fisch gelungen war. Doch keine fröhlichen Witze wurden dieses Mal bei der Tafel gerissen.
Jeder hing seinen Gedanken nach und zum ersten Mal seit langem fühlte Thrain sich wieder wie ein Außenseiter. Ihm war klar, dass die drohende Isolation von ihrem Volk Evolet und Gringorn Kopfzerbrechen bereitete.
„Das kann doch nicht sein!", durchbrach Geron plötzlich die Stille. Seine Faust flog auf das Holz des Tisches. „Wir können doch nicht zulassen, dass sie Tarl so behandeln!"
„Und was schlägst du vor, Junge?", fragte sein Vater gereizt, „Willst du auf Valkalds Hof laufen und ihn mit deinen Schwertkünsten beeindrucken? Er würde dich zerfetzen, von seinen Geschwistern ganz zu schweigen."
Er stützte den Kopf schwer in die Hände. „Nein, sie können wir nicht überzeugen. Ich könnte mit Jolinda zu Grimbeorn, Beorns Sohn, ziehen und ihn bitten, sie entweder selbst auszubilden oder Valkald umzustimmen. Doch auch er ist Fremden und Zwergen nicht übermäßig zugetan. Nachricht von unserem Gast wird ihn bald erreichen, wenn er es nicht schon weiß.", sagte er leise.
Sein Blick fiel kurz auf Thrain, dem das Blut in die Wangen schoss. „Gringorn...,", setzte er an, „es war nie meine Absicht euch in Schwierigkeiten zu bringen."
Doch der Bauer winkte mit freundlichem Lächeln ab. „Du hast mehrfach das Leben meiner Familienmitglieder gerettet. Dich fortzujagen wäre unehrenhaft und als Teil dieser Familie werde ich dich schützen.", sagte er.
„Ich will nicht fort!", rief Jolinda da plötzlich, „Ich kann auch ohne Hilfe lernen, in Bärenfell zu gehen! Ich kann es doch bereits!" Tränen hatten sich in ihren Augen gebildet und sie klammerte sich an Thrain. „Warum mögen sie dich denn nicht?", fragte sie.
Thrain senkte den Blick. „Sie geben uns die Schuld, dass Orks und anderes Untier auf euer Land kommen und sie sich immer wieder zur Wehr setzen müssen. Tapfere Kämpfer sind sie, wenn ein Ork vor ihnen steht und meines Wissens nach hat noch kein Ork überlebt, der es wagte, sich in das Land der Beorninger vor zu wagen. Doch Angst haben sie vor allem Fremden. Aber von ihnen kannst du viel lernen, musst du lernen. Es ist wichtig, dass du ausgebildet wirst, kleine Jolinda."
Stumm sah das Mädchen sich um. Niemand sprach. Eine Lösung wollte keinem so recht einfallen.
Einige Zeit später lag Thrain wach auf seinem Lager. Seine Augen blickten in die Schwärze über sich, in der seine zwergischen Augen mühelos das hölzerne Gebälk erkennen konnten.
Es war ihm eigentlich schon seit den Worten Valkalds klar gewesen, doch nun sickerte die Erkenntnis zu ihm durch. Er konnte nicht hier bleiben. Seine Anwesenheit gefährdete den Schutz, den die Familie durch ihr Volk erfuhr und Jolindas lebenswichtige Ausbildung.
Schritte ließen den hölzernen Boden knarren. Im Zwielicht sah er Evolet, die sich ihren Weg in die Küche tastete.
Mit tiefem Atemzug fasste er seinen Entschluss. Ein Gefühl schnitt ihm in die Brust, als würde sein Herz in Stücke gerissen. Er würde fortgehen, bald, morgen schon. Wartete er, würde er die unschöne Situation nur verlängern.
Wie sehr er sie alle vermissen würde! Gringorn, den liebevollen Vater, der seine Familie und auch ihn um jeden Preis schützen wollte, die resolute Evolet, die ihn wie einen kleinen Bruder behandelte und umsorgte. Jolinda und Geron, die ihn bewunderten und kaum von seiner Seite wichen.
Stöhnend presste er das Gesicht in die Hände. Warum hatte er seinen Gefühlen für diese Menschen so freien Lauf gelassen? Und wie sollte er es ihnen sagen?
Das leise Klappern aus der Küche holte ihn aus seinen Gedanken. Besser, er brachte es gleich hinter sich. Leise schwang er sich aus dem Bett.
In der dunklen Küche tastete Evolet gerade nach dem kalten Kräutertee, um sich einen Becker zu füllen. Sie fuhr herum, als sie ihn nahen hörte. „Lass mich dir helfen.", sagte Thrain leise und griff zielsicher nach dem Krug.
Wenig später drückte er der Bäuerin den gefüllten Becher in die Hand. Stumm sahen sie einander an, auch wenn Thrain ahnte, dass Evolet nur seinen Schemen gegen das Fenster sehen konnte. Sie sah abgespannt aus, die Sorgen des Tages waren nur allzu deutlich in ihren Augen zu sehen. Was er sah, bestätigte ihn nur in seinem Vorhaben. Das Wissen, das Richtige zu tun, würde ihm die nächsten Worte erleichtern.
Thrain räusperte sich und sagte dann in die Stille hinein: „Ich werde von hier fort gehen."
Die Frau nickte langsam. Komischerweise wirkte sie kaum überrascht.
„Das dachte ich mir bereits.", erwiderte sie und ein Lächeln voller Zuneigung glitt über ihr Gesicht, dessen Anblick Thrain schmerzlich ins Herz fuhr. All dies wäre ihm leichter, würde er sich nicht so wohl unter den Bauern fühlen.
„Woher wusstest du...?", begann er, doch Evolet fing schon wieder an zu sprechen.
„Du hast heute mehr die Einsamkeit gesucht, als es deine Gewohnheit ist. Ich habe dir beim Essen angesehen, dass du eine wichtige Entscheidung fällst. Außerdem liebst du Jolinda wie eine kleine Schwester und würdest nie zulassen, dass ihr ein Leid widerfährt.", erklärte sie, „Ich ahnte, dass es dir als einzige vertretbare Option erschien."
Thrain senkte den Kopf. Ja, er würde nie zulassen, dass Jolinda etwas passierte, ihr und ihrer ganzen Familie.
„Ich kann es nicht verantworten, dass ihr meinetwegen von eurem Volk verstoßen werdet...", sagte er leise, dankbar, dass seine Stimme nichts von dem Abschiedsschmerz, den er bereits jetzt verspürte, preis gab. „Es werden noch mehr Orks aus den Bergen kommen, ihr braucht den Schutz der anderen Dörfer und Gehöfte. Ihr habt mir mehr Freundlichkeit erwiesen, als ich zu hoffen wagte. Daher werde ich weder euch noch Jolinda mit meiner Anwesenheit in Gefahr bringen, so schwer mir dieser Abschied auch fallen wird. Morgen werde ich bereits fort gehen."
Evolet schüttelte den Kopf. „Bleib noch einen oder zwei Tage. So kann ich dir ausreichend Vorräte mitgeben, dass du auf einige Zeit versorgt bist.", sagte sie freundlich. Mit einer Hand berührte sie ihn sacht an der Schulter. „Nicht nur dir wird der Abschied schwerfallen, Tarl."
„Du darfst nicht gehen! Du darfst einfach nicht gehen!" Mit tränennassem Gesicht klammerte sich Jolinda an dem am Boden knieenden Thrain fest. Schweren Herzens hielt der Zwerg das aufgewühlte Mädchen im Arm.
Zwei Tage hatte er, wie Evolet ihn gebeten hatte, noch mit seinem Aufbruch gewartet, auch wenn er bereits am nächsten Morgen seine Entscheidung verkündet hatte. Jolinda war schon da in Tränen ausgebrochen, Gringorn hatte still und fast dankbar für die Entscheidung genickt und Geron hatte sich traurig und nachdenklich zurück gezogen.
Evolet hatte die letzten zwei Tage gut genutzt. Sie hatte ihm frisches Brot aus dem letzten Winterweizen gebacken, Fische und das Fleisch zweier erlegter Enten geräuchert, sowie einige Eier eingekocht. Aus dem allerersten Honig des Frühlings, von dem es noch wenig gab, hatte sie ihm ihre wunderbaren Honigkuchen gebacken. Da die Speisekammer im Frühling recht leer war, konnte sie ihm keine üppige Wegzehrung zur Verfügung stellen, aber er war ihr für jedes bisschen dankbar.
Geron hatte sich recht bald von seinem Schock erholt und noch einige letzte Schwertstunden von Thrain eingefordert, die dieser nur zu gerne erteilte. Die kleine Jolinda jedoch hatte sich tief traurig die meiste Zeit im Ziegenstall verkrochen und hatte mit niemandem sprechen wollen.
Nun, da der Morgen des Abschieds gekommen war, wollte sie Thrain einfach nicht loslassen. Verzweifelt schluchzend bettelte sie ihn an, doch zu bleiben. Sie blickte zu ihrem Vater: „Papa, sag Tarl, dass er nicht gehen muss! Er hat doch kein Zuhause, wo soll er denn hingehen!"
Doch Gringorn schüttelte nur traurig den Kopf und tauschte einen langen Blick mit dem Zwerg. Dieser schob das Mädchen mit sanfter Gewalt von sich, wischte sacht mit dem Daumen die Tränen von ihren Wangen und umschloss ihre Hände mit den seinen.
„Jolinda...", sagte er leise, „Ich kann hier nicht bleiben."
„Dann komm ich mit dir!"
Eindringlich sah er sie an. „Es gibt nichts Wichtigeres, als dass du lernst, deine Gabe zu beherrschen, von deinem Volk lernst. Ich will nicht, dass dir etwas zustößt. Außerdem, ist dein Platz hier, das ist deine Heimat. Meine Heimat...", kurz zögerte er, verwirrt, wo er eigentlich hin gehörte, sein Leben im Erebor schien einer anderen Zeit anzugehören, „... ist woanders."
Seufzend fuhr Thrain fort: „Du wirst mir so sehr fehlen, aber ich werde dich niemals vergessen." Er spürte, wie ihm etwas die Kehle zudrückte. Fest sah er dem Mädchen in die Augen, das wieder angefangen hatte zu schluchzen.
„Du bist doch mein bester Freund!", rief sie aus.
„Und das werde ich immer sein, hier drin.", sagte er leise und legte ihr eine Hand ans Herz. „Versprich mir, dass du lernen wirst, ja?", bat Thrain leise.
Schniefend nickte sie. Thrain lächelte liebevoll und stand auf. Sein Blick fiel auf Gringorn. Ihm fehlten die Worte, all die Dankbarkeit, die er empfand, auszudrücken.
„Hab Dank, Gringorn, für alles, was ihr für mich getan habt.", sagte er schließlich und umfasste die dargebotenen Hände des Bauern. All den Dank, all seine Gefühle versuchte er unausgesprochen in seine Augen zu legen.
„Wir müssen dir danken, Tarl. Du hast mir und Jolinda das Leben gerettet.", der Bauer hielt kurz inne, „Wohin wirst du nun gehen?"
„Nach Süden.", erwiderte Thrain mit einem Lächeln, „Die Lande sollen mild und weit sein dort."
Gringorn nickte. „Möge Aule über dich wachen, mein Freund.", sagte er dann bewegt.
Evolet trat heran, in ihren Augen glitzerte es verräterisch. „Hier!", sagte sie und hielt ihm ein Bündel hin, „Ich habe gesehen, dass du keine ordentliche Decke in deinem Gepäck hast." Thrain öffnete das Bündel und blickte voller Rührung auf eine gefilzte Decke aus rotem Stoff hinab.
„Danke...", brachte er hervor, die Stimme rau und belegt. Dann griff er in seinen Beutel und zog seinerseits seine Geschenke hervor. „Es erschien mir undankbar, ohne ein Geschenk Abschied zu nehmen. Ich wollte euch für alles danken.", erklärte er etwas unbeholfen und reichte Evolet die Haarnadel, Gringorn seine Pfeife, Geron den Gürtel und Jolinda die Flöte.
Ohne Umschweife schlang Evolet die Arme um ihn und zog ihn in eine feste Umarmung. „Du bist immer hier willkommen, Tarl!", sagte sie tränenerstickt. Dieser nickte und löste vorsichtig die Umarmung.
Er ging zu Geron, der stumm auf den Waffengürtel hinab sah. „Lebwohl, Geron, Gringorns Sohn!", sagte Thrain sanft, als der Junge ihn ansah. Er lächelte stolz. „Du hast viel in den letzten Wochen gelernt, was mich sehr stolz macht. Übe weiter, was du gelernt hast und du wirst ein guter Kämpfer werden. Beschütze deine Familie!" Dann ergriff er die Hand des Jungen zum Abschied.
„Lebwohl, Tarl.", erwiderte Geron voller Traurigkeit, „Danke, danke für alles."
Thrain stand da und sah zu der Familie, die ihm wie eine eigene geworden war. Aber so sehr er sie auch liebte, er war kein Bauer der Beorninger. Er gehörte hier nicht hin, es zog ihn fort.
„Lebt wohl!", sagte er bewegt, „Möge Mahal euch eure Güte vergelten und euch behüten!"
Ein letztes Mal strich er sanft über Jolindas Kopf und lächelte zu dem Mädchen hinab, das tapfer zurück lächelte, auch wenn sie die Tränen nicht ganz zurückhalten konnte.
Dann wandte er sich ab und ging schweren Schrittes davon. Der Wald, der den Hof Gringorns umgab, näherte sich und als er die ersten Bäume erreicht hatte, drehte er sich um und hob eine Hand zu einem letzten Gruß.
Die vier winkten ihm zu. Schließlich verschluckten die Bäume den Zwerg.
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