Minna
Die beiden Frauen folgten einem der vielen Gänge des Erebor, der sich über eine tiefe Grotte unter ihnen spannte. So manch andere Zwerge begegneten ihnen und wichen respektvoll ein Stück zurück und neigten den Kopf.
In Gedanken versunken achtete Lyrann kaum auf die Zwerge, die ihrer Königin Platz machten. Sie hatte den Nachmittag auf den Feldterrassen des Berges verbracht, wo sie die Aussaat der Feldfrüchte begutachtet hatte. Dies war von äußerster Wichtigkeit, sicherte es doch den Zwergen eine gewisse Unabhängigkeit im Winter und sowohl in Zeiten des Krieges wie des Friedens musste sie sich darum kümmern.
Da sie nun am Abend eine Verabredung mit den Kommandanten der königlichen Wache hatte, um zu bereden, wie viele der Soldaten für den Dienst an der Front abgezogen werden könnten, hatte sie Minna gebeten, sie rechtzeitig abzuholen.
Mit ihrer treuen Dienerin und Freundin nur einen halben Schritt hinter ihr laufend, war sie nun auf dem Weg in ihre Gemächer, um sich auf das Treffen vorzubereiten.
Am Rande ihres Gesichtsfeldes nahm sie eine Gruppe Zwerge wahr, doch beachtete sie nicht weiter, im Gedanken schon bei Listen von Einheiten, Waffen und Vorräten für die Front, Meldungen von Gefallenen und Verwundeten, sowie gewonnenen oder verlorenen Kämpfe und den steigenden Zahlen verwundeter Soldaten, die in den Erebor gebracht wurden.
Doch anders als alle anderen, gingen diese Zwerge ihr nicht aus dem Weg. Verwundert stoppte Lyrann und hob den Blick. Sie sah direkt in Zahinas Augen. Provokant stand die Adelige vor ihr, mittig auf dem Weg, umgeben von einigen Freunden, und machte keinerlei Anstalten, der Ranghöheren Platz zu machen.
Lyranns Hände ballten sich zu Fäusten, während Zahinas Blick abschätzig über sie glitt. Da sie draußen auf den Feldern gewesen war, trug die Königin nur ein einfaches Kleid aus grünem Leinen, voller Erdflecken und kleiner Löcher.
„Wollt ihr etwas von eurer Königin?", fragte Lyrann kühl die Zwergin.
„Oh nein, eure Majestät.", erwiderte Zahina zuckersüß, wobei sie das Wort Majestät besonders betonte, knickste kurz und gab den Weg frei.
Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, rauschte Lyrann an ihr vorbei und machte sich daran, eine Treppenflucht zu erklimmen, die sie direkt zu den königlichen Gemächern bringen würde.
Dass ihre Dienerin zurück fiel, bemerkte Lyrann erst, als sie die obersten Stufen erreicht hatte. Verwundert drehte sie sich um und ein liebevolles Lächeln glitt über ihre Züge, als sie sah, dass Minna noch einige Stufen unter ihr die Treppe hinauf stieg.
Nach Atem ringend erreichte Minna schließlich ihre Herrin, die Hände in der Hüfte aufgestützt blieb sie kurz stehen und lächelte entschuldigend. „Ich bin nicht mehr die Jüngste, mein Kind.", meinte sie.
„Ach was...", erwiderte Lyrann, doch leugnen konnte sie Minnas hohes Alter nicht. Die Zwergin war schon nicht jung gewesen, als Thorin sie in Lyranns Dienste gestellt hatte.
Nun war das Haar Minnas vollkommen ergraut, ihr Gesicht voller Falten und die Finger zeigten deutliche Anzeichen von Arthrose. Auch war der Gang von Lyranns engster Vertrauten nicht mehr ganz so energisch und seit einigen Wochen schien sie zunehmend an Kraft zu verlieren.
Geduldig wartete Lyrann, während die Freundin zu Atem kam, dann gingen sie in gemütlichem Tempo weiter. Rhon kam ihnen entgegen und lächelte Mutter und Amme freundlich zu, als sie den königlichen Flügel erreichten. „Mutter!", rief er.
„Dwalin war eben hier und hat nach dir gesucht.", erzählte er, „Er kann heute Abend nicht zu dem Treffen mit den Kommandanten dazu kommen. Vater hat ihn auf eine dringende Mission geschickt, eine der Festungen an der Rotwasser wurde überwältigt und Brand hat sofort einen Gegenangriff angeordnet, dem sich unsere Truppen anschließen werden."
Lyrann seufzte leise und nickte. Dwalins Anwesenheit war ihr immer willkommen und sie hatte sich eigentlich gefreut, den Freund zu sehen. Durch die vielen Kämpfe in Norden und Osten war er nur selten im Berg und so hatten sie nur wenig Gelegenheit, Zeit miteinander zu verbringen.
„Danke Rhon.", sagte sie warm und nach einem flüchtigen Kuss auf die Wange, ging sie in ihr und Thorins Appartement.
Dort angekommen schälte sie sich aus dem schlichten Leinenkleid und begann, sich den Dreck der Felder von der Haut zu schrubben. Sie konnte hören, wie Minna in ihrem Schlafzimmer herum räumte, um ein frisches Kleid für den Abend auszusuchen. Die Kleiderwahl überließ Lyrann immer häufiger ihrer Dienerin, die mittlerweile ein gutes Gespür dafür hatte, eine Balance zwischen der Vorliebe ihrer Herrin für bequeme Kleider und dem der Situation angemessenen Prunk zu finden.
So hatte sie heute ein Kleid aus dunklem, fast schwarzem Stoff ausgesucht, dessen einziger Schmuck silberne Stickereien auf dem weiten Rock waren.
Mit routinierten Bewegungen half Minna ihrer Herrin in das Kleid. Die Handgriffe der beiden Frauen gingen fließend ineinander über, kein Wort war vonnöten. Über die vergangenen Jahrzehnte hatten sich beide perfekt aufeinander eingespielt.
Mit einem Mal wandte Minna sich ab und ein plötzlicher Hustenanfall schüttelte die Dienerin. Krampfhaft zog sich ihr Oberkörper zusammen und sich einen Zipfel ihrer Schürze vor den Mund haltend, ging sie ein paar Schritte von der Königin weg.
Voller Sorge eilte Lyrann, das Kleid teilweise noch offen, zu einer Kommode auf der immer eine von Minna gefüllte Wasserkaraffe stand. Sie füllte einen der reich verzierten Silberbecher mit kaltem Wasser und reichte ihrer Dienerin, deren Husten sich mittlerweile beruhigt hatte, den Kelch.
„Danke.", murmelte Minna.
„Geht es dir gut?", fragte Lyrann. Die alte Frau nickte und trank in kleinen Schlucken von dem Wasser.
Sie stellte den Becher beiseite und machte Lyrann ein Zeichen, sich wieder umzudrehen, damit sie das Kleid fertig schnüren konnte.
Während sie Lyrann liebevoll frisierte, beobachtete diese die ganze Zeit ihre Dienerin durch den Spiegel ihres Frisiertisches. Hatten Minnas Hände schon immer dieses leichte Zittern gezeigt? War es ihr schon früher schwer gefallen, die kleinen mit Edelsteinen verzierten Haarnadeln zu greifen? Und hatte sie schon immer so schwer geatmet, wenn sie Lyranns Locken mit der Bürste entwirrt hatte?
„Was schaust du so streng?", fragte Minna sanft.
Lyrann lächelte, aber antwortete nicht. „Mach dir keine Sorgen, Lyrann!", fuhr Minna in munterem Ton fort, „Das bisschen Husten ist nicht schlimm."
Als die Zwergin fertig war, erhob sich Lyrann und griff Minnas Hände. „Geh ruhig nach Hause, Minna.", sagte sie warm und legte alle Zuneigung, die sie für Minna hatte, in ihre Stimme, „Ich brauche dich heute nicht mehr." Sie beugte sich vor und küsste die Zwergin auf die Stirn, die ihre Herrin mit strahlenden Augen musterte, schließlich nickte und den Raum verließ.
Lyrann indessen ging in ihr Arbeitszimmer und ordnete die Unterlagen auf ihrem Schreibtisch, bereit für die anstehende Besprechung.
Am nächsten Morgen saßen Lyrann und Thorin beim gemeinsamen Frühstück. „Kannst du mir bitte das Brot reichen, Liebste?", fragte der König unter dem Berge sanft und Lyrann, die die ganze Zeit mit einem Auge nach der Tür spähte, zuckte überrascht zusammen.
„Sicher...", murmelte sie zerstreut, griff nach dem Korb mit Brot und gab ihn ihrem Mann. Der beobachtete sie mit zusammen gezogenen Brauen und fragte dann: „Ist gestern Abend bei der Unterredung mit den Kommandanten unserer Wache etwas vorgefallen, mein Juwel?"
„Oh nein, da war alles in bester Ordnung.", erwiderte Lyrann, nahm einen Schluck von ihrem geliebten Kräutertee mit Honig und schnitt sich etwas von dem bereit liegenden Käse ab. „Zwei Drittel unserer Wachen werden in den nächsten Tagen die südlichen Positionen an der Rotwasser verstärken. Und wir verzichten auf einen deutlichen Teil unserer Leibgarde.", berichtete sie.
Thorin nickte und biss genüsslich von seinem Brot ab, das er sich eben liebevoll mit Schinken belegt hatte. „Ich bin sowieso der Meinung, dass die Menge an Wachen, die uns überall hin folgen, etwas übertrieben ist.", meinte er, „Die Kampfkraft kann gut woanders verwendet werden, wo sie nötiger ist. Wir beide sind hier im Berg sicher."
Lyrann nickte abwesend. Ihre Hand mit einem Stück süßen Brot in der Hand hielt auf der Hälfte des Weges inne, als ihr Blick wieder zur Tür ihres Gemaches wanderte.
„Lyrann?", fragte Thorin nun mit leichter Sorge in der Stimme. Er beugte sich vor und griff nach ihrer freien Hand. „Liebling? Was ist?"
„Minna...", erwiderte Lyrann und merkte, wie sich tiefe Sorge in ihr ausbreitete. „Sie hätte längst kommen müssen. Normalerweise ist sie da, bevor wir mit dem Frühstück beginnen. Gestern ging es ihr nicht gut..." Ihre Stimme verklang und ihre Augen suchten Thorins.
„Sie ist so alt...", sagte sie leise.
Mitfühlend drückte Thorin ihre Hand. „Sie wird sicher bestimmt bald hier sein.", sagte er und küsste sacht ihre Fingerspitzen. Dann erhob er sich und leerte seine Tasse mit einem Zug.
„Ich muss los, Lyrann. Die neuen Anfertigungen unserer Schmiede müssen inspiziert werden und ich lasse einige Quartiere für mögliche Flüchtlinge vorbereiten. Sehen wir uns heute bei der Ratssitzung?"
Lyrann nickte und erhob sich. Voller Liebe lächelte Thorin sie an und schloss die Arme um sie. Genießerisch lehnte sie den Kopf an seine Schulter und erwiderte die Umarmung. Einen Moment standen sie einfach nur so da und hielten einander fest, dann löste Thorin sich bedauernd aus ihren Armen.
Voller Liebe küsste er sie und flüsterte: „Ich liebe dich, meine Königin." Lyrann lachte glücklich. „Ich liebe dich, mein König.", erwiderte sie. Thorin hauchte einen Abschiedskuss auf ihre Lippen und wandte sich schließlich zum Gehen.
Lyrann verbrachte einen äußerst rastlosen Vormittag. Minna tauchte nach wie vor nicht auf und es fiel ihr schwer, sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, war sie doch mittlerweile in höchster Sorge um ihre Freundin.
Stück für Stück arbeitete sie sich durch Berichte von der Front, die sie für den Rat vorbereitete. Schließlich hielt sie es nicht mehr aus. Es war noch einige Zeit, bis sie zur Ratssitzung musste. Kurz entschlossen erhob sie sich, ließ die Pergamente einfach liegen und schritt eiligen Schrittes aus ihrem Gemach.
Ihr Weg führte sie fort von den königlichen Appartements, weit durch den Berg und in einen Bereich, der vor allem von Handwerkern bewohnt war. Hier lebte Minna bei der Familie ihrer Base, da sie selbst nie geheiratet hatte. Mit großen Augen musterten die Zwerge ihre Königin, die hoch aufgerichtet und deutlich in Eile zwischen ihren Behausungen entlang schritt.
Lyrann war ein einziges Mal hier gewesen, lange war es nun her, als Minna die Nachricht erhalten hatte, dass die Tochter ihrer Base in Wehen lag. Kurzerhand hatte Lyrann ihre Dienerin damals begleitet.
Tatsächlich fand sie die einfache Holztür, die die Behausung von Minnas Familie markierte. Kurz entschlossen klopfte sie an. Ein junger Mann öffnete und erstarrte, als er Lyrann vor sich sah.
Mit offenem Mund sah er sie an und eine geraume Zeit verging, bis ihm klar wurde, was er da tat. „Meine Königin!", stammelte er und verneigte sich linkisch.
„Ist Minna hier?", kam Lyrann ohne Umschweife zum Punkt.
Etwas verängstigt trat der Zwerg beiseite und ließ sie ein. Sich mühsam beherrschend, nicht hinein zu stürmen, betrat Lyrann die einfachen Wohnräume. Sie ging an einem Raum vorbei, in dem sie aus dem Augenwinkel mehrere schlichte in den Stein gehauene Betten erkannte und betrat die Stube, die Küche und Wohnraum zugleich schien.
Und dort, zusammengesunken und mit einer sauberen Wolldecke zugedeckt, saß Minna in einem Stuhl am Feuer, wo eine junge Zwergin eine einfache Suppe kochte. Fünf weitere Zwerge, vier davon Kinder, saßen an einem Holztisch und starrten die Besucherin an. Die Behausung war schlicht und ordentlich.
Lyrann trat vor, Augen hatte sie nur für ihre Freundin.
„Minna!", rief sie die Zwergin leise und kniete vor ihr nieder.
Diese hob langsam den Kopf und lächelte Lyrann an. „Lyrann!", sagte sie freudig, „Es tut mir so leid, dass ich nicht gekommen bin. Aber dieser kleine Husten lässt sich nicht abschütteln."
Lyrann tätschelte sanft die Hände der alten Frau. „Du erholst dich in Ruhe, Minna. Ich komme auch ohne dich eine Weile zurecht.", antwortete sie. Doch tiefe Sorge erfüllte sie bei dem Anblick Minnas. Innerhalb einiger Stunden schien sie bereits viel an Kraft verloren zu haben.
Minnas Falten vertieften sich bei ihrem Lächeln noch. „Das stimmt...", sagte sie leise, „Ich weiß noch, wie ich dich kennen gelernt habe. Eine Fremde in diesem Berg warst du, unsicher, ob du wirklich hierher gehörst." Sie strich sacht über Lyranns Wange. „Jetzt bist du schon so lange Königin, hast Familie und brauchst die alte Minna nicht länger. Ich kann nur noch voller Stolz zusehen, wie du und Thorin euer Reich regiert."
Die Augen der Frau wurden traurig. „Wenn ich doch nur Thrain wieder sehen könnte.", flüsterte sie und ein Stich bohrte sich in Lyranns Herz. Ihre Kehle wurde eng und all die Angst und Sehnsucht nach ihrem Ältesten, die sie immer mühsam verdrängt, brach wieder hervor.
„Ich habe Angst um ihn, Minna.", gestand sie mit brüchiger Stimme.
Die Zwergin schüttelte den Kopf. „Er ist dein und Thorins Kind. Du musst keine Angst um ihn haben. Thrain wird es gut gehen, er ist euch beiden sehr ähnlich.", sagte sie warm.
Eine Zeit blieb Lyrann noch bei ihrer Dienerin sitzen, fasziniert von Minnas Familie beobachtet. Schließlich, als Minna müde wurde, erhob sie sich und umarmte die Zwergin. „Ruh dich aus Minna. Ich werde bald wieder nach dir schauen.", sagte sie.
Zu dem jungen Zwerg, der sie herein gelassen hatte, sagte sie im Gehen: „Wenn Minna irgendetwas benötigt, gebt mir bitte sofort Bescheid." Dann verließ sie das Haus.
„Wie?", fragte sie nur leise, als zwei Tage später der gleiche junge Verwandte Minnas mit blassem Gesicht in ihrem Gemach vor ihr stand.
„Im Schlaf.", war die Antwort, „Sie ist an diesem Morgen nicht mehr aufgewacht. Still und friedlich hat Mahal sie zu sich genommen."
Unfähig etwas zu sagen, nickte Lyrann und entließ den jungen Mann mit einem Wink ihrer Hand.
Die Augenblicke verrannen und Lyrann saß noch immer in ihrem Sessel. Ihr Blick ging ins Leere, während ihr Geist sich weigerte, zu verstehen, was er eben gehört hatte. Bilder der Erinnerung jagten durch ihren Kopf.
Minna, die sie tröstete, nachdem Thorin sie von sich gestoßen hatte... Minna, die ihr half, sich auf die Hochzeit vorzubereiten... Minna, die den gerade erst geborenen Thrain im Arm wiegte... Minna, die fluchend hinter den beiden Zwillingen her rannte... Minna, die mit Thorin zusammen über die Erziehung der Kinder diskutierte... Minna, die Rhon geduldig eine Geschichte nach der nächsten erzählte... Minna, die jeden Tag sie begleitet hatte... Minna, die so viel für sie getan hatte... Minna, die auch Lyranns heran gewachsene Kinder noch verwöhnte... Minna, ihre Dienerin, ihre Freundin...
Ein Schluchzen entrang sich ihrer Kehle und die Königin unter dem Berge vergrub trauernd das Gesicht in den Händen.
Der Zug der Trauergemeinde schritt durch den breiten Friedhofsgang, vorbei an den Gräbern vergangener Generationen. Leise singend folgten die Zwerge dem Leichnam Minnas, die von zwei Gehilfen des Priesters zu ihrer letzten Ruhestätte getragen wurde. Das Licht dutzender Kerzen, die Minnas Familie und Freunde bei sich trugen, wurde von den Quarzeinlagerungen im grünen Fels des Erebor reflektiert und erleuchtete gemeinsam mit den Kristalllampen den Gang.
Der Friedhofsstollen war großzügig angelegt, breit genug, dass fünf Zwerge nebeneinander her gehen konnten. Vereinzelte Stauten Mahals, kleine Altare und schlichte Steinbänke in der Mitte des Weges luden zur Andacht ein. Runeninschriften und Namenszüge auf den Grabplatten in den Wänden kündeten von den Verstorbenen.
Ein wenig abseits der Trauergemeinde schritt Lyrann, flankiert von ihren beiden Söhnen Frerin und Rhon, die als einzige ihrer Kinder gerade im Berg waren. Mit bleichem Gesicht umklammerte die Königin ihre Kerze, den Blick auf ihre treue Dienerin gerichtet, von der sie nun Abschied nehmen musste.
Sie erreichten das für Minna vorbereitete offene Grab. Lyrann schob sich in eine Ecke des Ganges, um Minnas Familie genug Platz zu machen. Mit zittriger Hand stellte sie ihre Kerze auf einer der Bänke ab und legte ihre Arme um Frerin und Rhon. Beide hatten ihre Amme wie ein weiteres Familienmitglied geliebt und die Trauer war ihren Gesichtern nur zu deutlich anzusehen. Stumm beobachteten die beiden jungen Männer, wie der Priester vor dem Grab leise Gebete murmelte und den Körper Minnas segnete. Dankbar erwiderten Lyranns Söhne die Umarmung und zu dritt verfolgten sie die Trauerrituale.
Schließlich stimmte der Priester das Totengebet an und leise murmelnd fielen die Anwesenden ein:
„Aus Stein geschaffen von Mahal,
kehre nun in den Stein zurück und schlafe,
dein Körper werde zu Stein,
dein Geist ziehe in Mahals Hallen ein,
dort zu warten,
bis der Vater aller Zwerge uns ruft,
damit wir an seiner Seite die Welt neu erbauen."
Die zwei Gehilfen des Priesters hoben ein altes geschmiedetes Tor vor das Grab, verziert mit Runen, einem Gebet an Mahal, den Geist des Verstorbenen in seine Hallen zu holen. Dieses Tor versinnbildlichte bei jeder Beerdigung eines Zwerges den Übergang des Toten in die Hallen ihres Schöpfers.
Zwei Familienmitglieder hoben Minna hindurch in das Grab. Man hatte die alte Frau gewaschen, frisiert und ihr ein schönes Kleid angezeigt. Lyrann war am Vortag noch bei der Familie gewesen und hatte eine schlichte Goldkette, ein Beutelchen mit Haarlocken ihrer Kinder und ein paar ihrer mit Brillanten verzierten Haarnadeln für Minna vorbei gebracht. Mit diesen Gaben Lyranns wurde Minna nun beerdigt.
Langsam wurde die Grabplatte an ihren Platz gehoben, wo nun nur noch ein einfacher Schriftzug Minnas Namen verkündete und Mahals Segen auf sie herab flehte. Nichts ließ mehr die Verbindung erkennen, die diese Handwerkerstochter mit den Herrschern des Berges gehabt hatte.
Die letzten Gesänge waren schon lange verklungen, die Angehörigen Minnas waren fort gegangen zum traditionellen Totenschmaus. Doch Lyrann saß noch auf der Bank vor Minnas Grab. Ihre beiden Söhne hatte sie fortgeschickt. Ein letztes Mal wollte sie allein mit ihrer Dienerin sein.
Vereinzelte Tränen flossen über die Wangen der Königin, als sie voll Bitterkeit auf das Grab blickte. In dem glatten Stein erkannte sie schemenhaft ihr eigenes Spiegelbild. Doch sie musste es nicht sehen, denn seit Jahrzehnten veränderte es sich nicht.
Minna war in den Jahren alt geworden, doch sie Lyrann... Noch immer sah sie aus wie damals, als sie Thorin in Imladris begegnet war. Kein graues Haar, keine Falte zeugte von ihrem Alter. Sie zählte jetzt 212 Jahre und man sah es ihr nicht an. Selbst Thorin war in der letzten Zeit gealtert. Aber sie nicht...
Sie war eine halbe Elbin... Sie war unsterblich, so wie ihr Vater es gewesen war. Nur Verletzung oder tiefes Seelenleid konnte sie dahin raffen. Würde es ausreichen, ihre Lieben sterben zu sehen, um sie sterben zu lassen?
Tiefer Kummer bohrte sich in Lyranns Herz, denn nun wurde ihr klar, dass dies nur der erste Abschied von vielen sein würde.
„Dunkelheit ist das Los eurer Jahre...", erinnerte sie sich an die Worte des fremden Boten und nun wusste sie, was er gemeint hatte.
Schluchzend senkte sie den Kopf.
Schwere Schritte erfüllten den Korridor. Sie musste den Kopf nicht heben, um zu wissen, wer da auf sie zu kam. Das leichte Hinken des rechten Beines konnte sie an der Unregelmäßigkeit der Schritte hören.
Erst als Thorin sich neben sie setzte, hob sie den Kopf. Ihr Mann war bei wichtigen Terminen gewesen, deswegen hatte er nicht bei der Beerdigung sein können.
Ohne etwas zu sagen, musterte er sie, Mitleid und Kummer in den Augen. Auch er hatte Minna geschätzt und als Mitglied der Familie behandelt.
Zärtlich strichen seine Finger über Lyranns Gesicht, ordneten ein paar losgelöste Strähnen. Wortlos versuchte Lyrann ihm ihre Gedanken mitzuteilen. Sie würde sie alle überdauern.
Tiefe Trauer legte sich nun auch auf Thorins Züge, denn er schien zu ahnen, was sie beschäftigte. Auch ihm war die ewige Jugend seiner Frau aufgefallen. Er legte die Arme um Lyrann und zog sie so fest er nur konnte an sich.
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