Mehr als Freundschaft?
„Tarl! Tarl!" Iras Stimme überschlug sich vor Angst.
Bang hatte sie auf das brennende Haus gestarrt, in das der Schmied verschwunden war. Wie zur Salzsäule war sie erstarrt gewesen, nichts hatte sie von den Löscharbeiten um sich herum wahr genommen. Zäh wie Pech waren die Minuten verstrichen, in denen Ira die Fingernägel in die Handflächen gekrallt hatte, bis sie angefangen hatte, zu bluten.
Und dann war endlich Tarls Gestalt im Türrahmen erschienen. Als er jedoch direkt zusammen gebrochen war, war ihre Erleichterung in helle Panik umgeschlagen.
So schnell sie konnte, rannte sie auf ihn zu, gefolgt von mehreren Menschen und Zwergen. Während alle anderen sich auf den bewusstlosen Bürgermeister stürzten, fiel sie neben Tarl auf die Knie. „Tarl! Wach auf!", rief sie und rüttelte den Schwarzhaarigen, der jedoch keine Regung von sich gab.
Überwältigt von Angst legte sie ihr Ohr auf seinen Brustkorb. Dankbar atmete sie auf. Deutlich konnte sie sein Herz schlagen hören. Sacht strich sie ihm die Haare aus dem Gesicht, säuberte sein verrußtes Antlitz. Als sie die Verbrennungen an seinen Armen und Händen sah, keuchte sie erschrocken auf. Rote Blasen zogen sich über seine Haut, platzten bereits auf, fiebrig heiß waren die Wunden unter ihren Fingern. Iras Atem ging stoßweiße, als sie mit zitternden Händen Tarls Verbrennungen untersuchte.
„Hilfe!", rief sie ängstlich. Suchend drehte sie sich um. Arnohd hatte man bereits weg getragen, nur den Zwerg, der sein Leben für den Bürgermeister aufs Spiel gesetzt hatte, ignorierte man. Ira stand auf.
Die Flammen waren endlich weniger geworden. Noch immer brannte das Haus, doch die Feuerzungen leckten nicht mehr so zerstörerisch in die Höhe, das Brausen war nicht mehr so laut und mit jedem Eimer Wasser, der herbei geschafft wurde, zogen sich die Flammen zurück, offenbarten verkohltes Holz, verbrannten Lehm und zerstörte Möbelstücke. Bald würde das Feuer besiegt sein.
Ein Zwerg kam auf Ira zu gerannt und vor Erleichterung knickten ihr fast die Beine weg, als sie den roten Haarschopf Fredes erkannte.
„Frede!", rief sie und kam ihm entgegen. „Tarl ist schwer verletzt!", stieß sie hervor, „Er hat Verbrennungen und ist bewusstlos!"
Der Zwerg nickte nur kurz und beschleunigte seine Schritte. Bei dem ohnmächtigen Schmied angekommen, beugte er sich nur kurz zu ihm hinab und warf den jungen Mann nach einem prüfenden Blick über seine Schulter.
„Ich bring ihn zu Frida. Er braucht jemanden, der sich um seine Wunden kümmert", sagte er zu Ira, dann rannte er los. Die Zwergin dachte nicht lange nach. Ohne einen Blick zurück auf die letzten Löscharbeiten zu werfen, folgte sie Frede.
„Frida!", brüllte der rothaarige Zwerg, als er mit Tarl über der Schulter und Ira im Schlepptau sich seinem Haus näherte. Sofort wurde die Tür aufgerissen und Fredes Frau trat mit besorgtem Gesicht auf die Straße hinaus. Obwohl es mitten in der Nacht war, trug sie noch immer ihre Kleidung vom Tag. Offenbar hatte sie hier ausgeharrt und auf Nachricht vom Brand gewartet.
Ihre Augen weiteten sich, als sie die bewusstlose Gestalt erblickte, die ihr Mann trug.
„Tarl!", stieß Frede hervor, als er sie erreichte, „Er hat dem Bürgermeister gerettet und dabei schwere Verbrennungen erlitten."
Sofort wurde Fridas Blick ruhiger, da keiner ihrer Söhne verletzt war.
„Bring ihn rein.", wies sie ihren Mann energisch an. Dann fiel ihr Blick auf Ira, die eben keuchend das Haus der Familie erreichte. Kurz runzelte sie die Stirn, dann winkte sie die junge Frau ebenfalls herein. „Du kannst mir helfen, Mädchen!", befahl sie.
Ein wenig zögerlich folgte Ira dem Paar über die Schwelle in die Stube des Hauses. Frede trug den leise stöhnenden Tarl bereits zu einem Bett im hinteren Bereich des Raumes. Ira eilte ihm hinterher. Viel nahm sie nicht von ihrer Umgebung wahr, Tische, Stühle, ein Küchenbereich, in dem Frida werkelte, zwei Türen und eine Leiter, die aus dem Raum heraus führten. Ihr Blick blieb besorgt auf den Schmied gerichtet, der nun vorsichtig auf die Polster gebettet wurde.
Kurz öffnete Tarl die hellen Augen, doch der Blick wirkte verschleiert. Leise murmelte er Worte, die sie nicht verstehen konnten, hob eine Hand, die schnell wieder schlaf zurück sackte.
„Die Kleidung muss runter!", rief Frida scharf aus der Küche, „In den Wunden darf keine einziges Stück Stoff übrig bleiben. Schneide die Kleidung zur Not auf, Ira!"
Starr auf Tarls gerötetes Gesicht blickend trat Ira auf ihn zu und kniete neben ihm nieder. „Tarl!", rief sie leise nach ihm. Tatsächlich drehte der Zwerg den Blick in ihre Richtung, die Augen klärten sich, als er sie erblickte. „Ira!", brachte er rau und kraftlos hervor, die Andeutung eines Lächelns glitt über seine Züge.
„Nun mach schon!", kam es drängend von Frida.
Ira sah auf den verwundeten Zwerg. Die Haut, die nicht von Kleidung bedeckt war, war hochrot und an vielen Stellen aufgeplatzt. Gerade an den Händen bildeten sich riesige, weiße Blasen, die sich teilweise sogar schwarz verfärbt hatten. Wo die Haut bereits aufgeplatzt war, glänzten die Wunden von süßlich riechendem Wundwasser über offenem Fleisch. Tarls Haare und Bart waren teilweise verkohlt, vor allem von seinen Augenbrauen war kaum noch etwas übrig. Weste, Hemd und Hose des Zwerges waren an vielen Stellen verkohlt und gerrissen. Darunter war die verbrannte Haut zu sehen.
Zitternd knöpfte Ira Tarls Weste auf, dieser hatte die Augen bereits wieder geschlossen. Jeder Atemzug klang gequält und röchelnd.
Doch als sie versuchte, seinen Arm zu heben, um ihn aus der Weste zu befreien, schrie Tarl gellend auf. Mit einem Mal versuchte der Zwerg sich aufzusetzen, die Augen weit aufgerissen. Geschockt wich Ira zurück.
Frede sprang herbei und zog Tarl an den Schultern wieder zurück. „Hier Kumpel!", sagte er und hielt dem Verwundeten eine Flasche an die Lippen, „Trink das."
Ohne Widerspruch gehorchte dieser und begann, zu trinken. Ein scharfer Geruch nach Selbstgebranntem lag in der Luft. Es brauchte nur einige Schlucke und Tarl sackte mit geschlossenen Augen zusammen.
Frede nickte Ira zu und reichte ihr eine Schere, auf der sie mit einem schmerzvollen Ziehen im Herzen Tarls Zeichen eingebrannt erkannte. Die Hände noch immer zitternd und rasch atmend, beugte sie sich über Tarl. Vorsichtig, um ihn nicht weiter zu verletzen, zerschnitt sie seine Kleidung. Sachte schälte sie die verbrannten Stoffe von seinem überraschend kühlen Körper.
Doch an vielen Stellen klebten Haut und Kleidung zusammen, war ein schonendes Ablösen fast unmöglich. Der verletzte Tarl wimmerte und versuchte kraftlos, sich zur Wehr zu setzen. Doch der Schnaps zeigte Wirkung. Voller Mitleid versuchte Ira, die Wunden von dem Stoff zu befreien. Tränen sammelten sich in ihren Augen. Mit einer Hand griff sie Tarls Hände und fixierte ihn.
„Es tut mir so leid, Tarl!", flüsterte sie mit brüchiger Stimme. Dann ruckte sie an seinem Hemd, das sich endlich von der verbrannten Haut löste. Ein Röcheln kam von Tarl, dann sackte er zusammen. Vorsichtig strich Ira dem Verletzten über die Stirn, die Sicht von Tränen verschleiert, die jetzt ungehindert über ihr Gesicht flossen.
„Hier.", erklang Fridas Stimme neben ihr. Die Zwergin kniete sich ebenfalls ans Bett und reichte Ira einen Becher. „Gib ihm davon zu trinken. Das ist Mohnblumensaft und nimmt die Schmerzen. Er muss lange und tief schlafen. Seine Verletzungen sind schwer."
Vorsichtig flößte Ira Tarl die Medizin ein. Frede sah derweil auf seine Frau hinab. „Ich gehe zurück und schaue, was ich noch helfen kann. Ihr zwei kommt klar, nicht wahr?", verkündete er. Seine Frau nickte und schweren Schrittes verließ der Zwerg das Haus.
„Hilf mir, die Wunden zu reinigen und zu verbinden.", forderte Frida Ira auf.
Gemeinsam befreiten sie Tarl von der restlichen Kleidung und reinigten mit warmen Wasser seine Verbrennungen. Der Mohnblumensaft hatte rasch Wirkung gezeigt, denn Tarl schlief mittlerweile tief und fest. Es dauerte lange, bis sie endlich die letzte Wunde von Stofffasern befreit war.
„Trag das hier auf die offenen Stellen auf, bevor du sie verbindest.", wies Frida an und deutete auf eine neben ihr stehende Schüssel. Den Anweisungen folgend bestrich Ira sachte Tarls Verletzungen mit der Paste. Ein säuerlicher Geruch ging davon aus, vermischt mit Kräutern.
„Was ist das?", fragte sie. „Kamille und Salbei mit Essig. Es hilft bei Entzündungen.", erwiderte Frida und verband vorsichtig Tarls linken Arm, den sie bereits behandelt hatte.
Als sie endlich ihre Arbeit beendeten, war Tarl fast vollständig mit Bandagen und Tüchern verbunden. Nichts hatte er von der Prozedur mitbekommen, seit er Fridas Medizin getrunken hatte. Sein Atem ging noch immer rasselnd und mühsam.
Während Frida aufstand und das Zimmer verließ, vielleicht um nach ihrem jüngsten Sohn zu sehen, blieb Ira am Bett sitzen. Zögerlich ergriff sie Tarls Hand, während Sorge ihr das Herz zerriss. Wie hatte das nur passieren können? Es war gar nicht lange her, da hatten sie noch gemeinsam bei Musmasum gesessen! Und nun lag Tarl hier, schwer verwundet, und sie konnte nichts für ihn tun! Bebend holte sie Luft. Es kostete sie viel Mühe, die erneut aufkommenden Tränen zu unterdrücken.
Als Frida zurück kam, wandte sie sich ihr zu. „Wird er wieder gesund werden?", fragte sie mit zugeschnürtem Hals. Die rothaarige Zwergin seufzte und blickte auf ihren Patienten hinab. „Ich weiß es nicht, Kind.", erwiderte sie leise, „Wenn Mahal ihm gnädig ist..."
Eilig ordnete Ira ihre Haare, nachdem der letzte Kunde sie verlassen hatte. Tatsächlich waren heute nur sehr wenige bei ihr gewesen. Der Schock saß den Bewohnern Nebelgrunds noch tief in den Knochen. Sie war furchtbar müde. In der Nacht des Brandes hatte niemand von ihnen viel geschlafen. Doch sie hatte nicht vor, ins Bett zu fallen.
Die Sorge um Tarl hatte sie den ganzen Tag nicht los gelassen. Der furchtbare Anblick seines verbrannten Körpers und der schweren Wunden war ihr ständig vor Auge gestanden. Eine eiserne Klammer hatte sich um ihr Herz gelegt und das sonst fröhliche Lächeln aus ihrem Gesicht gewischt.
Zärtlich hob sie die schläfrige Musmasum hoch und trug sie zu Gloidas Zimmer. Dankbar hatte sie deren Angebot angenommen, sich um das Kätzchen zu kümmern, während sie Tarl besuchte.
Mit gerafften Röcken eilte sie wenig später die Straße hinunter, während vor ihr die Sonne bereits hinter den Bergen verschwand. Sie erreichte die Tür zu Fredes Haus und klopfte energisch an.
Fril, der jüngste Sohn Fredes, öffnete die Tür und rief ins Haus: „Amad! Ira ist da!" Seine Mutter kniete am Bett Tarls und erneuerte die Verbände Tarls. Der Anblick seines kalkweißen Gesichtes ließ Iras Herz für einen Moment still stehen. Mit wenigen Schritten war sie an seiner Seite und griff nach seiner Hand. Erschrocken fuhr sie zusammen, Tarls Haut glühte.
„Tarl!", rief sie ängstlich. Doch er schien sie nicht zu hören. Sein Schlaf war unruhig. Unter geschlossenen Lidern konnte Ira erkennen, wie seine Augäpfel wild hin und her rollten. Die Lippen zuckten, murmelten unverständliche Worte. Voller Sorge strich sie ihm eine Haarsträhne aus dem verschwitzten Gesicht. Dann sah sie zu Frida, die ihren Blick mit ernster Miene erwiderte.
„Seit heute Morgen hat er hohes Fieber.", sagte die Zwergin leise, „Ich schaffe es nicht, es zu senken." Sie zeigte zu einer Tasse, die auf der benachbarten Kommode stand. „Versuch ihm, davon etwas einzuflößen. Es hilft hoffentlich bei seiner Temperatur."
Eifrig griff Ira nach dem Becher. Mit einer Hand hob sie Tarls Kopf an, mit der anderen versuchte sie ihm schlückchenweise die Medizin zu geben. Die Hände des Zwerges zuckten, plötzlich riss er die Augen auf und hob den Kopf. Vor Schreck ließ Ira fast die Tasse fallen.
„Tarl!", sprach sie ihn erneut an, suchte hoffnungsvoll seinen Blick. Doch er, ganz gefangen im Fiebertraum, nahm sie nicht wahr. „Adad...", hauchte er tonlos und sackte wieder in die Kissen zurück. Matt schüttelte er den Kopf. „Nein, nein!", keuchend hob Tarl die Hände, schien etwas abwehren zu wollen.
„Es ist alles gut!", flüsterte Ira sanft. Sie fasste seine Hände. Der Anblick Tarls, wie er so krank und entkräftet da lag, schmerzte sie so sehr. Liebevoll streichelte sie seine Stirn, bis er sich ein wenig beruhigt hatte und ihn das, was er im Fieber sah, nicht mehr so sehr quälte.
Tagelang wollte das Fieber Tarls nicht sinken. Das Feuer, aus dem er entkommen war, schien nun in seinem Körper weiter zu wüten und ihn von innen heraus zu verbrennen. Anfangs hatte er noch wild im Traum gemurmelt, nach Leuten gerufen, manchmal sogar um sich geschlagen, sodass noch größere Mengen Mohnblumensaft nötig gewesen waren, um ihn zu beruhigen.
Nun jedoch war er ganz still geworden. Bleich wie der Tod lag er im Bett, während sein Leib noch immer brannte.
Schlaf fand Ira keinen mehr. Die Sorge um den Schmied hielt sie wach. Sie wusste, dass er nun an der Schwelle des Todes stand. Ob er sie überschreiten würde, wusste nur Mahal. Und so flehte sie jedes Mal, wenn sie an Tarls Bett kniete, den mächtigen Valar und auch Eru Illuvatar um Gnade für den Zwerg an. Die Vorstellung, Tarl zu verlieren, erschien ihr so grausam. Dabei wusste sie gar nicht so recht, was ihr dann fehlen würde.
„Hier Kind..." Fridas Stimme riss die vollkommen übermüdete Ira aus ihren Gedanken. Die Zwergin hielt ihr einen Teller mit einem Auflauf aus Kartoffel, Räucherfleisch und Topinambur hin. „Du musst etwas essen. Und wann hast du das letzte Mal geschlafen?"
Ira erwiderte nichts, nahm aber dankbar und mit plötzlich wild knurrendem Magen den Teller entgegen. Frida drückte ihr sacht die Schulter. „Ich weiß, wie du dich fühlst.", sagte sie, „Es ist schlimm, am Krankenbett eines geliebten Zwerges zu sitzen."
Irritiert und verständnislos blickte die junge Frau zu der Älteren hoch. Ihr müder Geist verarbeitete die gesprochenen Worte nur langsam. Was hatte Frida gesagt? Doch diese wartete keine Antwort ab, sondern kniete sich neben Tarl, sodass die etwas perplexe Ira sich langsam ihrem Essen zuwandte.
Während sie aß, versuchte Frida dem Kranken etwas Kartoffelsuppe einzuflößen. Doch in seinem jetzigen Zustand war es kaum möglich, ihn zum Schlucken zu bringen.
Mit einem Seufzer stellte Frida die Suppe beiseite. Vorsichtig fühlte sie nach Tarls Puls, der in der letzten Zeit nur schwach zu tasten gewesen war. Nun jedoch runzelte die Zwergin die Stirn. „Sein Puls wird wieder stärker.", verkündete sie und zum ersten Mal seit Tagen war wieder Hoffnung in ihrer Stimme zu hören.
Ira schreckte auf und verschluckte sich fast an ihrem Essen. Mit angehaltenem Atem sank sie neben Frida auf die Knie. Tatsächlich, deutlich konnte sie Tarls Herzschlag spüren. „Seine Atmung ist ruhiger geworden und die Temperatur sinkt.", flüsterte Frida neben ihr.
Die Erleichterung überwältigte Ira fast. Tränen schossen ihr in die Augen und voll plötzlicher Erschöpfung sackte ihr Kopf nach vorne auf Tarls Brust. Inbrünstig dankte sie Mahal, dass er den Zwerg gerettet hatte, der ihr so viel bedeutete. Nun war Tarl auf dem Weg der Besserung.
Vollkommen übermüdet kuschelte Ira sich an den Zwerg. Noch auf dem Boden neben dem Bett hockend glitt sie in tiefen Schlaf.
Die Tage vergingen. Der Monat afkalm*, den die Menschen Mai nannten, näherte sich seinem Ende. Es wurde zunehmend wärmer und die Felder vor dem Dorf trugen satte Frucht. Warm wehte der Wind durch die Wälder an den Hängen des Nebelgebirges, deren sattes Grün nun im Schein der erstarkten Sonne leuchtete. Bald würde es Sommer werden und die ersten reichen Ernten standen an.
Als afgargablag* anbrach, der Monat Juni, lagen sowohl Tarl als auch der Bürgermeister noch beide an ihren Verletzungen darnieder. Fredes Frau kümmerte sich aufopferungsvoll um Tarl, während man Arnohd in ein Zimmer des Wirtshauses gebracht hatte, wo er von mehreren gepflegt wurde. Beide befanden sich nun auf dem Wege der Besserung. Mittlerweile waren die verkohlten Reste des Bürgermeisterhauses fort geräumt und sogar schon mit dem Neubau begonnen worden.
Wie jeden Tag seit dem schicksalhaften Brand lief Ira im Eilschritt die Straße entlang. Ihr Ziel war das Haus Fredes, wo Tarl noch immer gepflegt wurde. Jede freie Minute verbrachte Ira an seiner Seite, das Kätzchen Musmasum wurde unterdessen von Gloida liebevoll betreut.
Obwohl neun Tage seit dem Brand vergangen waren und vor fünf Tagen das Fieber des verletzten Zwerges endlich zurück gegangen war, hielt Frida Tarl immer noch durch den Mohnblumensaft in tiefem Schlaf. Sie sagte, dass sein Körper sich so völlig auf die Heilung konzentrieren könnte.
Voll tiefer Zuneigung dachte Ira an den Kranken, der nun hoffentlich bald gesund werden würde. Sie hatte es nicht wahrhaben wollen, aber die Worte Fridas vor einigen Tagen hatten Gefühle in ihr angerührt, von deren Existenz sie vorher nichts geahnt hatte. Doch seit dem hatte sie oft an Tarls Krankenbett gesessen, seine Züge betrachtet und nachgedacht.
Gut konnte sie sich noch daran erinnern, wie sie ihn das erste Mal gesehen hatte. In einer verregneten Frühjahrsnacht, auf der Straße vor dem Gasthaus liegend. Aus Neugier hatte sie ihn angesprochen und weil er ihr gefallen hatte. Dass er gut aussah, war ihr schon da aufgefallen, genauso wie sein angenehmes Wesen.
Tarl hatte sie schnell glühend verehrt, das wusste sie und sie kannte es auch von anderen ihrer Kunden. Doch er war für sie mehr geworden als ein weiterer Mann, der sie besuchen kam. Ira genoss seine Gesellschaft in vollen Zügen. Bei ihm fühlte sie sich wohl, glücklich und geborgen. Bei der Erinnerung an den gemeinsamen Tag am Fluss hüpfte ihr jedes Mal das Herz. Er sah nicht auf sie hinab, verachtete sie nicht für ihren Stand, sondern behandelte sie wie eine Dame von hohem Stand.
Seine Freundschaft war ihr so kostbar geworden. Die Angst, ihn zu verlieren, hatte ihr dies noch deutlicher gemacht. Schmerzhaft zog sich ihr Inneres zusammen, bei der Vorstellung, dass sie ihn eines Tages nicht mehr sehen würde.
Geliebter Zwerg, hatte Frida gesagt.
Was war mit ihr passiert? War es wirklich Liebe, die sie so um Tarl bangen ließ? Suchte sie deswegen seine Nähe, weil sie sich in einen ihrer Kunden verliebt hatte?
Ihr Herz klopfte bang, als sie über diese Fragen nachdachte, die sie nun schon seit Tagen umtrieben. Wie gewohnt öffnete sie, ohne anzuklopfen, die Tür zu Fredes Haus. So oft war sie hier schon ein und aus gegangen, dass Frida ihr erlaubt hatte, einfach einzutreten.
Empfand sie für Tarl mehr als Freundschaft?
Noch ganz in Gedanken hob sie den Blick und sah zu Tarls Krankenlager. Doch das Bett war verwaist.
*Kronenmond
**Mond von Essen und Trinken
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