Licht im Dunkel
Thorin und Lyrann standen gemeinsam auf einem der beiden Wachtürme des Erebor und blickten sorgenvoll auf die Stadt Thal. Ein schneidend kalter Wind wirbelte feine Eiskristalle durch die Luft. Im Schein der Sonne schien es, als würde tausende Brillianten um sie her tanzen. Eisblau spannte sich der Himmel über ihnen und die verschneite Landschaft leuchtete in gleißendem Licht.
Es war ein strahlend heller Wintertag. Zu früheren Zeiten wären nun Zwergenkinder vor dem Berg durch den Schnee getollt und die Königsfamilie hätte sicher einen Ausritt in die Winterwelt um den Erebor unternommen.
Doch diese friedvollen Momente schienen so fern wie nie zu sein. Lyrann fröstelte, als sie an die Geschehnisse der letzten Tage dacthe und sie lehnte sich gegen Thorin, der sie von hinten umarmt hielt.
Kelra war nun seit einigen Tagen im Berg und seit ihrer Ankunft hatte sich eine Stimmung der Ratlosigkeit und Verzweiflung unter der Königsfamile breit gemacht.
Lyranns Blick wandte sich nun nicht länger gen Süden und Osten, wo sie wusste, dass Sauron seine Kräfte zusammenzog, ganz Mittelerde in Schatten zu hüllen. Nein, sie sah gen Norden, nach Thal, wo Dunkelheit auf der Stadt lag.
Auch heute lag Schatten auf den Häusern Thals, ein Schatten der nicht von Wolken herrührte. Obwohl die Sonne strahlend hell am Himmel stand, vermochte sie die Stadt der Menschen nicht gänzlich zu beleuchten.
Die farbenfrohen Fahnen der Stadt, die roten Dächer und die bunten Mauern schienen gleichsam fahl zu bleiben. Schatten lag in den Straßen und Dunkelheit hinter den Fenstern der Häuser. Und immer wieder hatte Lyrann das Gefühl, eine dunkle Wolke zu sehen, die sich über der Stadt zusammenbraute, drohend und unheilverkündend. Wann würde sie den Erebor erreichen? Wann würde der Nazgul seine Finger nach ihrem Berg ausstrecken?
„Was tun wir nur?", fragte Thorin leise, das Kinn auf ihrer Schulter aufgestützt und tiefe Ratlosigkeit in der Stimme.
Lyrann verflocht ihre Finger mit den seinen und holte bebend Luft. Dass Khamul sich Brands Verstand bemächtigt hatte, war nur eine Vermutung, die sie aufgrund Kelras Schilderungen geäußert hatte. Doch eine bessere Erklärung war ihr seit der Ankunft der jungen Frau nicht eingefallen.
Angst benebelte seither ihre Sinne. Sie war Khamul gegenüber gestanden. In Dol Guldur, nur wenige Monate war es her, als sie von ihm gefoltert und gequält worden war. Was sollten sie gegen eine derartige Übermacht ausrichten? Khamul war ein Nazgul, einer der neun machtvollsten Diener Saurons. Keine Macht des Erebor konnte gegen seine Kraft bestehen.
„Ich weiß es nicht...", flüsterte sie mit brüchiger Stimme.
Thorin, der wohl ahnte, was in ihr vorging, schloss sie noch ein wenig fester in die Arme. Doch er sagte nichts. Trotz der Erfahrung von Jahrhunderten, die er mittlerweile sein eigen nannte, wusste er nicht, was er gegen diesen Gegner unternehmen sollte.
Lyrann konnte ihren Blick nicht von Thal abwenden. Sicher fand ihr Auge das Haus Brands und mit einem Schauder stellte sie sich vor, welche Dunkelheit den Geist des armen jungen Mannes gefangen hielt. Welche Qualen er leiden musste!
Voller Angst krampfte sich ihr ganzes Inneres zusammen, während Erinnerungen an ihre Gefangenschaft durch ihren Geist jagten.
Drohend erhob sich die Dunkelheit über Thal und streckte ihre Finger nach ihnen aus. So klein und wehrlos waren sie doch! Wie konnte sie nur gegen diese Übermacht bestehen?
Verzweifelt schloss Lyrann die Augen, versuchte sich mit tiefen Atemzügen zu beruhigen. Doch die Bilder, die in ihrem Kopf entstanden, waren zu übermächtig. Sie sah die hoch aufragenden Mauern Dol Guldurs vor sich, Khamul, der vor ihr stand und die Hände nach dem Arkenstein ausstreckte, seine höhnische Stimme, die Kälte um ihn her.
Die Schmerzen und die Todesangst, die sie ausgehalten hatte, erfüllten sie erneut. Thorins feste Umarmung nahm sie kaum mehr wahr.
Sie sah Khamul, der durch die Straßen Thals ging und langsam auf den Erebor zuschritt, Dunkelheit und Verderben mit sich bringend. Niemand konnte sich ihm entgegen stellen...
Doch mit einem Mal verschwanden die grausamen Vorstellungen aus ihrem Geist.
Sie erblickte eine Lichtung in einem silbernen Wald. Eine Frau stand dort, gekleidet in weiß und silber, umgeben von einem geheimnisvollen Leuchten. Der Blick der Elbin, eben noch auf eine mit Wasser gefüllte Schale gerichtet, hob sich nun empor und sie blickte Lyrann direkt entgegen.
Von tiefem Blau waren die Augen der Unbekannten. Das Leuchten der Sterne schien sich in ihnen zu spiegeln.
Ein schwaches Lächeln glitt über ihre Züge und eine Stimme erklang: „Ihr seid nicht allein, Lyrann Silberkönigin."
Die Sonne hatte sich eben erst über den Horizont erhoben, als Lyrann mit raschen Schritten zum großen Hauptportal des Erebor ging. Seit auch eine Gruppe der ihr direkt unterstellten Bodenschützen des Berges, das Regiment der Eisenpfeile, zu den regelmäßig am Portal Wache haltenden Soldaten gehörte, hatte Lyrann die Aufgabe der Inspektion zur morgendlichen Wachablösung übernommen. Sie nutzte die Gelegenheit, um mit den Kriegern zu sprechen, ihren Sorgen und Nöten in diesen unruhigen Zeiten Gehör zu schenken und sich ein Bild über die Moral der Truppen zu machen. Es war ihr wichtig, in engem Kontakt mit den Männern und Frauen zu stehen, die ihre Heimat verteidigten.
Mit gerafften Röcken stieg sie die Treppe zum Wehrgang empor, wo sich eben die Wachen der Nacht sammelten. Als sie ihre Königin erblickten, kehrte augenblicklich Stille ein. Der Dienstälteste der Gruppe trat vor und verneigte sich vor Lyrann.
„Gab es besondere Vorkommnisse diese Nacht?", fragte sie. Der Krieger schüttelte den Kopf. „Nein, Herrin.", erwiderte er, „Alles war ruhig."
Mit einem Lächeln bedeutete ihm Lyrann, mit der Wachablösung seiner Männer fortzufahren. Der Zwerg wandte sich eben ab, um den Soldaten den Befehl zu geben, sich aufzustellen. Jeden Moment würde die Morgenwache die Treppe empor kommen, um die Soldaten abzulösen.
Doch etwas vor dem Berg ließ ihn innehalten.
„Herrin...", sagte er mit verwunderter Stimme. Seine Hand deutete in Richtung der Straße und Lyrann sah in die gewiesene Richtung.
Voller Staunen erkannte sie eine einzelne Person, die auf den Erebor zuging. Ein langer, nachtblauer Mantel wisperte hinter der Gestalt über den Schnee. Bei jedem Schritt blitzte ein hell leuchtendes Kleid unter dem dunklen Stoff hervor.
Der Wanderer blieb ein Stück entfernt vor dem Hauptportal stehen, hob die Hände und streifte die Kapuze vom Haupt. Langes Haar, schimmernd wie flüssiges Gold im Sonnenlicht, fiel der Frau über ihre Schultern und umrahmte ein Gesicht von überirdischer Schönheit. Ihr Blick richtete sich empor zu Lyrann. Mit angehaltenem Atem erkannte diese die Elbin, die ihr vor kurzem erschienen war.
„Ruft den König!", befahl sie, „Und öffnet das Tor!"
Neugierig ob des seltsamen Besuchers eilte sie die Stufen hinab in die Vorhalle. Wer war diese Elbin, die sie erst in ihren Gedanken erblickt hatte und die nun vor den Toren des einsamen Berges stand? Das Herz klopfte Lyrann bis an den Hals, als sie sich dem Portal näherte. Sie glaubte nicht, dass von dieser Frau eine Gefahr für den Berg ausging, und dennoch war sie unangenehm nervös.
Schwere Schritte hinter ihr kündigten die Ankunft Thorins in der Halle an. Schweigend trat ihr Mann an ihre Seite und gemeinsam sahen sie dem Besucher entgegen.
Staunend hielten die Zwerge um sie her in ihrer Beschäftigung inne, als die Elbin über die Schwelle des Berges trat.
Langsam ging die Frau auf Lyrann und Thorin zu. Hoch gewachsen und schlank war sie. Ihr nachtblauer Mantel aus dem fließenden Stoff des Elbenvolkes teilte sich und gewährte den Blick auf ein hell schimmerndes silbernes Kleid. Das goldene Haar der Elbin floß über ihren Rücken und ein schlichter Stirnreif aus Silber schlang sich um ihr Haupt. Die blauen Augen der Frau, in denen ein glitzerndes Licht zu liegen schien, ruhten mit durchdringendem Blick auf den beiden Herrschern des Berges.
Lyrann erschauderte unter dem Blick. Die Elbin schien in der Lage, bis auf ihr Innerstes zu schauen, eine Gabe, die sie sonst nur bei Mithrandir oder Elrond erlebt hatte.
„Herrin Galadriel!", sprach Thorin die Elbin an, trat ein Stück vor und neigte den Kopf. „Welch eine Ehre, euch hier im Erebor begrüßen zu dürfen!"
Erstaunt blickte Lyrann zu der Elbin, von der sie schon viel gehört hatte, sie aber nie zu Gesicht bekommen hatte. Dies war also Galadriel, die Mutter von Elronds Gemahlin, die Herrscherin Lothloriens. Woher kannte Thorin sie?
Die Elbin erwiderte den Gruß mit einem leichten Nicken des Kopfes. „König Thorin, Sohn des Thrain, Sohn des Thror, viele Jahre ist es her, dass ihr durch mein Reich gekommen seid, auf der Suche nach eurem verschollenen Vater.", sprach sie mit dunkler, melodischer Stimme, „Es erfreut mich zu sehen, dass ihr das Reich eurer Vorväter zu alter Größe führen konntet."
Dann fiel ihr Blick auf Lyrann. „Lyrann Halbelbin, so begegnen auch wir uns einmal. Bis nach Lothlorien drang die Kunde von der neuen Freundschaft, die hier zwischen Zwergen und Elben dank euch entstanden ist."
Einem Impuls folgend verneigte Lyrann sich. Sie war Königin, normalerweise verneigte sie sich vor niemandem. Aber diese Frau strahlte eine Macht aus, der sie sich sofort beugte.
„Was verschafft uns die Ehre eures Besuches, Herrin?", fragte sie.
„Die Macht Saurons erstreckt sich nun fast über ganz Mittelerde.", erwiderte die Elbin mit deutlicher Sorge in der Stimme, „Nicht nur im Süden wird nun gekämpft. Dol Guldur und Gundabad sind lange schon erwacht und ihre Ungeheuer ziehen durch den Norden unserer Welt. Imladris, Lothlorien, der Düsterwald, Erebor und das Königreich der Menschen kämpfen um ihre Freiheit."
Sie hielt kurz inne und wandte den Blick wieder nach draußen. Dann begann sie wieder zu sprechen: „Der junge König Thals schwebt in großer Gefahr. Wenn Brand nun dem Nazgul erliegt, so gibt es keine Hoffnung mehr für den Norden Mittelerdes. All die Mühen des Halblings werden umsonst sein."
Erneut sah sie auf Thorin und Lyrann. „Führt mich zu Brand!"
Mit großen Augen sahen die Wachen vor den verschlossenen Toren Thals ihnen entgegen. Keine Leibgarde hatten sie mitgenommen, lediglich zu dritt wollten sie vor Brand treten. Lyrann und Thorin flankierten Galadriel, sie waren beide bewaffnet, auch wenn Lyrann ahnte, dass die Elbin sich gut selbst verteidigen könnte.
Schweigend ging sie zwischen den beiden Herrschern des Erebor dahin, die Augen ruhig und aufmerksam auf die Menschenstadt vor ihnen gerichtet.
„Lasst uns ein!", wandte Thorin sich an die Wachen, die zum ersten Mal seit Tagen, nicht widersprachen, sondern sofort das Tor öffneten, die Blicke voller Verwunderung auf die Elbin vor ihnen gerichtet.
Kalt wurde es um sie her, als sie die Stadt betraten. Lyrann erschauderte und schlang unwillkürlich die Arme um sich. Etwas böses lag über diesen Häusern, sie konnte es deutlich fühlen. An den unruhigen Blicken Thorins konnte sie leicht erkennen, dass auch ihr Mann sich nicht wohl fühlte und spürte, dass hier etwas nicht stimmte.
Obwohl es taghell war, waren die Straßen Thals seltsam schattig. Dunkelheit kroch über die Mauern und das Sonnenlicht vermochte die Gassen der Stadt nicht mehr richtig zu beleuchten.
Diffuse Angst krallte sich erneut in Lyranns Magen und klar stand ihr das Bild Khamuls vor Augen, der sich mit höhnischem Lachen über sie beugte. Mühsam zwang sie die Erinnerung beiseite und wand ihren Blick zu Galadriel.
Ein schwacher Schimmer schien von der Fürstin auszugehen. Ihr weißes Kleid leuchtete hell in der Dunkelheit der Straße, die sie entlang gingen. Die Augen waren erfüllt vom Licht dutzender Sterne und ihr goldenes Haar schimmerte, als wäre es als einziges in der Stadt noch in der Lage, das Sonnenlicht zu empfangen.
Endlich erreichten sie den Marktplatz, der gänzlich im Schatten lag.
Das Haus des Königs wurde von mehreren Soldaten bewacht, die nun mit wachsamen Blicken ihnen entgegen sahen.
Langsam näherten sie sich dem Haus. Schon fragte Lyrann sich, wie sie dieses Mal an den Wachen vorbei kommen sollten, als plötzlich Galadriel mit lauter und durchdringender Stimme forderte: „Lasst uns eintreten!"
Ihre Worte hallten merkwürdig, als kämen sie von der Elbin und gleichzeitig von weit her, die Häuser um den Platz warfen das Echo vielfach zurück, sodass Galadriels Stimme über den Platz donnerte.
Die Soldaten zuckten zusammen, als der Befehl so kraftvoll über sie hereinbrach. Eilig sprangen sie beiseite und öffneten das Tor zum Haus des Königs.
Verwundert sahen Thorin und Lyrann zu der Elbin in ihrer Mitte, die festen Schrittes ihnen voran auf das Haus zuging. Mit einem einfachen Satz hatte sie zustande gebracht, woran sie beide seit Wochen kläglich scheiterten. Rasch folgten sie Galadriel.
Still, totenstill, war es im Haus des Königs. Kaum ein Licht erhellte den Raum, den sie betraten, alle Fenster waren verriegelt. Verwundert sah Lyrann sich um. Sonst war das Haus immer voller Leben gewesen, Angestellte des Königs und Bittsteller waren aus und ein gegangen, die Familienmitglieder Bards, Bains oder Brands hatten sich hier versammelt. Nun war niemand hier, das Haus erinnerte sie mehr an ein Grab als an eine Heimstätte Lebender.
Thorin öffnete eine Tür, die zu den hinteren Bereichen des Hauses führte und zu dritt betraten sie den fast stockdunklen Korridor. Unnatürlich laut hallten die Schritte Thorins und Lyranns von den Wänden wider, Galadriel dagegen schreitete vollkommen lautlos dahin.
Nichts war zu hören. Oder doch?
Lyrann legte lauschend den Kopf schief, als sie sich den privaten Räumlichkeiten des Königs von Thal näherten.
Eine leise, seltsam schrille Stimme war da, rasche und hektische Worte sprechend.
Sie tauschte einen Blick mit Thorin, der vorsichtig Orcrist in seiner Halterung ein wenig lockerte.
Eine letzte Tür schwang auf und sie standen in eben dem Zimmer, in dem sie so oft mit den Königen Thals, ihren Familien und Freunden gespeist hatten.
Ein Feuer flackerte im Kamin, einzelne Kerzen brannten in ihren Halterungen an den teppichbehangenen Wänden und auf dem langgezogenen Tisch. Doch spendeten sie kein Licht. Eine alles erdrückende Dunkelheit schien auf dem Raum zu lasten und jegliche Helligkeit auszulöschen.
Und dort, am Kopfende des Tisches, ihnen den Rücken zugewandt, stand ein junger Mann, wild mit den Händen gestikulierend und mit einer Person redend, die scheinbar nur er sehen konnte.
„Sendet meine Grüße an Kelras Vater und richtet ihm aus, wie geehrt ich mich fühle, mit ihm und seiner Familie speisen zu dürfen. Seine Tochter hat mein Herz wahrlich verzaubert und ich kann kaum erwarten, sie meine Frau nennen zu dürfen."
Scharf und abgehackt klangen seine Worte. Die Stimme Brands war seltsam schrill. Hektisch sprach er und sein Kopf ruckte wie der einer Puppe hin und her.
Er drehte sich auf der Stelle, sodass sie nun sein Gesicht sehen konnten. Tiefes Entsetzen erfasste Lyranns Herz. Die Züge Brands waren seltsam verzerrt, seine Augen lagen tief in ihren Höhlen, ein Schatten lag in ihnen, der ihnen alles menschliche raubte.
„Ja, übermittelt unbedingt die Nachricht vom Tode meines Vaters an unsere Verbündeten... Danke, danke, ja meine Frau brachte eben unseren Sohn zur Welt, wir sind wirklich sehr stolz."
„Brand...", flüsterte Lyrann voller Trauer. Neben ihr starrte Thorin fassungslos auf ihren gemeinsamen Freund. Was war nur mit ihm passiert?
„Brand!", rief Lyrann nun etwas lauter nach ihm. Tatsächlich hielt der Mensch in seiner Bewegung kurz inne und drehte den Kopf zu ihr hin. Ein eiskalter Schauer überlief sie, als der Blick dieser schwarzen Augen sich auf sie richtete.
Thorin schob sich schützend vor Lyrann, aufs Äußerste angespannt.
„Lasst mich allein!", rief Brand mit einem Mal, mit einer Stimme so ganz anders als sie eben noch gehört hatten. Tief und hallend, wie aus einem Grab war sie. Einem Donnergrollen ähnlich rollten die Worte über sie hinweg.
Erschrocken zuckten Thorin und Lyrann zurück. Der Zwerg griff nach dem Arm seiner Frau und hielt zog sie ein paar Schritt zurück.
„Sein Sinn für die Realität wurde verwirrt.", sagte Galadriel leise und sah auf den Menschen, der sich nun eben wieder von ihnen abwandte und zurück in sein hektisches Gemurmel verfiel.
Die Elbin trat einen Schritt vor. „Brand, Bains Sohn!", rief sie laut und ihre Stimme hallte gebieterisch von den Wänden wieder.
Brand hielt inne und sah langsam zu Galadriel hin. Diese streckte nun die Hand nach ihm aus. „Verlasse den Schatten, der deinen Geist gefangen hält.", sagte sie, die Worte kaum mehr als ein eindringliches Flüstern, „Wende dich ab von Verzweiflung und Dunkelheit. Kehre zurück ins Leben!"
Mit angehaltenem Atem starrte Lyrann auf den jungen Mann, der die Augen nicht von Galadriel nahm. Doch keine Dunkelheit flackerte über Brands Gesicht, er blinzelte und mit einem Mal schien er sie alle wahrhaft vor sich zu sehen.
Sein Mund öffnete sich. „Was...?", fragte er.
Doch sie erfuhren nie, was er fragen wollte. Mit einem Mal wurde sein Körper gänzlich steif, er begann zu zittern und brach dann auf dem Boden zusammen.
Alarmiert trat Lyrann vor, als plötzlich eine wirbelnde, dunkle Wolke im Zimmer erschien. Die Temperatur sank rapide. Schwärze dehnte sich im Raum aus und verhüllte Brand vor ihren Blicken. Die Kerzen und das Feuer flackerten verzweifelt und erstarben dann.
Und dann erfüllte der Klang einer tiefen, dunklen Stimme den Raum. Von überall und nirgends schien sie herzukommen. Worte sprach sie, Worte die, obwohl Lyrann sie nicht verstand, von solcher Bosheit waren, dass sie vor Angst erbebte.
„Ash nazg durbatulûk, ash nazg gimbatul, ash nazg thrakatulûk agh burzum-ishi krimpatul!"
Am ganzen Leib schlotternd vor Furcht tastete Lyrann nach Thorin. Aneinander geklammert wichen sie zurück, bis sie die Wand des Zimmers im Rücken fühlten, während Bilder aus Dol Guldur durch Lyranns Geist jagten. Sie kannte diese Stimme. Khamul war hier.
Sie blickte nach vorne, wo Galadriel einsam in der Dunkelheit stand. So verloren und hilflos wirkte die Elbin in dem Strudel aus Schwärze um sie her. Khamul würde sie erdrücken, er würde die Herrin des goldenen Waldes ermorden und dann wäre niemand mehr hier, um Thorin, Brand und sie vor dem Nazgul zu schützen.
Doch mit einem Mal leuchtete ein helles Licht um Galadriel herum auf. Sie hielt etwas in die Höhe, etwas von dem ein Strahlen ausging, wie es Lyrann nur von den hellsten Sternen des Himmels kannte.
Laut und kraftvoll erklang die Stimme der Elbin, als sie rief: „Aiya Eärendil elenion ancalima!"
Sie trat einen Schritt auf die wirbelnde Dunkelheit zu und dort erkannte man nun Brand, am Boden zusammengesunken.
Blitze aus Schwärze fuhren um das helle Licht herum, das Galadriel umgab, doch vermochten sie nicht das Gleißen und Strahlen zu ersticken.
„Verlasse diesen Ort, Geist aus dem Nichts!", rief diese, deren Worte nun laut und hoch und tief und vielstimmig zugleich waren, „Kehre dieser Stadt den Rücken und fliehe zurück in den Schatten, dem du entkrochen bist!"
Die Wolke aus Dunkelheit bäumte sich ein letztes Mal auf, dann fiel sie in sich zusammen und verschwand.
Das helle Leuchten um Galadriel herum verblasste und mit einem Mal leicht zitternd stützte die Elbin sich auf dem Tisch neben ihr auf. Lyrann stürzte nach vorne, um ihr zu helfen. Sie zog einen Stuhl herbei, auf dem Galadriel deutlich geschwächt wirkend, Platz nahm.
Mit einem leisen Stöhnen bewegte Brand sich. Thorin ging rasch zu ihm und beugte sich über den jungen Mann, als dieser die Augen aufschlug und endlich wieder er selbst schien.
Man hatte rasch einen Boten zum Erebor gesandt, der die schwangere Kelra in die Stadt geleitete. Als die junge Frau ihren Ehemann vor sich sah, warf sie sich ihm unter Tränen um den Hals. Lange hielt das Paar einander umklammernd, während Brand immer wieder beruhigende und entschuldigende Worte in das Ohr seiner geliebten Frau flüsterte.
Vollkommen aufgelöst über das, was geschehen war, suchte er immer wieder die Blicke Thorins, Lyranns und Galadriels, die nach kurzer Zeit schon wieder deutlich kräftiger wirkte.
„Es tut mir so leid...", flüsterte Brand fassungslos immer und immer wieder, „Ich spürte den Ringgeist, doch ich konnte nichts gegen ihn unternehmen. Vollkommen hilflos war ich, wie sehr ich auch kämpfte. Thorin, meine Truppen werden sich umgehend dem Kampf wieder anschließen!"
Mit mildem Lächelnd sah Galadriel auf den jungen König.
„Khamul war ein sehr viel stärkerer Gegner, als ihr bezwingen konntet, Brand.", sagte sie sanft, „Schämt euch nicht, schon viele sind der Macht der Nazgul erlegen."
Sie erhob sich und verließ den Raum. Um dem wieder vereinten Paar etwas Zeit für sich zu geben, folgten Thorin und Lyrann ihr.
Unglaublich erleichtert trat Lyrann neben ihrem Mann und Galadriel wieder ins Freie. Die Stadt schien wie ausgetauscht. Jedem einzelnen der Menschen stand die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Und es war so viel wärmer und heller.
„Nachrichten habe ich für euch.", wandte sich Galadriel an die beiden, „Kommt, wir müssen sprechen, an einem Ort, wo wir ungestört sind."
Neugierig, was die Elbin wohl zu sagen hatte, folgten Thorin und Lyrann ihr. Sie bestiegen die Stadtmauer, wo jetzt niemand war.
„Gimli, Gloins Sohn, kam nach Lothlorien. Auf seinen Wegen passierte er Moria.", begann Galadriel mit schwerer Stimme und ein Gefühl von erneuter Kälte, das nichts mit dem Nazgul zu tun hatte, breitete sich in Lyrann aus.
Galadriel sah auf die beiden hinab und tiefes Mitgefühl lag in ihrem Blick. „Die Zwergenkolonie in Khazad-dum wurde ausgelöscht. Er selbst stand vor dem Grab Balins."
Eine scharfe Spitze wurde in Lyranns Herz getrieben. Keuchend griff sie sich an die Brust.
„Sie sind... tot?", hörte sie Thorins fassungslose Stimme. Wie durch einen Nebel sah sie Galadriel nicken.
Plötzlich schwankend tastete Lyrann nach der Mauer vor ihr, sie suchte nach Thorins Hand und fand sie, während Bilder vor ihrem inneren Auge vorbei wirbelten.
Balin... Oin... Ori...
Balin hatte Thorin dazu überredet, sie mitzunehmen.
Ori hatte als einer der ersten Zwerge ihr sein Vertrauen geschenkt.
Oin hatte sie durch jede ihrer Schwangerschaften begleitet.
Der Schmerz war fast nicht auszuhalten. Sie nahm die Tränen gar nicht wahr, die über ihre Wangen flossen.
Sie drehte den Kopf und sah zu Thorin, dessen Miene vor tiefer Trauer verzerrt war.
„Ich hätte ihm niemals...", begann er, die Stimme brüchig und nicht mehr die seine.
Überwältigt von Trauer schlang Lyrann die Arme um ihn und fühlte, wie auch er sie an sich zog. Hemmungslos schluchzend ließ sie den Kopf gegen Thorin sinken, während sie um ihre Freunde trauerte. Deutlich fühlte sie wie Thorins Schultern bebten und er das Gesicht in ihre Haare drückte.
Wie lange sie so dastanden, konnte sie nicht sagen. Irgendwann verebbten ihre Tränen und sich wund und aufgerieben fühlend, richtete Lyrann sich langsam auf. Sie suchte Thorins Blick und sah unglaubliche Traurigkeit in seinen Augen. Er hatte seinen Freund und Mentor verloren und zwei seiner engsten Freunde. Tiefe Schuld musste ihn quälen, dass er Balin die Unternehmung gestattet hatte.
„Gebt euch keine Schuld.", sagte Galadriel leise, „Zu sehr brannte die Sehnsucht nach der Heimat seiner Vorväter in Balin, Fundins Sohn. Ein würdiger und großer Herrscher Morias war er, wenn auch nur für kurze Zeit."
Schweigend sahen sie auf den langen See unter ihnen. Dann begann die Elbin wieder zu sprechen.
„Euer Sohn weilte in Lothlorien."
„Was?", brach es aus Thorin heraus und voll Unglauben wandten sich beide der Elbin zu. Lyranns Herz begann freudig zu stolpern. Thrain, Thrain lebte! Er war in Lothlorien gewesen!
„Wie geht es ihm?", rief sie und nun strömten Tränen der Freude über ihr Gesicht. „Wann... Was... Warum..?"
Zu viele Fragen wirbelten durch Lyranns Kopf, keine einzige davon konnte sie formulieren. Sie starrte auf Galadriel, die ihnen in all dieser Dunkelheit so wunderbare Nachrichten gebracht hatte.
Thorin neben ihr, stützte sich schwerfällig an der Mauer ab, so überwältigt schien er, zum ersten Mal seit so langer Zeit wieder Nachricht von seinem Sohn zu erhalten. „Thrain...", brachte er hervor.
„Viel hat er erlebt und viel durchlitten.", berichtete Galadriel, „Doch erinnert er sich wieder daran, wer er ist."
„Wann kommt er zu uns zurück?", rief Lyrann.
Die Elbin wiegte den Kopf hin und her. „Diese Entscheidung liegt noch vor ihm.", sagte sie, „Er hat sich einer Gemeinschaft angeschlossen, die einem gefährlichen Auftrag folgt. Doch schon lange hat er euch vergeben und ich fühle, dass er auch bald den Mut finden wird, sich selbst zu vergeben."
Strahlend sahen Lyrann und Thorin sich an. Thrain lebte! Er war in Lothlorien gewesen und es schien ihm gut zu gehen. „Er hat uns vergeben...", echote Thorin mit bebender Stimme und kurz schloss er die Augen.
Zutiefst aufgewühlt hielten sie einander an den Händen, als Galadriel ein letztes Mal zu sprechen begann: „Ich werde euch nun verlassen. Mein Volk braucht mich."
Eindringlich sah sie auf sie hinab. „Der Erebor darf nicht fallen!", sagte sie, „Fällt der einsame Berg, so ist auch der Norden Mittelerdes verloren."
Damit wandte die Elbin sich ab und ging lautlos davon.
Noch vollkommen überwältigt von der Nachricht, die Galadriel ihnen überbracht hatte, kehrten Thorin und Lyrann zum Berg zurück. Laut begrüßte sie die Fanfare des Erebor, als sie durch das Tor schritten. Hand in Hand gingen sie durch einen Flur, als eine Stimme plötzlich nach ihnen rief.
„Thorin! Lyrann! Was ist in Thal geschehen?"
Lyranns Herz blieb stehen und wieder überkam sie Kummer. Dwalin...
Da stand der bärbeißige, glatzköpfige Krieger auch schon vor ihnen, der beste Freund des Königspaares, Balins Bruder.
Sie und Thorin tauschten einen langen, schmerzvollen Blick, der sofort den Argwohn Dwalins weckte.
„Was ist los?", fragte er.
„Dwalin...", begann Thorin leise.
Voller Mitgefühl und Trauer betrachtete Lyrann das Gesicht ihres Freundes, das mit jedem Wort Thorins dunkler und schmerzefüllter wurde.
„Gimli stand vor seinem Grab...", schloss Thorin mit leidvoller Stimme.
Stille herrschte. Langsam nickte Dwalin, neigte den Kopf vor ihnen und ging davon, jeder Schritt unglaublich schwer und müde. Er bog um eine Ecke und war verschwunden. Lyrann wollte ihm schon nachlaufen, wollte trösten, helfen, doch Thorin hielt sie am Arm fest und schüttelte den Kopf, die Augen glitzernd vor Tränen.
Nur kurz standen sie da, als mit einem Mal ein lauter, gequälter Schrei voller Schmerz den Berg erschütterte.
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