Kampf um Thal
An diesem Abend errichtete Thrain kein Lager. Zu groß war der Wunsch, endlich wieder nach Hause zu kommen.
Und so schnürte er seinen Beutel neu, ließ die Bäume des Düsterwaldes hinter sich und näherte sich dem Ufer des Sees. Dann lenkte er seine Schritte in Richtung des Erebor. Die Sonne versank im Westen und beleuchtete in einem großartigen Schauspiel die schneebedeckte Spitze des einsamen Berges, welche im Abendlicht golden und rot funkelte.
Thrains Augen waren fest auf den Erebor gerichtet, seine Gedanken wirbelten wild umher. So sehr sehnte er sich nach seiner Heimat, endlich wieder durch die ihm so gut bekannten Hallen und Gänge zu wandeln, seine Freunde wieder zu sehen, Jari und Skafid, und seine Familie...
Was würden sie sagen, wenn er plötzlich vor ihnen stand? Würden sie ihn überhaupt wieder erkennen? Er hatte sich sehr verändert in den fast anderthalb Jahren, die er von zuhause fort geblieben war. Gimli hatte schon ihn nicht auf Anhieb erkannt.
Ging es ihnen überhaupt gut? Es bestand kein Zweifel, dass der Krieg, mit dem Sauron das Land überzog, auch vor den Gegenden um Thal und Erebor nicht Halt gemacht hatte. Panik drohte ihn zu überwältigen bei dem Gedanken, dass eines seiner Familienmitglieder vielleicht dem Krieg bereits zum Opfer gefallen war.
Mit wild klopfendem Herzen schritt er rasch voran, die Hände zitterten leicht vor Aufregung. Er vermutete, dass er dennoch bis mindestens zum Mittag des nächsten Tages brauchen würde, bis er vor den Toren des einsamen Berges stehen würde.
Dunkelheit senkte sich über den See, als die Nacht herein brach. Ein klar funkelnder Sternenhimmel erhob sich nun über Thrain und leuchtete ihm den Heimweg. Das Licht der letzten Wintersterne spiegelte sich im See, der an der Seite des Zwerges leise murmelnd gegen das Ufer schwappte.
Mehrere Stunden vergingen, als er an die Brücke heran kam, die die Stadt Esgaroth mit dem Ufer verband. Thrain blieb stehen und sein Blick wanderte hinüber zu der Stadt der Menschen, von der nun nur noch Ruinen übrig geblieben waren. Dank des hellen Sternenlichts konnte er gut die Gerippe der abgebrannten Häuser und die Zerstörung sehen, die das Feuer angerichtet hatte.
Das Herz zog sich ihm voll Trauer zusammen. Früher war dies eine lebhafte Stadt gewesen, das pulsierende Zentrum des Handels im Norden Mittelerdes. Und nun... Kein Rauch stieg mehr von den Schornsteinen auf, kein Fackeln oder erleuchteten Fenster erhellten die nächtliche Stadt. Niemand lebte mehr dort. Still und verlassen lag Seestadt da vor ihm.
Schließlich wandte er sich von dem traurigen Anblick ab und ging weiter, folgte der Uferstraße, die ihn zum Ende des Sees, den Berghang am Wasserfall hinauf und nach Thal führen würde.
Der plötzliche Klang von Trompeten, die zum Alarm bliesen, riss Thrain aus seinen Gedanken. Erschrocken hob er den Blick. Er kannte diese Trompeten. Aber es waren nicht die tiefen, dunklen Hörner des Erebor, die da vor Gefahr warnten. Nein, es waren die Trompeten von Thal.
Schockiert sah er in die Richtung der Stadt, die noch vor seinem Blick verborgen war. Es gab nur eine Möglichkeit, Thal wurde angegriffen.
Ohne weiter nachzudenken, verfiel er in einen schnellen Laufschritt.
Das Geräusch von Trompeten holte Lyrann brutal aus dem Schlaf. Sofort saß sie kerzengerade im Bett.
„Was ist los?", hörte sie Thorins Stimme und fühlte, wie ihr Mann neben ihr nach Glimmspan und Kerze tastete.
„Ich weiß nicht...", erwiderte Lyrann verwirrt. Der Schein der Kerze flammte auf und offenbarte das alarmierte Gesicht Thorins. Angestrengt lauschte Lyrann. Waren da Trompeten gewesen?
Thorin schlug bereits die Bettdecke zurück und erhob sich. Da erklang mit einem Mal Fußgetrappel und die Tür zum königlichen Gemach wurde aufgerissen.
„Eure Majestäten!"
Ein Soldat vom Haupttor schlitterte in ihr Schlafzimmer und kam nach Atem ringend vor ihnen zum Stehen. „Thal wird angegriffen!", japste er, „Orks aus Gundabad nähern sich der Stadt."
Schockiert starrte Lyrann ihn an. Es war soweit. Der Feind war hier.
„Blast sofort zum Angriff!", befahl Thorin, „Lasst die Kriegsbatallione antreten. Weckt Frerin, Fenja und meine Neffen. Ebenso Utarth und Kharyur, wenn das nicht schon geschehen ist. Sie sollen sich am Portal versammeln."
Der Soldat verneigte sich kurz, drehte auf dem Absatz herum und rannte mit klappernder Rüstung nach draußen.
Eilig stand Lyrann auf. „Thorin...", sagte sie leise und suchte den Blick ihres Mannes. Sie musste es nicht aussprechen, auch ihm stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben. Wenn der Feind Thal einnahm, würden sich die gegnerischen Heere vorm Erebor versammeln. Ihr Volk würde um sein Überleben kämpfen müssen. Alle anderen Verteidigungslinien hatten versagt. Die Eisenberge waren gefallen, das Volk Daíns hierher zu ihnen geflohen, Seestadt war abgebrannt und die Ostlinie hatte sich bis hierher zum einsamen Berg zurück gezogen, Utarth und Kharyur waren vor wenigen Tagen mit den Resten des östlichen Heeres wieder zum Erebor gekommen.
Ohne ein weiteres Wort rannte das Königspaar los in Richtung der Waffenkammer.
Wenig später hatten sie ihre volle Rüstung bereits angelegt. Das Licht der Fackeln brach sich funkelnd im weißen Mithrilkleid Lyranns. Über der Schulter trug sie Pfeil und Bogen, das Schwert, das Thorin ihr einst geschmiedet hatte, war um ihre Hüfte gegürtet. Thorin trug die goldverzierte Rüstung des Königs unter dem Berge. Ein eingravierter Adler breitete auf dem Brustpanzer seine Schwingen aus, Orcrist war wie immer auf seinen Rücken gegürtet. Schwer schlugen die Stiefel mit jedem seiner Schritte auf dem Boden auf.
In der Vorhalle drängten sich die Krieger, die man in aller Eile zusammen getrommelt hatte. Zwerge des Erebor standen da Schulter an Schulter mit den Soldaten der Schwarzschmiede, Breitstämme und Feuerbärte, die Utarth und Kharyur mitgebracht hatten.
Und dort, direkt am Tor warteten die anderen bereits auf sie. Fili, die Arme vor der Brust verschränkt, ließ den prüfenden Blick seines verbliebenen Auges über die Soldaten schweifen. Kili und Tauriel, beide mit Bögen der Düsterwaldelben bewaffnet, sprachen leise miteinander. Dwalin war da, bis an die Zähne bewaffnet und mit düsterem Gesichtsausdruck. Seit der Nachricht von Balins Tod war er nur noch grimmiger geworden. Kharyur, in eine vollkommen schwarze Rüstung aus Leder und Metall gekleidet, neben Utarth, der sich schwer auf einen mächtigen Kriegshammer stützte. Und da waren Fenja und Frerin, neben ihnen Skafid und Jari. Frerin befingerte nervös den Griff seines Schwertes, während Fenja mit eiskaltem Blick ihre Wurfmesser durch die Finger wirbeln ließ.
Ihre Augen wandten sich Thorin und Lyrann zu, als diese zu ihnen eilten.
Lyrann suchte kurz den Blick ihrer beiden Kinder und das Herz zog sich ihr voll Kummer zusammen, als sie Fenjas gefühlslose, kampferprobte Miene und Frerins blasse Nasenspitze sah.
„Frerin, Fenja!", wandte Thorin sich an die beiden, „Ihr bleibt mit Kili und Tauriel und einer Gruppe Soldaten hier."
Fenja machte schon den Mund auf, um zu protestieren, doch Skafid legte ihr sanft eine Hand auf die Schulter.
„Wir brauchen euch hier, für den Fall, dass der Feind versucht, uns in die Flanke zu fallen. Ihr müsst uns die Möglichkeit des Rückzugs offen halten.", schaltete Lyrann sich ein, die die Gedanken ihres Mannes erraten hatte.
Dankbar sah Thorin zu ihr und seine Mundwinkel zuckten in der Andeutung eines Lächelns in die Höhe.
Ein letzter Blick zu den Zwillingen, Skafid, Jari, Kili und Tauriel, bevor diese sich abwandten und zu den Wachtürmen eilten. Kili winkte einer Truppe Soldaten, die sich ihnen anschlossen.
Thorin zog Orcrist und trat an das Portal.
„Khazad!", rief er über die Menge hinweg, die sofort still wurde, „Zum Angriff! Du bekar!"
Das riesige Tor schwang auf und die kalte Luft einer späten Winternacht wehte ihnen entgegen.
Die gewaltigen Hörner des einsamen Berges erklangen in lauter Fanfare, dass der Stein unter ihren Füßen erbebte. Der Erebor kam Thal zu Hilfe.
„Du bekar!", stimme Lyrann in den Schlachtruf ein und rannte neben Thorin los. Dwalin, Fili, Utarth und Kharyur liefen an der Seite des Königspaares. Das Heer der Zwerge folgten ihnen mit wehenden Bannern.
Der Boden bebte unter den schweren Stiefeln der Zwergenkrieger, die hinter Lyrann und den anderen in raschem Tempo die Straße entlang trabten. Die Banner der Langbärte, Schwarzschmiede, Feuerbärte und Breitstämme flatterten über ihren Köpfen in der kalten Nachtluft. Laut hallte das Horn des Erebor über die Ebene, als Antwort auf die hellen Trompeten Thals, die noch immer Alarm bliesen.
Im Rennen zog Lyrann ihren Bogen und griff nach einem ihrer Pfeile. Voller Dankbarkeit dachte sie daran, dass Thorin ihren Kindern befohlen hatte, im Berg zu bleiben. Vermutlich würden sie alle bald in großer Gefahr schweben, aber so waren Fenja und Frerin noch eine Weile geschützt.
Sie legte den Pfeil auf die Sehne und hielt den Bogen im Anschlag.
Da tauchte Thal vor ihnen auf.
Die Stadt war hell erleuchtet, obwohl es mitten in der Nacht war. Das ihnen zugewandte Tor stand sperrangelweit offen. Auf den Mauern rannten Soldaten hin und her. Laute Schreie drangen aus der Stadt.
Ohne zu zögern überwanden sie das letzte Stück und eilten durch das Tor.
Chaos herrschte hier. Soldaten der Menschen eilten hin und her, gürteten sich eilig mit ihren Waffen. Panisches Weinen und Rufen erfüllte die Straßen. Die Bewohner Thals und die Flüchtlinge von den Landen an der Rotwasser rannten umher, suchten nach Schutz. Karren lagen umgestürzt quer über den Wegen, Hausrat war auf den Straßen verteilt.
Suchend sah Lyrann sich um, versuchte, sich einen Überblick über die Lage zu verschaffen.
„Thorin! Lyrann!"
Eine wohl bekannte Stimme drang zu ihnen durch.
Sie hob den Blick und erkannte Bifur, der hier in Thal lebte und nun auf sie zugerannt kam.
„Bifur!", rief Thorin erleichtert und lief auf den Freund zu. Er packte den Spielzeugmacher an der Schulter und fragte eindringlich: „Wo ist der König? Sind die Orks in die Stadt eingedrungen?"
Bifur deutete in Richtung des anderen Endes der Stadt. „Brand ist an der Stadtmauer!", rief er über den Lärm in den Straßen hinweg, „Dort ist der Angriff am stärksten! Noch sind die Angreifer nicht über die Mauer gekommen, aber das ist nur eine Frage der Zeit."
Thorin nickte, dann wandte er sich ihren Begleitern zu. „Utarth! Kharyur! Ihr sichert die Stadt. Erschlagt jeden, der es wagt, diese Mauern zu überwinden!"
Er drehte den Kopf und sah zu Lyrann. Kurz tasteten ihre Hände nacheinander, berührten sich in zärtlicher Geste. „Fili, Dwalin und Lyrann, wir suchen den König."
Sie eilten los, während Utarth und Kharyur mit ihren Männern in die Stadt ausschwärmten.
Unter Bifurs Führung fanden sie schnell den Mauerabschnitt, wo der Kampf am heftigsten war. Das Brüllen kämpfender Männer und Klirren aufeinander prallender Waffen durchmischte sich mit den gequälten Schreien und dem Schluchzen Verletzter.
„Dort!", rief Bifur und deutete zur Mauerkrone.
Lyrann hob den Blick und erkannte Brand, die Krone Thals auf dem Haupt, gekleidet in eine Metallrüstung aus den Schmieden Erebors. Sein dunkelgrüner Umhang wirbelte um ihn her, während er mit wilden Schlägen seines Schwertes jeden Ork niedermetzelte, der ihm zu nahe kommen wollte.
Kurz überlegte Lyrann, mit ihrem Bogen von hier unten auf die Orks auf der Mauer zu schießen, doch dort oben herrschte so dichtes Gedrängel, dass sie sich nicht recht traute.
„Schwärmt entlang der Mauer aus!", hörte sie Thorin den Soldaten befehlen.
Rasch steckte sie Pfeil und Bogen weg und zog stattdessen ihr Schwert. Ein kurzer Blick zu Thorin, der ihr zunickte, und sie beide rannte auf die Treppe zu und hinauf auf die Mauer.
Endlich erreichten sie die Mauerkrone, auf der wild gekämpft wurde. Verzweifelt wehrten sich die Menschen von Thal gegen eine schiere Übermacht an Orks, die auf Leitern in die Höhe kletterten.
Und dahinter... Lyrann erstarrte.
Eine brodelnde, schwarze, flackeltragende Masse schob sich auf die Stadt der Menschen zu.
„Thorin!", sagte sie und blickte mit schreckgeweiteten Augen zu ihm.
Ihr Mann kam an ihre Seite und blickte ebenfalls über die Masse der Feinde.
Dann wandte er sich ab und rannte auf Brand zu. „Brand!", brüllte er. Wild schwang er Orcrist um sich und schlug sich so einen Weg zu dem jungen Menschenkönig frei. Lyrann eilte ihm hinterher.
„Brand!", rief er erneut.
Da drehte sich der junge Mann zu ihnen um. Sein Gesicht leuchtete vor Dankbarkeit auf, als er sie erblickte.
„Thorin, Lyrann!", grüßte er sie. Kurz fasste er Thorins Arm.
„Eru sei Dank, dass ihr hier seid.", sagte er, „Lange hätten wir nicht ausgehalten. Wir haben kaum Chancen, hier allein zu bestehen."
„Was ist mit den Bewohnern der Stadt, den Frauen und Kindern?", rief Thorin.
„Meine Frau hat versucht, alle in der Markthalle zusammen zu treiben, aber ich weiß nicht, ob sie alle gefunden hat.", erwiderte Brand voller Sorge, „Ich glaube, die Orks konnten bereits an anderen Stellen über die Stadtmauer gelangen."
Thorin sah zu Lyrann hinüber. Lange sahen sie einander an. Lyrann wollte nicht von Thorin getrennt sein, nicht hier in der Schlacht... Doch sie nickte.
„Ich werde gehen und denjenigen helfen, die nicht zur Markthalle kommen konnten.", sagte sie.
Thorin zog sie an sich und gab ihr einen festen Kuss. „Pass auf dich auf!", sagte er rau. „Du auch!", erwiderte Lyrann. Dann eilte sie davon.
Mit hämmerndem Herzen eilte Lyrann die Treppe zur Stadtmauer wieder hinab. Ein letzter Blick auf ihren Ehemann, der sich erneut den Orks entgegen warf, dann drehte sie sich um und rannte zurück in die Stadt.
Tatsächlich hatten die Angreifer es geschafft, an anderer Stelle die Stadtmauer zu überwinden. Lautes Schreien und Kampfgeräusche waren nun überall zu hören.
Mit gezogenem Schwert verschwand Lyrann in einer der Seitengassen, auf der Suche nach Bewohnern Thals, die in der Falle saßen. Eine Weile lief sie durch verwaiste Straßen, vorbei an offen stehenden Türen und zertrümmerten Möbelstücken, die auf den Pflastersteinen verteilt lagen.
Sie bog um eine Ecke und erblickte eine Gruppe Orks, die eben eine brennende Fackel in eines der Gebäude warfen. Mit schrillem Lachen beobachteten sie, wie die Einrichtung Feuer fing.
Ein lauter Wutschrei kam über Lyranns Lippen. Sie hob ihr Schwert und rannte auf die Eindringlinge zu. Diese wandten sich ihr zu. Geifer floss ihnen aus den Mäulern, die sich zu einem widerlichen Grinsen verzogen.
Klirrend trafen die Waffen aufeinander. Ein Hieb zielte auf Lyranns Seite, die gerade rechtzeitig ihr Schwert herum reißen konnte, um den Schlag abzublocken. Sie wirbelte herum, führte einen Streich gegen den Ork seitlich von ihr und durchtrennte glatt dessen Hals.
Mit unglaublicher Geschwindigkeit teilte sie Hiebe aus, ihre elbische Gewandtheit und die jahrzehntelange Erfahrung voll ausnutzend.
Sie schmetterte einen Hieb beiseite, ihre Klinge fraß sich in die ungeschützten Kniekehlen der Orks, sie rollte unter einem Angriff einfach weg. Schließlich lagen die Orks, die es eben noch gewagt hatten, sie anzugreifen, erschlagen vor ihr.
Lyrann gönnte sich kaum Ruhe. Sie drehte sich um und rannte weiter. Angstvolle Schreie drangen an ihr Ohr.
Eine Straßenecke weiter wurden zwei Frauen und ihre Kinder von einem Ork belauert. Drohend hob das Monstrum seine Waffe in die Höhe. Die Menschen wichen weinend und vor Angst bebend zurück. Schützend hatten die Frauen die Kinder hinter sich geschoben, doch sie hatten keine Chance gegen den Ork.
Lyrann war mit einem Satz bei ihm. Viel zu langsam drehte der Ork sich herum, da durchbohrte ihn schon Lyranns Klinge.
Blut spritzte auf, als er zu Boden ging. Mit einem spitzen Aufschrei wichen die Menschen, die eben noch in Lebensgefahr geschwebt hatten, vor dem gefällten Ork zurück. Eine der Frauen starrte mit weit aufgerissenen Augen auf die Blutlache, die sich am Boden bildete. Sie war leichenblass und sah aus, als würde sie sich jeden Moment übergeben.
Lyrann packte ihren Unterarm. „Wir müssen hier weg!", sagte sie eindringlich, „Kommt mit!"
Sie lief los und die anderen folgten ihr rasch. Auf direktem Wege eilte Lyrann zu der Markthalle, wo sie hoffte, Kelra und die anderen Bewohner Thals zu finden. Unterwegs fand sie tatsächlich noch andere Familien, die sich ihnen anschlossen.
Sie bogen eben in die letzte Straße vor der Markthalle ein, als plötzlich vor ihnen eine Gruppe von über einem Dutzend Orks auftauchte. Abrupt blieb Lyrann stehen und sah sich hektisch um. Wie sollte sie die Menschen vor all diesen Feinden beschützen?
Da erblickte sie einen Hof, der zu einem der feinen Häuser Thals gehörte. „Dort hinein!", rief sie in scharfem Ton und ohne zu zögern, gehorchten die Menschen ihr. Eilig rannten sie durch das offene Tor in den Hinterhof und Lyrann baute sich mit erhobenem Schwert in dem Durchgang auf.
Sie stand einer Übermacht gegenüber und sie konnte nur hoffen, dass die Orks nicht noch mehr Unterstützung bekamen.
Da war der erste Ork schon heran. Seinen Hieb konnte Lyrann mühelos abfangen, ihr Schwert wirbelte herum und bohrte sich in den Hals des Feindes. Noch bevor dieser am Boden lag, war da schon der nächste. Nur haarscharf entkam Lyrann seinem Hieb, den Luftzug seiner Waffe spürte sie deutlich an der Wange.
Nur wenige Lidschläge später war sie umringt von Orks. Die Schläge ihrer Waffen prasselten auf sie nieder, immer öfter wurden sie nicht von ihrem Schwert, sondern von dem Mithrilkleid abgefangen. Ächzend wehrte sie einen Hieb nach dem nächsten ab, kämpfte bald um ihr pures Überleben. Doch keiner der Orks kam an ihr vorbei.
„Du bekar!"
Ein lautes Brüllen erklang plötzlich an ihrer Seite. Sie warf den Kopf herum und erkannte eine Gruppe Zwerge, die sich zu ihr durchkämpfte. An ihrer Spitze Kharyur, der König der Schwarzschmiede.
Mit wilden Schwüngen seiner Waffe hackte der Zwerg sich einen Weg zu ihr. Nur einen kurzen Moment begegneten sich ihre Augen, dann stellte er sich neben ihr den Feinden.
Wenig später waren die Orks, die Lyrann so bedrängt hatten, überwältigt. Die Krieger Kharyurs scharten sich um sie und nahmen schützend die Menschen aus Thal in ihre Mitte.
„Habt Dank, Kharyur.", wandte Lyrann sich an den schwarzhaarigen Zwergenkönig, der nur kurz den Kopf vor ihr neigte.
„Wir müssen weiter!", rief Lyrann dann, „Folgt mir!"
Endlich erreichten sie die Markthalle. Der Platz, auf dem so oft Märkte oder Feste gehalten worden waren, war gespenstisch leer. Sie eilten auf die große Halle zu und Lyrann stieß das Tor weit auf. Erleichtert strömten die Menschen in ihrer Obhut in den großen Saal.
„Kelra!", rief Lyrann und sah sich suchend um.
Da erblickte sie die junge Königin, die auch schon auf sie zugeeilt kam. Kelra war reichlich blaß im Gesicht, eine Hand lag schützend auf ihrem mittlerweile stark gewölbten Bauch. Doch ansonsten war sie erstaunlich gefasst.
„Lyrann!", grüßte sie die Königin unter dem Berge, als sie bei ihr war, „Wie gut, dass ihr gekommen seid. Wie ist die Lage an den Mauern?"
Die Halbelbin presste die Lippen aufeinander. „Nicht gut...", erwiderte sie und sah besorgt über die Stadt, die vor ihnen lag. Der Kampflärm war deutlich zu hören und mittlerweile brannten mehrere Feuer innerhalb der Stadtmauern. Mühsam versuchte Lyrann sich nicht zu genau auszumalen, welcher Übermacht sich Thorin gerade gegenüber sah. „Und es kommen auch immer wieder Orks in die Stadt.", ergänzte sie.
„Aber was sollen wir tun?", fragte Kelra, „Wir können hier nicht bleiben. Ich kann mein Volk nicht hier einfach darauf warten lassen, abgeschlachtet zu werden."
Lyrann schüttelte den Kopf. „Nein, ihr müsst hier fort. Und zwar so schnell wie möglich.", stimmte sie der Königin bei. Einen Entschluss fassend deutete sie zum Erebor. „Der Erebor wird euch Schutz bieten. Sammel dein Volk, wir bringen euch sicher zum Berg."
Kelra nickte und eilte davon. Lyrann sah voller Trauer in die Richtung, in der sie Thorin vermutete. Sie wollte bei ihm sein, an seiner Seite kämpfen. Doch der Schutz Kelras und der Frauen, Kinder und Alten von Thal hatte Vorrang.
„Meine Herrin!", erklang eine dunkle Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um und sah voller Überraschung, dass Kharyur hinter ihr stand.
„Meine Krieger und ich bringen die Menschen zum Erebor.", sagte der Schwarzschmied ruhig und voller Entschlossenheit, „Geht ihr zu Thorin." Erstaunt sah Lyrann ihn an. Es war als hätte er ihre Gedanken gelesen.
Noch bevor sie etwas erwidern konnte, war Kelra schon wieder bei ihnen. Hinter ihr sammelte sich eine Traube von Menschen, die angstvoll in Richtung des Kampflärmes schauten.
„Folgt mir, Kelra!", sagte Kharyur, packte seine Waffe fester und mit einer letzten Neigung des Kopfs in Lyranns Richtung führten er und seine Männer die Flüchtlinge aus der Markthalle.
Lyrann blickte ihnen nur kurz nach. Dann wirbelte sie auf dem Absatz herum und rannte zurück zu der Stadtmauer.
Diesmal stieß sie auf keine Orks und sie flehte zu Mahal, dass ihr Mann noch lebte. Endlich bog sie um die letzte Ecke und da sah sie ihn. Dort kämpfte Thorin auf der Mauer, Brand, Bifur, Dwalin, Fili und die vielen Krieger aus Thal und Erebor an seiner Seite.
„Thorin!", schrie sie und eilte los. So schnell sie konnte flog sie die Treppe hinauf zur Mauer, das Schwert bereits gezogen und fiel wie ein Wirbelsturm über die Feinde her, die ihren Mann bedrängten.
„Lyrann!", rief Thorin voll Erleichterung, als er sie zu Gesicht bekam.
Bald war sie an seiner Seite.
Da kämpfte sich Brand zu ihnen durch. „Kelra?", rief er fragend, die Angst stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben, „Wo ist meine Frau?"
„Kharyur bringt sie und die anderen zum Erebor!", erwiderte Lyrann, bevor sie sich schon dem nächsten Gegner zuwandte.
Mit brennenden Lungen rannte Thrain immer weiter. Endlich ließ er den See hinter sich, machte sich an den Aufstieg zu Thal. Am Himmel erkannte er den Widerschein von Feuern, deutlich konnte er Schreien und Waffengeklirr hören, der Kampf um die Stadt war bereits entbrannt. Die Trompeten von Thal und das Horn des Erebor waren bereits wieder verstummt. Nun konnte er nur noch die entsetzlichen Geräusche der Schlacht hören.
Die Stadt kam in Sichtweite, als eben der Himmel im Osten begann sich heller zu verfärben. Der neue Tag war nicht mehr fern. Doch wie viele Männer und Frauen würden ihn noch erleben?
Endlich hatte er die Kuppe, über die der Wasserfall zum langen See hinab brauste, erreicht und Thal lag vor ihm.
Sein Herz zog sich voll Grauen zusammen, als er das Ausmaß des Kampfes erblickte. Orks bedrängten die Stadt und die Verteidiger waren gerade so in der Lage, die Stadtmauer zu halten. Doch Thrains Blick wurde wie von selbst zum Erebor gelenkt, dessen Portal er nun endlich wieder sehen konnte.
Und dort auf der Straße zum Erebor waren Flüchtlinge! Von Thal aus rannten sie so schnell wie sie nur konnten in Richtung des einsamen Berges. Doch etwas näherte sich ihnen. Thrain keuchte auf, als er ein weiteres kleines Heer sah, das von Osten her auf die Menschen der Stadt zukam.
Sie brauchten Hilfe!
Er dachte nicht weiter nach sondern rannte auf die Flüchtenden zu, die Stadt hinter sich zurücklassend. Als er näher kam, erkannte er eine Gruppe Zwerge, die sich nun zurückfallen ließen, um sich den Angreifern entgegen zu stellen.
Mit unglaublicher Geschwindigkeit näherten die Feinde sich den Kriegern. Und Thrain erkannte, dass es Reiter waren! Doch das waren keine Pferde, die sie ritten, auch keine Warge...
Er lief so schnell er nur konnte auf die Zwerge zu. Als er in Rufweite war, brüllte er den flüchtenden Menschen zu, die mit schreckgeweiteten Augen auf die Schreckensgestalten sahen, die sich ihnen näherten: „Lauft! Lauft weiter zum Berg!"
Dann zog er seine Axt und schloss zu den Kriegern auf. Aus den Augenwinkeln sah er einen völlig in schwarz gekleideten Zwerg, der lauthals Befehle brüllte. Dies waren keine Zwerge aus dem Erebor, Schwarzschmiede mussten es ihrer Rüstung nach sein. Doch für derartige Überlegungen hatte er keine Zeit. Rasch wandte Thrain seinen Blick den Feinden zu und sein Inneres schien zu gefrieren.
Menschen in dunklen Lederrüstungen, die mit grellen Farben bemalt waren, ritten auf alptraumhaften, geschmeidig rennenden Geschöpfen mit langen, säbelartigen Zähnen auf sie zu.
Sie würden sie einfach überrennen!
„Zum Berg!", schrie er. Er packte den Krieger, der ihm am nächsten war und zerrte ihn mit sich. Verwirrt starrten ihn die anderen Zwerge an, doch es war ihm egal. Wenn sie Glück hatten, erreichten sie den Berg. Gegen diese heranrasende Bedrohung hatten sie keine Chance. Es war wichtiger, jetzt so viele Leben zu retten wie möglich.
„Lauft!", brüllte er, „Lauft!"
Endlich gehorchten sie ihm und wandten sich den rettenden Mauern des Erebor zu.
So schnell sie konnten rannten sie los, folgten den fliehenden Menschen. Doch das Tor war noch so weit entfernt! Voller Angst blickte Thrain über die Schulter. Die Bestien waren bald heran gekommen!
Neben ihm rannte der schwarzgekleidete Anführer der Schwarzschmiede. Auch er sah immer wieder zurück. Urplötzlich blieb er stehen, zog einen Dolch und warf ihn mit unglaublicher Wucht gegen die Angreifer. Und tatsächlich bohrte sich die Waffe einem der Geschöpfe in den Hals, sodass es jaulend in die Knie ging.
Thrain bremste ab, packte den Mann am Arm und zog ihn weiter.
Er meinte schon hinter sich den stinkenden Atem der Kreaturen zu fühlen. Sollten sie stehen bleiben und kämpfen? Lieber kämpfend untergehen als flüchtend niedergestreckt zu werden.
Da ertönte über ihnen ein Sirren. Thrain riss den Kopf in die Höhe und erblickte eine Wolke aus Pfeilen, die über sie hinweg schoss. Er sah nicht nach hinten, doch er hörte, wie die Geschosse ihr Ziel fanden.
Die Beine drohten ihm zu versagen, als endlich der Erebor vor ihnen aufragte. Das Tor stand weit offen und mit einer letzten Kraftanstrengung schafften es die Flüchtenden über die Brücke in die Vorhalle. Die grausamen Geschöpfe und ihre Reiter, die sie gejagt hatten, waren durch den Pfeilhagel alle zu Tode gekommen.
Einen Feind nach dem nächsten schlug Lyrann nieder. Immer und immer wieder riss sie ihr Schwert in die Höhe und blockte einen Hieb ab, wirbelte ihre Waffe um her und schlug nach ihren Gegnern. Direkt hinter ihr war Thorin, der brüllend Orcrist schwang. Schon lange verteidigten sie die Stadt. Bald würde die Sonne aufgehen.
Lyrann ließ den Blick über die umkämpfte Stadt und zum Erebor gleiten und sah voll Schrecken, wie die Flüchtlinge aus Thal auf ihrem Weg zum Berg angegriffen wurden.
„Thorin!", schrie sie und deutete auf das Geschehen. Deutlich sah sie die katzenartigen Ungeheuer der Ostlinge, die sich den Menschen und Zwergen näherten. Selbst die Krieger Kharyurs wandten sich nun zur Flucht. Glücklicherweise, denn von den Ostlingen wären sie gnadenlos überrannt worden.
Thorin sah in die von Lyrann gewiesene Richtung und Grauen stand in seinem Blick.
Da zerriss ein schrilles Kreischen die Luft. Der Laut ging Lyrann durch Mark und Bein und beinahe wäre sie zu Boden gegangen, hätte Thorin sie nicht geistesgegenwärtig am Arm gepackt.
Der Blick ihres Mannes flog hektisch umher und da sahen sie ihn. Ein riesiges, schwarz geflügeltes Wesen, das auf die Stadt zuschoss.
„Nazgul!", brüllte Thorin. Lyrann bebte am ganzen Körper. Mit einem Mal war sie wieder auf Dol Guldur, litt unter Folter und Todesangst.
Thorin und Brand warfen sich einen kurzen Blick zu. Die Entscheidung war klar. „Rückzug!", schrien sie beide gleichzeitig, „Zieht euch zurück! Zum Erebor!"
Thorin packte Lyrann und stieß sie vorwärts. Erneut kreischte der Nazgul und halb blind vor Angst taumelte Lyrann auf die Treppe zu.
Chaos herrschte, als Zwerge und Menschen von der Stadtmauer flohen. Lyrann griff Thorins Hand und zog ihn mit. Das Brüllen der Orks, die nun über die Mauer strömten, gellte in ihren Ohren. Thal war gefallen.
Nebeneinander rannten sie die Straße entlang, auf das Stadttor zu, dass zum Erebor führte. Da erklang ein Sirren und ein Schrei gellte neben Lyrann durch die Luft. Sie wirbelte herum. „Bifur!", rief sie, die Stimme brach ihr. Ihr langjähriger Freund stürzte mit verdrehtem Blick zu Boden, ein schwarzgefiederter Pfeil ragte aus seinem Rücken.
Tränen strömten unaufhaltsam über Lyranns Gesicht. Sie wollte auf ihn zurennen, helfen, ihn mit zum Berg bringen... Dort würden sie ihn heilen... Er würde wieder gesund werden... Ihr Herz zersprang in tausend Teile. Die Welt um sie her schien still zu stehen, als sie in die gebrochenen Augen des Zwerges sah.
„Lyrann, nein!" Thorin zerrte an ihr und rief mit einer Stimme, die nicht mehr die seine schien.
Sie drehte den Kopf ihrem Mann zu. Wie konnte er nur? Sie mussten zu Bifur, sie mussten ihm helfen?
Thorin schüttelte den Kopf. „Er ist fort, Lyrann.", krächzte er, packte ihren Arm und zog sie unerbittlich mit sich, fort von Bifur.
Voller Entsetzen sah Thrain vom Tor des Erebor die Straße entlang in Richtung Thal. Die Verteidiger zogen sich zurück. Thal war in der Hand des Feindes. Hals über Kopf flohen Zwerge und Menschen, rannten auf den Erebor zu. Und dort über ihnen flog ein riesiges schwarzes Geschöpf, auf dem eine Gestalt im dunklen Mantel thronte. Sein schrilles Kreischen ließ Thrains Blut in den Adern gefrieren.
Fassungslos sah er, wie die Kreatur sich immer wieder auf die Flüchtenden stürzte, mit ihren riesigen, krallenbewehrten Pranken nach einzelnen Kriegern griff und sie gnadenlos in die Höhe schleuderte. Die gellenden Schreie der Unglücklichen drangen bis zu Thrain durch
Deutlich erinnerte er sich nun an die Erzählungen Frodos und der anderen Gefährten. Ein Nazgul war hier. Ein Nazgul bedrohte seine Heimat.
Da erreichten die Ersten der Flüchtenden den Berg. Erneut erklang das Sirren von Pfeilen von den Wachtürmen. Diesmal flogen sie auf das schwarze Monstrum zu.
Und tatsächlich fanden sie ihr Ziel. Doch es war nicht genug, um die Bestie zu Fall zu bringen. Das Flugtier des Nazgul brüllte zornig auf. Dann, mit einigen kraftvollen Flügelschlägen, drehte es ab, flog wieder nach Thal.
„Schnell!", schrie einer der Krieger, die in die Halle strömten, „Wir haben Verwundete!"
Augenblicklich herrschte Chaos. Zwerge und Menschen drängten mit einem Mal in den Erebor, brüllten durcheinander, stürzten erschöpft zu Boden.
Ein verwundeter Krieger wankte auf Thrain zu, der ihn ohne viel Federlesens unter den Armen packte und mit sich zog. Heiler und und andere Zwerge des Erebor eilten in die Vorhalle, mischten sich unter die Neuankömmlinge, die schnell in die angrenzenden Hallen geführt wurden.
Ein Heiler kam auf Thrain zu und nahm ihm den Verwundeten ab.
Ein lautes Rumpeln erklang. Das Tor des Erebor schlug knallend zu. Rasselnd setzten sich die Verschlussmechanismen in Bewegung, um das Portal zu verriegeln. Die letzten Verteidiger Thals waren in den Berg gekommen.
Thrain drehte sich dem Tor zu...
und stand seinem Vater gegenüber.
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