Heilung
Es war mitten in der Nacht, als Thorin plötzlich aus dem Schlaf gerissen wurde. Ein ungutes Gefühl, wie von drohender Gefahr, hatte sich seiner bemächtigt. Umgeben von der Dunkelheit im Schlafzimmer, in der er nur Schemen ausmachen konnte, tastete er nach dem bereit liegenden Glimmspan und entzündete eine Kerze.
Blinzelnd sah er sich um, wandte den Blick nach links, wo Lyrann neben ihm lag. Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht. Seine Frau war am vorigen Tag in tiefen Schlaf gefallen, nachdem Dori mit seiner Behandlung fertig war. Der Heiler hatte versprochen, am nächsten Morgen wieder nach ihnen zu schauen und Thorin dringend empfohlen, ebenfalls den längst nötigen Schlaf nachzuholen.
Sanft streckte Thorin die Hand nach Lyrann aus, deren Gesicht und Körper von Verbänden bedeckt war. Mit den Fingerspitzen fuhr er über ihre Stirn und zuckte sofort alarmiert zusammen. Ihre Haut glühte vom Fieber. Zwar hatte sie schon am Vorabend erhöhte Temperatur gezeigt, doch das hatte Dori nicht übermäßig besorgt.
Besorgt beugte Thorin sich über seine Frau. Ihr Gesicht war hochrot, Schweißperlen bedeckten ihre Haut und sie schien förmlich in Flammen zu stehen. Nun wurde ihm auch klar, was ihn geweckt hatte. Lyranns Atem ging flach und pfeifend, es schien als wäre jeder Atemzug ein Kraftakt für ihren Körper.
Ohne sich um die Uhrzeit zu scheren, riss Thorin an der Klingel, die seinen Kammerdiener herbei rief. Dori sollte sofort zu ihnen kommen!
„Lyrann!", rief er seine Frau leise und tastete nach ihrem Puls, der glücklicherweise noch kraftvoll unter ihrer Haut zu fühlen war. Auf seine Stimme reagierte Lyrann jedoch nicht. Die Minuten dehnten sich zu Stunden aus, bis endlich sein Kammerdiener den Raum betrat. Mit reichlich übernächtigtem Blick sah er seinen König an. „Was ist passiert, Herr?", fragte er, da er sofort die Sorge in Thorins Augen sah.
„Sie hat hohes Fieber.", erwiderte Thorin, „Weck Dori! Sag ihm, er soll sofort kommen!" Mit einem knappen Nicken eilte der Zwerg wieder davon.
Thorin unterdessen nahm ein feuchtes Tuch zur Hand und tupfte damit Lyranns Stirn ab. „Alles wird gut, Liebste.", murmelte er, „Dori kommt gleich und schaut nach dir." Er wusste nicht, was er tun sollte. Immer wieder fuhr er mit dem Tuch über Lyranns Gesicht und lauschte voller Sorge ihrem angestrengten, keuchenden Atem. Um ihrem Körper etwas frische Luft zu gönnen, zog er die Decke ein wenig zurück.
Da er ansonsten nichts weiter machen konnte, als zu warten, stand er auf und entzündete das Feuer im Kamin, sowie die Lampen im Zimmer. Er würde in dieser Nacht keinen Schlaf mehr finden. Und trotzdem hatte er in dem Wissen, dass Lyrann wieder bei ihm war, besser und erholsamer geschlafen als seit Wochen.
„Was ist los, Thorin?", hallte Doris Stimme durch den Flur, als dieser in das Gemach des Königspaares eingelassen wurde und wenig später das Schlafzimmer betrat. Das graue Haar des Zwerges stand zu allen Seiten ab und er hatte sich lediglich einen schlichten Mantel über das Schlafgewand geworfen, so sehr hatte ihn Thorins Kammerdiener gedrängt.
„Sie hat Fieber...", begann Thorin und konnte sich der Sorge, die in seiner Stimme lag, nicht erwehren, „Und sie atmet so schwer."
Alarmiert eilte Dori an Lyranns Bett und zu Thorins größtem Erstaunen, zog er Lyranns Decke wieder bis an ihr Kinn hoch. „Sie darf nicht auskühlen!", wies er seinen König scharf zurecht. Dieser, sonst wohl erbost über den Tonfall, ließ die Rüge kommentarlos über sich ergehen.
Dori untersuchte Lyrann rasch, nahm Puls, fühlte ihre Temperatur, horchte ihre Lunge und Herz ab.
„Für den Moment werde ich ihr Wadenwickel machen, um die Temperatur zu senken.", sagte er, „Ansonsten rühre ich einen Trunk an, der das Fieber senkt und ihren Körper stärkt. Wir geben ihr außerdem mehr Kissen, um ihren Oberkörper erhöht zu lagern, das wird ihr das Atmen erleichtern. Und ich werde ihre Wunden mit einer Kräuterpaste behandeln, die weiteren Entzündungen vorbeugen wird."
Er wandte sich Thorin zu. „Ich brauche viele Tücher und kaltes Wasser!", forderte er und Thorin lief rasch in das Waschzimmer, um die geforderten Dinge zu holen. Als er zurück kam, wies Dori eben seinen Kammerdiener an, Lyrann aufzurichten, damit Dori ihr ihr einen Stapel Kissen in den Rücken stopfen konnte.
Halb sitzend wurde Lyrann nun fest in ihre Decke gewickelt, lediglich die Beine entblößte Dori, um diese mit kalten, nassen Tüchern zu umwickeln. Thorin beobachtete angespannt jede Bewegung Doris. Schließlich erhob der Zwerg sich. „Ich werde nachher mit der Medizin zurück kehren.", sagte er an Thorin gewandt, „Es kann einen Moment dauern, da ich viel vorzubereiten habe."
Damit eilte er aus dem Zimmer, gefolgt von Thorins Kammerdiener.
Die Sonne erhob sich eben im Osten und beschien zaghaft die ewig in Schnee gehüllte Spitze des Erebor, als Dori zurück kehrte. Mit sorgenvollem Blick auf die Königin, deren Fieber dank der Wickel wenigstens etwas zurück gegangen war, trat er an das Bett heran. Thorin saß neben Lyrann und hielt ihre Hand.
Dori reichte Thorin einen irdenen Krug, aus dem es leicht dampfte. „Das ist ein Tee aus Weidenrinde, Holunder und Linde. Er wird gegen ihr Fieber helfen. Sorg dafür, dass sie so viel davon trinkt wie möglich.", erklärte er.
Thorin nickte und während er einen kleinen Becher mit etwas Tee füllte und versuchte, Lyrann davon etwas einzuflößen, begann Dori die Verbände zu öffnen, um Lyranns Wunden mit einer frisch angerührten Salbe zu behandeln.
Es verstrich einige Zeit, während der Dori mit Thorins Hilfe die verschiedenen Schnitte und Verletzungen Lyranns frisch versorgte. Manche der Wunden begannen bereits zu heilen, andere jedoch waren entzündet und unheilvoll angeschwollen.
Am frühen Vormittag klopfte es erneut an der Schlafzimmertür. „Herein!", rief Thorin und stellte den Becher mit Arznei an die Seite, von der er eben wieder Lyrann winzige Schlucke gegeben hatte.
Er drehte den Kopf und lächelte erfreut, als er seine Tochter erblickte. Rasch erhob er sich und kam Fenja entgegen, die mit ernster Miene auf das Bett hinab sah.
Kurz erwiderte sie die grüßende Umarmung ihres Vaters, dann fragte sie leise: „Wie geht es Mutter?"
Thorin blickte auf seine Frau hinab und spürte, wie die mittlerweile altbekannte Sorge sein Herz zusammen drückte. „Sie hat Fieber und ist sehr schwach...", erwiderte er. Mühsam rang er sich ein zuversichtliches Lächeln ab. „Dori kümmert sich um sie und deine Mutter ist bei ihm in besten Händen. Sie wird sich sicher bald erholen.", fuhr er fort und sah Fenja an. Sanft legte er eine Hand auf ihre Schulter und drückte sie. Er wollte nicht, dass seine Kinder Angst um ihre Mutter hatten.
Doch Fenjas kritischer Blick zeigte ihm, dass sie seine vorgeschützte Zuversicht durchschaute. Sie wusste genau wie er, dass Lyranns weiteres Schicksal ungewiss war und die Gefangenschaft nun einen hohen Tribut forderte. Wie hoch, konnte keiner von ihnen im Moment wissen.
Die junge Zwergin biss fest die Lippen aufeinander und sah schweigend zu ihrer kranken Mutter. Sie schien schwer mit sich zu ringen.
„Komm, mein Kind.", sagte Thorin liebevoll, ergriff ihre Hand und führte sie in den nebenliegenden Salon, wo er Fenja auf einen Sessel drückte und sich ihr gegenüber nieder ließ.
„Was bedrückt dich?", fragte er.
Fenja schwieg weiterhin. Mit gerunzelter Stirn blickte sie hinab auf ihre Füße. Geduldig wartete Thorin. „Es tut mir leid, dass ich mich davon geschlichen habe...", begann Fenja, noch immer zu Boden sehend.
„Was geschehen ist, ist geschehen.", erwiderte Thorin, „Ich bin glücklich, dich wieder hier zu haben, auch wenn ich es dir mit gutem Grund verboten habe. Du hättest sterben können!" Seine Stimme wurde nachdrücklich. Fenja hob den Blick und er sah Verständnis und schlechtes Gewissen in ihrem Blick.
„Doch das beschäftigt dich nicht.", stellte er ruhig fest, „Du machst dir Sorgen wegen deiner Mutter."
„Ja...", erwiderte Fenja und verschlang ihre Hände ineinander, „Sie ist so schwer verletzt." Sie hielt kurz inne, schien nicht sicher zu sein, ob sie sich ihrem Vater anvertrauen wollte. Dann gab sie sich einen Ruck. „Ich werde zurück an die Front gehen, Adad.", sagte sie und sah bittend zu ihm, „Ich kann nicht hierbleiben. Hier kann ich nichts tun, außer um Amad zu bangen... An der Front kann ich kämpfen und..." Ihre Stimme wurde leiser und sie brach ab. Ihr Blick ging wieder zu Boden, doch Thorin ahnte, was sie umtrieb.
„Skafid ist an der Front.", beendete er ihren Satz.
Überrascht sah Fenja zu ihm auf. Doch Thorin lächelte wissend. „Woher?", fragte seine Tochter.
Er schmunzelte. „Die geheime Gabe von Eltern so etwas schneller zu erblicken als ihre eigenen Kinder.", meinte er, „Ich habe euch hin und wieder beobachtet, Fenja."
Einen Moment sahen sie einander schweigend an. Thorin schmerzte es zwar, sein Kind schon wieder fort zu schicken, doch konnte er es ihr verübeln? Gerade war es für ihn kaum vorstellbar, nicht an Lyranns Seite zu sein.
Mit einem leisen Seufzer erhob er sich. „Dann reite morgen zu Skafids Einheit.", entschied er. Dankbar sprang Fenja auf die Füße und umarmte ihn. Thorin schlang die Arme um sie und drückte sie an sich. „Bring Durins Zorn über unsere Feinde, meine Tochter.", sagte er.
Mit einem Lächeln gab ihm Fenja einen Kuss auf die Wange und wollte dann schon den Raum verlassen.
„Fenja!", rief Thorin und sie drehte sich noch einmal um, „Wenn ihr beide im Berg seid, bitte ich darum, dass du mir Skafid vorstellst." Kurz entglitten seiner Tochter die Züge, doch beim Grinsen ihres Vaters fing sie sich rasch wieder und mit einem Nicken verabschiedete sie sich.
Den Rest des Tages verließ Thorin das gemeinsame Gemach nicht mehr. Seine Arbeitsunterlagen breitete er auf einem kleinen Holztisch aus, den er sich mit einem Stuhl neben das Ehebett stellte. Bittsteller ließ er in die königlichen Gemächer führen, wo er sie in seinem Arbeitszimmer empfing. Auch alle anderen, die eine Unterredung mit dem König geplant hatten, mussten ihn nun dort aufsuchen. Bombur persönlich brachte Thorin sein Essen vorbei und blieb, während dieser aß, um sicherzustellen, dass Thorin die Mahlzeiten nicht vergaß.
Man sah es ihm nach. Lag doch schließlich die Königin nach langer Gefangenschaft vom Fieber im Krankenbett. Der Arkenstein, der wie durch ein Wunder die Zeit in Dol Guldur überstanden hatte, ließ Thorin wieder in den Thronsaal bringen, wo er schwer bewacht wurde. Auch wenn Thorin vermutete, dass mit Zahinas und Mims Gefangennahme die Gefahr für das Herz des Berges gebannt war.
Die beiden waren nun in einem Kerker tief unten im Berg eingesperrt. Bis zur Verurteilung wollte Thorin warten, bis Lyrann sich wieder erholt hatte. Ihr Bericht würde beim Prozess entscheidend sein.
Sich auf seine Arbeit zu konzentrieren, fiel Thorin endlich wieder etwas leichter. Das Wissen, dass Lyrann in Sicherheit war, beruhigte ihn. Regelmäßig stand er von seinem Platz auf und ging zu seiner Liebsten, kontrollierte ihre Temperatur, erneuerte die Wadenwickel und flößte ihr von dem Kräutertee ein. Sie jedoch schlief, in unruhigen Fieberträumen sich hin und her werfend, leise murmelnd, sich nur beruhigend, wenn er ihr sacht über den Kopf strich.
Trotz der vielen Unterbrechungen schaffte Thorin es, sich um einige Dinge zu kümmern, die in den letzten Tagen liegen geblieben waren.
Doch während die Stunden verstrichen, nahm seine Sorge um Lyrann wieder einen Großteil seiner Gedanken ein. Ihr Fieber wollte nicht sinken, auch wenn er regelmäßig ihre Wickel erneuerte, sie in kurzen halbwachen Momenten einiges von ihrer Medizin getrunken hatte und Dori mehrmals am Tag bei ihnen vorbei gekommen war.
Nachdem Thorin unter Bomburs strenger Aufsicht sein Abendessen herunter gewürgt hatte, setzte er sich an Lyranns Seite. Noch immer ging ihr Atem stoßweise und quälend, ihr ganzer Körper war schweiß gebadet. Schlaff wie eine Stoffpuppe lag sie im Bett, reagierte nicht auf seine Stimme oder Berührungen. Das Fieber schien noch weiter gestiegen zu sein und ihre Haut war mittlerweile nicht mehr gerötet sondern aschfahl. Besorgt fühlte Thorin ihren Puls. Schwach und flatternd war er nur noch zu spüren.
Oh bei Mahal, dachte Thorin verzweifelt, sie wird immer schwächer.
Eben wollte er erneut nach Dori rufen lassen, als die Tür sich öffnete und eben dieser eintrat, gefolgt von Frerin.
„Dori!", rief Thorin, die Angst deutlich hörbar in seiner Stimme, „Es geht Lyrann immer schlechter!"
Mit ernster Miene beugte Dori sich über Lyrann, um sie zu untersuchen. Frerin fasste seinen Vater an den Schultern und zog ihn sachte vom Bett fort, damit Dori mehr Platz für seine Untersuchung hatte. Der junge Mann wirkte zutiefst erschüttert von dem Anblick seiner schwer kranken Mutter.
Bang schwiegen Vater und Sohn, während sie Dori bei seiner Untersuchung beobachteten. Mit einem unglücklichen Seufzen beendete dieser seine Arbeit und erhob sich. Dann sah er zu Thorin. „Das Fieber ist weiter gestiegen. Ich habe keine weitere Medizin, die ich ihr geben kann. Alles, was wir haben, habe ich bereits ausprobiert. Es liegt nun an Lyrann. Sie muss diesen Kampf gewinnen, wir können ihr nicht noch mehr helfen.", erklärte er.
„Wir müssen an Thranduil schreiben und ihn um elbische Arznei bitten!", sagte Thorin. Er wollte es nicht wahrhaben, dass man nicht noch mehr für Lyrann tun konnte. „Die Elben werden bestimmt noch etwas da haben, was ihr hilft!" Sein verzweifelter Blick blieb an Lyranns grauem Gesicht hängen. Sie durfte nicht sterben! Der bloße Gedanke ließ sein Herz fast still stehen.
Mit unglaublich traurigem Blick wandte sich Dori seinem König zu. „Alle elbische Arznei Thranduils haben wir auch hier. Es gibt nichts weiter, was wir für sie tun können, Thorin.", sagte er sanft. Vorsichtig griff er nach der Schulter Thorins. „Sie ist stark, noch hat ihr Körper nicht aufgegeben. Es gibt Hoffnung.", versuchte er, Thorin Mut zu machen.
Dieser schüttelte langsam den Kopf, wollte nicht glauben, was er da hörte. Voll entsetztem Unglauben blickte er auf Dori hinab, schob sich dann an ihm vorbei und kniete neben Lyrann nieder. Vorsichtig barg er ihre kleinen Hände in den seinen. Nie war seine Frau ihm so zerbrechlich erschienen.
„Wir müssen etwas tun...", flüsterte er, „Irgendetwas..."
Niemand antwortete ihm. Er hörte, wie Dori Frerin hinter ihm etwas zu murmelte und dann das Gemach verließ.
„Hast du gegessen, Vater?", fragte Frerin, die Stimme ungewohnt zittrig. Ohne zu antworten, nickte Thorin. Wie nebensächlich waren Dinge wie Schlaf und Essen, wenn hier die Liebe seines Lebens mit dem Tode rang?
Sein Sohn zog einen Stuhl heran und setzte sich, leistete seinen Eltern eine Weile Gesellschaft. Die Stunden verstrichen und Nacht senkte sich über den einsamen Berg. „Soll ich eine Weile bei Amad bleiben?", durchbrach Frerin erneut die Stille, „Dann kannst du ein wenig schlafen."
„Ich lasse sie nicht allein!", erwiderte Thorin heftig. Er seufzte leise. „Geh schlafen, Frerin. Du musst mich morgen im Rat vertreten." Sein Sohn nickte und mit einem leisen Abschiedsgruß verließ auch er das Zimmer.
Die ganze Nacht über wich Thorin nicht von Lyranns Seite. Voll banger Angst wachte er über sie, mochte gar nicht an die Möglichkeit denken, dass sie ihren Verletzungen erliegen könnte. Als er zu später Stunde zunehmend erschöpft war, legte er sich neben sie. Dicht rutschte er an sie heran, eine Hand an ihrer Brust liegend, sodass er Lyranns Herzschlag gut ertasten konnte. Einzuschlafen wagte er nicht, keinen Moment der Unachtsamkeit würde er sich erlauben. Sorgenvoll lauschte er auf jeden ihrer Atemzüge, während die Minuten dahinkrochen.
Was gäbe er nicht dafür, sie gesund zu sehen! Wieder mit ihr zusammen durch den Berg zu gehen, zu reden, diskutieren und zu lachen. Wie schön wäre es, nebeneinander in ihrem steinernen Wald zu sitzen, der ihnen beiden zu einem Rückzugsort geworden war.
Unbedingt wollte er sie wieder küssen, im Arm halten, sie leidenschaftlich lieben. Sogar ein heftiger Streit mit ihr wäre eine wahre Wohltat!
Um all das musste er nun fürchten. Wie ein Feuer brannte das schlechte Gewissen in ihm. Die letzte Frau, die er geküsst hatte, war Zahina gewesen. Mittlerweile war ihm klar, dass bei seinem unheilvollen Picknick mit der Zwergin seine Lyrann bereits in Ketten gelegen hatte. Voll Scham sah er sie an. Während sie in Gefangenschaft geschmachtet hatte, war er den Reizen einer Verräterin erlegen. Wie konnte er das je wieder gut machen?
Er wusste, er konnte das vor Lyrann nicht geheim halten. Keine Ruhe würde er in ihrer Nähe finden, würde er ihr diesen Fehltritt nicht beichten und um Vergebung bitten. Doch würde sie die ihm gewähren?
„Kannst du mich überhaupt noch lieben, nach dem, was ich getan habe?", fragte er leise seine Frau.
Als der nächste Tag anbrach, wachte Thorin noch immer über seiner Frau. Die Stunden verschwommen zunehmend, während er angstvoll jeden ihrer Atemzüge zählte und liebevoll ihre Wunden versorgte. Frerin übernahm die Regierungsgeschäfte an diesem Tag, sodass Thorin sich komplett Lyranns Pflege widmen konnte. Hin und wieder kam Dori vorbei, um nach der Kranken zu schauen, deren Schicksal noch immer am seidenen Faden hing.
Es war bereits wieder Nacht geworden, als Thorin eine Veränderung an seiner Frau auffiel. Ihr Puls wurde wieder stärker und jeder Atemzug klang ein klein bisschen weniger quälend. Zaghafte Hoffnung keimte in ihm auf, während nun tatsächlich auch Lyranns Fieber anfing zu sinken. Dori wirkte bei seinem letzten Besuch des Tages deutlich erleichtert und als der Morgen wieder anbrach, war Lyrann von dem todesähnlichen, fiebergequälten Schlaf in den tiefen Schlummer eines Genesenden geglitten.
Nun, da seine Frau endlich auf dem Wege der Besserung schien, konnte Thorin sich zunehmend wieder seiner Arbeit widmen. Im Arbeitszimmer empfing er gemeinsam mit Frerin Bittsteller und arbeitete sich erneut neben dem Ehebett durch verschiedene Berichte, während Lyrann drei volle Tage tief und fest schlief.
Eben verzeichnete er die neuen Frontverläufe an der Rotwasser und den Eisenbergen, sowie dem Düsterwald, als eine leise Stimme die Stille durchbrach.
„Thorin?"
Sein Herz machte einen gewaltigen Satz und er drehte sich zum Bett um. Lyrann war wach und sah zu ihm. Die Augen waren klein vor Erschöpfung und sie war blass, aber sie war bei Bewusstsein. Ein breites Grinsen voller Glück breitete sich auf Thorins Gesicht aus bei diesem Anblick.
„Ich habe Durst und Hunger...", sagte Lyrann leise.
Lautes Wimmern und Schluchzen weckte Thorin mitten in der Nacht. Alarmiert riss er die Augen auf und drehte sich zu Lyrann. Schemenhaft konnte er erkennen, wie seine Frau sich gefangen in einem Alptraum hin und her warf.
„Lass mich in Ruhe! Lass mich in Ruhe!", rief sie und die Todesangst in ihrer Stimme zerriss sein Herz, „Bitte nein! Nein... bitte... quält mich nicht..." Ihre Worte wurden leiser und von ersticktem Wimmern durchbrochen.
„Lyrann!", rief Thorin laut, packte sie an den Schultern, doch sie wurde nicht wach. „Wach auf!", versuchte er sie aus ihrem Traum zu reißen, jedoch ohne Erfolg. Unglücklich biss er sich auf die Lippen, holte aus und verpasste seiner Frau eine Ohrfeige, die sie augenblicklich aufweckte.
Rasch entzündete Thorin eine Kerze und sah auf Lyrann hinab, die mit weit aufgerissenen Augen an das Baldachin des Bettes starrte. Von ihrer Umgebung schien sie kaum etwas wahrzunehmen.
Thorin schlang die Arme um sie, die jedoch stocksteif in seiner Umarmung lag. „Lyrann!", rief er und schüttelte sie. Er ahnte, was sie quälte. Ihre Gefangenschaft musste sich tief in ihren Geist eingebrannt haben. Ihn selbst hatten nach seinen ersten Schlachten grausige Alpträume verfolgt, die ihn auch jetzt noch in hohem Alter manchmal einholten. Oft war er als junger Krieger nachts schweißgebadet wach geworden und hatte stundenlang nicht mehr einschlafen können, von den grauenhaften Bildern, die ihm vor Augen gestanden hatten.
Lyrann schien noch immer in ihrem Traum gefangen zu sein. Thorin dachte bereits über eine zweite Ohrfeige nach, als sie endlich mit einem Schaudern zu ihm sah. Ihr Blick klärte sich, doch der Ausdruck des Grauens lag noch immer auf ihrem Gesicht.
„Thorin...", flüsterte sie, „Ich... ich war wieder in Dol Guldur..." Ihr Kinn zitterte und ihr Mund öffnete sich zu einem stillen Schrei. Das ganze Gesicht der Königin verzerrte sich vor quälender Angst. Tränen liefen über ihre Wangen.
„Oh Geliebte...", murmelte Thorin voll Mitleid und zog sie an sich. Fest schlang er die Arme um sie, als Lyrann den Horror ihrer Gefangenschaft aus sich heraus weinte, ja geradezu heraus schrie.
Es dauerte lange, bis sie vollkommen entkräftet vom Weinen in seinen Armen zur Ruhe kam. Sanft küsste er ihre nassen Wangen und geröteten Augen, strich ihr das Haar aus der Stirn und wiegte sie wie ein kleines Kind.
„Sie schlugen mich... immer und immer wieder...", berichtete Lyrann mit zitternder Stimme, „Man stellte mir keine Fragen... Ich wurde an den Händen gefesselt und an der Wand aufgehängt... Ich meinte, meine Gelenke müssten bersten... Kein Wasser bekam ich, kein Essen... Wind und Wetter war ich schutzlos ausgeliefert... Und der Nazgul... Nur die Tatsache, dass er den Arkenstein nicht berühren konnte und er ihm Schmerzen zufügte, rettete mir das Leben..."
Lange schwiegen sie. Thorin vermochte sich die Schrecken, die sie erlebt hatte, kaum vorzustellen. Lange würde es dauern, bis dieser Schatten von ihr gewichen war.
Schließlich kuschelten sie sich nebeneinander wieder zurück in ihre Decken. Thorin wollte die Kerze wieder löschen, als Lyrann leise bat: „Kannst du das Licht bitte anlassen?" Mit einem Lächeln rutschte er die Kerze zurecht und ließ sich ins Kissen sinken. Sanft hielt Thorin seine Lyrann im Arm, die sich an seine Brust drückte. Doch gerade, als er wieder in den Schlaf glitt, bewegte sie sich wieder, offensichtlich immer noch gequält von den Bildern ihres Traumes.
„Kannst du mir vorlesen?", fragte sie.
„Aber sicher.", erwiderte er, schwang sich aus dem Bett und kam wenig später mit einem schmalen Bändchen zwergischer Legenden zurück, von denen er wusste, dass Lyrann sie sehr mochte. Er setzte sich ins Bett und zog Lyrann so an sich, dass sie halb aufrecht an seiner Brust zu liegen kam.
Kurz sah er auf die Runenbuchstaben, die in den ledernen Einband geprägt waren, in Erinnerung vertieft, wie er eben diese Geschichten seinen Kindern erzählt hatte. Die Legende des Schwertes Gna war ein absoluter Liebling seines Ältesten gewesen.
Mit einem schwachen Lächeln schlug er das Buch auf und begann mit tiefer, samtiger Stimme zu lesen.
Die Wochen vergingen und begleitet von morgendlichem Nebel, erstem Tau und goldenem Abendlicht ging der Spätsommer in den Herbst über. Die Wälder an den Flanken des Erebor färbten sich golden und rot. Zunehmend kühler Wind fuhr durch ihre Äste und erfüllte die Luft mit einem ständigen Rauschen. Sowohl auf den Feldterrassen des Berges, als auch in den Gärten Thals wurde die Ernte eingebracht. Der Sommer war den Bauern wohl gesonnen gewesen und ohne den Krieg würde ein sorgloser Winter bevorstehen.
Lyranns Genesung ging nun zügig voran. Das Fieber war schon lange abgeklungen, ihre Wunden heilten und nur wenige Narben würden zurückbleiben. Selbst die Knochen ihrer gebrochenen Hand wuchsen gut zusammen.
Dori bestand darauf, dass sie weiterhin im Bett blieb, da sie sehr geschwächt gewesen war und um ihrem Körper die Möglichkeit zu geben, wieder zu heilen.
Anfangs war das auch kein Problem gewesen, da Lyrann tatsächlich einen Großteil der Tage und Nächte verschlief, endlich zur Ruhe kommend, nach den Torturen in Dol Guldur. Doch auch nachdem ihr Körper nun heilte, waren die Erinnerungen noch immer frisch und quälend. Oft wachte sie angstschreiend auf und beruhigte sich nur langsam.
Thorin ging dazu über, ihr regelmäßig vorzulesen, um sie von ihren Alpträumen abzulenken und ihr so das Einschlafen zu erleichtern. Doch während die Wochen vergingen und Lyrann kräftiger wurde, las er ihr bald nicht mehr nur vor, um ihre Angst zu mildern, sondern auch um der aufkommenden Langeweile entgegen zu wirken.
Lyrann war ungeduldig, wieder aufstehen zu dürfen. Jedes Mal, wenn Dori da war, belagerte sie ihn mit drängenden Fragen, wann ihre Bettruhe endlich vorbei war. Auf Thorin gestützt durfte sie ein paar wenige Schritte durch das Zimmer machen und dann, es schien ewig bis dahin zu dauern, erlaubte Dori ihr endlich, für Spaziergänge das Bett zu verlassen.
Und so stieg Lyrann an einem kühlen Herbstmorgen, noch reichlich weich in den Knien, die Treppen zur Wehrmauer empor. Rechts und links von ihr liefen Thorin und Dís, bereit, sie aufzufangen, sollte sie schwanken.
Ein kühler Luftzug empfing Lyrann und wehte ihr wohltuend ins Gesicht, als sie auf die Mauer trat. Die wachhabenden Soldaten machten ihrer Königin respektvoll Platz. Mit langsamen Schritten ging sie ein Stück nach vorne und stützte sich schließlich schwer atmend auf dem Gemäuer auf. Es war anstrengend gewesen, hierher zu kommen. Doch nun, da sie über die Ebene vor Thal schauen konnte, über der sich die herbstliche Morgensonne erhob, hatte sich die Mühe deutlich gelohnt. Ein dicker Mantel aus bestickter Wolle mit einem Besatz aus Rabenfedern schützte sie vor der kühlen Luft.
Thorin trat neben sie und legte sacht einen Arm um ihre Hüfte. Dankbar für seine Nähe lehnte sie sich an ihn. Um dem Paar ein wenig Raum für sich zu geben, schlenderte Dís etwas entfernt die Mauerkrone entlang.
Einen Moment schwiegen Lyrann und Thorin, sahen hinaus auf die morgendliche Landschaft vor ihnen.
Mit einem Lächeln drehte Lyrann sich zu ihrem Mann um, der sie mit liebevollem Blick bedachte. Sie hob eine Hand und zog ihn zu sich heran. Sanft trafen sich ihre Lippen und voller Glück lehnte Lyrann sich an Thorin. Sie hatte gefürchtet, nie wieder nach Hause zu kommen, ihren Liebsten nie wieder zu sehen. Und jetzt war sie hier, im Erebor, in Sicherheit, ihre grausame Gefangenschaft hatte ein Ende. Wie um sich zu versichern, dass sie wirklich nicht träumte, küsste sie Thorin noch leidenschaftlicher, als ihr Mann sich plötzlich versteifte und von ihr abrückte.
Irritiert sah sie ihn an, doch dieser wich ihrem Blick aus. Ein merkwürdiges Spiel an Emotionen lag auf seinen Zügen. Irgendetwas schien ihn zu quälen. Aufgewühlt richtete er den Blick auf die steinerne Mauer neben ihnen.
„Was hast du Thorin?", fragte sie lächelnd. Sie griff sein Kinn und drehte sein Gesicht ihr zu. „Wenn du fürchtest, mich zu überfordern, ich fühle mich schon recht kräftig.", scherzte sie. Doch Thorin schmunzelte noch nicht einmal. Unsicherheit und sogar Angst lagen in seinem Blick, als er sie schmerzvoll musterte.
„Thorin?", fragte Lyrann, nun doch besorgt.
Ihr Mann holte tief und bebend Luft, dann trat er einen kleinen Schritt zurück. Noch immer schien er mit sich zu ringen. Ein Moment verging, dann begann er leise: „Ich muss dir etwas sagen, geliebte Lyrann."
Etwas in seiner Stimme ließ Lyrann nichts Gutes erahnen. Mit gerunzelter Stirn nickte sie. Was würde da jetzt kommen, was Thorin so offensichtlich durcheinander brachte.
„Als... als du fort warst.", erzählte er stockend, „Zahina und ich haben Zeit miteinander verbracht."
Ein mulmiges Gefühl stieg in Lyrann auf, schlang sich wie Eis in ihre Eingeweide. Sie konnte sehen, wie Thorins Gesicht sich rötete, als er nach Worten rang.
„Lyrann...", brachte er hervor, „Ich liebe dich... Bitte glaube mir das." Fahrig tastete er nach ihren Händen, doch diesmal wich Lyrann zurück, entzog ihm ihre Hände.
Thorin stöhnte auf. „Ich war ein Idiot!", sagte er gepresst, „Ich habe die Kontrolle verloren."
„Was ist passiert?", verlangte Lyrann scharf zu wissen.
„Wir...wir haben uns geküsst.", flüsterte Thorin mit gesenkten Blick, „Nicht mehr, Lyrann, ich schwöre bei Mahal und all meinen Vorfahren, weiter reicht meine Schande nicht. Aber es ist bereits zu viel... Wenn du mich verstoßen willst, ich könnte es verstehen. Auf deine Liebe kann ich nicht mehr hoffen."
Lyrann starrte ihren Mann an. Unglaublicher Schmerz fraß sich in ihr Herz, das unkontrolliert stolperte. „Du hast was getan?", fragte sie leise. Sie spürte Entsetzen und Wut in sich hoch kochen. Thorin hatte Zahina geküsst! Ihr war nach schreien zumute, doch dafür war sie noch zu schwach.
„Lyrann... Liebste...", erwiderte Thorin voller Verzweiflung. Er hob die Hand, um ihre Wange zu berühren, doch mit einem scharfen Schlag fegte Lyrann seine Hand beiseite. „Fass mich nicht an!", fauchte sie, erfüllt von unglaublicher Enttäuschung.
Am ganzen Leib bebend wandte sie sich von ihrem Mann ab. Sie hatte es geahnt! Sie hatte es gewusst! Zahina hatte die Gelegenheit genutzt und Thorin war ihr erlegen. Oh wenn sie doch nur ein wenig stärker wäre, sie würde Zahina zu Tode prügeln!
Thorin neben ihr setzte zum Sprechen an, doch sie fiel ihm ins Wort. „Lass mich allein!", knurrte sie mit eiskalter Stimme.
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