Heilkräuter und Streitigkeiten
„Beweg deine Füße!", rief Thrain dem jungen Geron zu und hob das Übungsschwert hoch über den Kopf. Dann ließ er es in einem weiten Bogen heran sausen und nickte anerkennend, als sein junger Schüler den Hieb parierte.
Es war mittlerweile tiefster Winter. Vor einigen Wochen hatte Geron Thrain gebeten, ihn im Schwertkampf zu unterweisen. Nach kurzem Zögern hatte der Zwerg nachgegeben. Und auch wenn Evolet, die Mutter des Jungen, nicht begeistert davon war, dass ihr Sohn kämpfen lernte, so gab es doch jetzt nicht so viel auf dem Hof zu tun, dass sie Geron anderweitig beschäftigen konnte.
Schnee fiel in dichten Flocken vom Himmel, während Thrain und Geron ihre täglichen Übungen absolvierten. Es war kalt, aber beide schwitzten von der Bewegung. Langsam machte der Junge Fortschritte. Anfangs war er deutlich zu schwach gewesen, um den Kampf lange durchzustehen und Thrain war dazu übergegangen, Kraft und Kondition Gerons zu verbessern. Nun, da dieser stärker geworden war, konnten sie sich dem eigentlichen Kampf widmen. Und hier war es Thrain viel wichtiger, dass Geron in der Lage sein würde, seinen Hof zu verteidigen, als dass er ihm hochkomplizierte Techniken zeigte. Zumal Geron auch noch oft genug an den Grundlagen scheiterte.
So auch jetzt. Bei einem Versuch, mit einem Ausfallschritt an Thrains Deckung vorbei zu kommen, geriet Geron aus dem Gleichgewicht. Es war nicht viel, doch es genügte Thrain zum Zuschlagen. Sein Schwert schoss vor und erwischte Thrain an der Seite. Der Junge stolperte und fiel in den Schnee.
Thrain hob kurz einen Arm, um eine Pause anzudeuten, während Geron sich aufrappelte und das Schwert, das zu Boden gefallen war, wieder aufsammelte. „Wenn du mich angreifst, sorge vor allem dafür, deine Deckung dabei nicht zu öffnen.", wies Thrain seinen Schüler an, „Schütze deine Mitte!" „Ja, Tarl.", erwiderte Geron frustriert. Seit einigen Tagen machte er keine Fortschritte mehr, sondern steckte mehr und mehr Schläge ein. Denn Thrain, der seine wahre Herkunft und seinen Namen noch immer vor der Familie geheim hielt, hielt sich zusehends nicht mehr zurück. Es wurde Zeit, dass Geron lernte, wie er einen stärkeren Gegner auf Distanz hielt.
Der Zwerg legte kurz sein Schwert beiseite und zog dann seinen Mantel und das darunter liegende von Evolet gestrickte Wams ab. Hemdsärmelig nahm er wieder das Schwert auf. Die winterliche Kälte machte ihm nichts aus. Die Zähigkeit der Zwerge und die Immunität der Elben gegen Krankheit kamen ihm zu gute. Geron tat es ihm tatsächlich gleich, der Junge war noch deutlich verschwitzter als sein Lehrer, der dagegen erst langsam warm wurde.
Und so umkreisten sie sich weiter, während das Schneetreiben um sie herum heftiger wurde und der Wind über den Hof heulte.
Schniefend lag Geron in seine Decke eingepackt auf seinem Lager. Mit glänzenden Augen sah er zu Thrain auf. „Es tut mir leid... Ich glaube, wir müssen das Training noch eine Weile aussetzen.", fiepste er mit belegter Stimme. Dann packte ihn ein heftiger Hustenanfall. Nach Luft japsend sackte er wieder zurück.
Betroffen saß Thrain neben ihm auf dem Dachboden, wo Geron und seine kleine Schwester Jolinda schliefen. Vor ein paar Tagen hatte Geron angefangen zu husten. Evolets Kräutertees hatten ihm nicht geholfen und es war immer schlimmer geworden. An diesem Morgen war er zu schwach gewesen, um das Bett zu verlassen. Fieber hatte seinen Körper ergriffen und er bekam zunehmend schlechter Luft.
„Das Training ist nicht wichtig. Du musst jetzt erstmal gesund werden!", sagte Thrain eindringlich und stopfte die Decken noch ein wenig fester um Geron. Er machte sich furchtbare Sorgen um den Jungen. Was wenn er Geron überstrapaziert hatte? Hätte er in der winterlichen Kälte mehr auf seinen Schüler achten sollen? Menschen waren doch so empfindlich...
Evolet kam die Leiter hinauf gestiegen. Sie sah ernst drein und hielt eine Schüssel dampfenden Eintopfes für Geron in den Händen. Für ihren Sohn suchte sie nun die besten Stücke aus den Vorräten heraus. Thrain stand auf und beeilte sich, ihr Platz zu machen. Er beobachtete sie, während sie ihrem Sohn beim Essen half. Evolet hatte es kein einziges Mal ausgesprochen, aber sie schien der Überzeugung zu sein, dass Geron ohne das harte Training mit dem Zwerg nicht krank geworden wäre. Sie schien Thrain etwas kühler zu behandeln und er konnte es ihr kaum verübeln.
Mit hängendem Kopf stieg er die Leiter hinunter und gesellte sich zu einem ebenso ernst dreinblickenden Gringorn an den Haupttisch. Es stand außer Frage, dass Geron mittlerweile ernsthaft krank war und Evolet mit all ihrer Medizin ihm kaum helfen konnte. Die beiden Männer tauschten besorgte Blicke, als ein erneuter Hustenanfall durch die Hütte schallte. Die kleine Jolinda hatte sich in den benachbarten Stall verkrochen, wo sie die Tiere streichelte und fütterte.
Schließlich kam Evolet wieder herunter. „Er schläft jetzt.", sagte sie mit leiser Stimme. Dann ging sie in die Küche, kam aber nach kurzer Zeit wieder und stellte sich neben den Tisch, die Hände in die Hüften gestemmt.
„Jemand muss ins Dorf gehen.", sagte sie mit fester Stimme. Die beiden Männer hoben den Kopf. „Mein Sud aus Spitzwegerich hilft ihm nicht mehr. Geron braucht bessere Medizin, die ich nicht hier habe." Abwechselnd sah sie von ihrem Mann zu Thrain. „Born, der Wirt der Dorfschänke, verkauft auch einige Kräuter, die er teilweise selbst anpflanzt oder über Händler erhält. Ich brauche Schlüsselblumenwurzel und Thymian."
Stille legte sich über die Gruppe. Dann erhob Thrain sich. „Ich werde gehen.", sagte er. Da er sich verantwortlich für Gerons Zustand fühlte, war es für ihn nur logisch, dass er sich anbat.
Und so stapfte er nur wenig später in seinen Mantel gewickelt vom Hof in Richtung des nächsten Dorfes, das einige Stunden Fußmarsch entfernt war. Hoher Schnee versperrte ihm den Weg und Thrain musste sich mit Händen und Füßen einen Weg durch die weißen Massen wühlen. Ein eisiger Wind weht, der nur zwischen den kahlen Bäumen des umgebenden Waldes ein wenig nachließ.
Auch wenn er Kälte gegenüber bei weitem nicht so empfindlich war wie die Beorninger, bei denen er lebte, war er doch dankbar für die Kleidung, die Evolet ihm geschenkt hatte. Aus restlicher Wolle, die noch vom Vorjahr übriggeblieben war, hatte sie ihm einen Schal und ein wärmendes Hemd gefertigt. Es waren einfache Stücke, weitaus gröber gearbeitet als alles, was er je am Leibe getragen hatte, die Kleidung eines Bauern.
Einige Stunden war er bereits unterwegs, als sich der Wald vor ihm öffnete und die Ebene des Anduin sich vor ihm ausbreitete. Hier nahm der Wind noch zu. Die grauen Wolken verschwammen mit den schneebedeckten Hügeln. Einzelne Bäume trotzten den Windböen, die einzigen Gewächse, die ihr Haupt noch über den Schnee erhoben. Feine Schneekristalle wurden umhergetrieben, scharf schnitten sie Thrain ins Gesicht. Missmutig über das Wetter zog er den Schal höher, um sich zu schützen. Sein Bart war verkrustet vom Eis, aber er wärmte sein Gesicht trotzdem.
Endlich stapfte er über einen Hügel und sah auf das Dorf hinab, in dem er vor vielen Wochen noch um Aufnahme gebeten hatte. Missmutig brummte er. Das Wetter stimmte ihn schlecht gelaunt und die Erinnerung an das Misstrauen, das ihm entgegen geschlagen war, ließ seinen Optimismus sinken.
Aber er war es Geron schuldig, dass er die Kräuter besorgte. Und so machte er sich auf den Weg hinab zu dem Dorf.
Die Straßen waren wie ausgestorben, als er die Siedlung erreichte. Alle Bewohner schienen sich in ihren Häusern vor dem Winter verschanzt zu haben. Fensterläden waren meist verrammelt, Ladentüren geschlossen und die verschneiten Gärten menschenleer. Thrain hatte die Schänke schnell gefunden, ein Haus, recht mittig im Dorf gelegen, mit einem kleinen angegliederten Stall. Über dem Eingang baumelte ein verwittertes Schild, das die Schänke mit dem Namen „Zur Flusssenke" betitelte.
Thrain stieß die schwere hölzerne Tür auf und betrat den Schankraum. Dichte Rauchschwaden von Pfeifen und dem Kaminfeuer schlug ihm entgegen. Es roch nach Met, gegrilltem Fleisch, Honig und Tabak. Schummriges Licht vom Kamin und mehreren Kerzen beleuchtete den einfach eingerichteten Raum. Thrain schlug die Kapuze seines Mantels zurück, befreite das Gesicht vom Schal und sah sich aufmerksam um.
An den Tischen verteilt saßen einige Männer und Frauen des Dorfes. Metkrüge standen bereit und man schien bis eben in angeregte Gespräche vertieft gewesen. Nun jedoch verstummte alles und sah zu dem Fremden in der Tür hin. Gespannt beobachteten sie jede Bewegung Thrains, der vorsichtig hinter sich die Tür schloss. Er fühlte sich etwas unwohl in seiner Haut, mit einem guten Dutzend Paar Augen auf ihn gerichtet. Nur zu gut erinnerte er sich an sein letztes Mal in diesem Dorf. Beorninger waren misstrauisch gegenüber Fremden und bei Zwergen ganz besonders. Er nickte knapp in die Runde, dann ging er quer durch den Raum auf den Tresen zu, wo ein großer Mann ein paar Teller wusch und ihm argwöhnisch entgegensah.
Das blonde Haar des Mannes wallte wie eine Mähne über seine Schultern. Scharfe, dunkle Augen blickten über eine große Nase auf den Zwerg hinab. Seine Hände, wahre Pranken, wrangen einen Lappen aus und stützten sich dann schwer auf den Tresen zwischen ihnen.
„Was wollt ihr, Zwerg?", fragte er kurz angebunden. „Seid gegrüßt.", erwiderte Thrain um einen freundlichen Ton bemüht, „Gringorn schickt mich von seinem Hof. Seine Familie benötigt Heilkräuter, Schlüsselblumenwurzel und Thymian." „Was hat Gringorn mit euch zu schaffen, Baumtöter?", fragte ihn der Wirt. Thrain presste die Lippen zusammen und mühte sich, sein Temperament zu zügeln. Ihm war klar, dass jeder im Raum zuhörte. „Die Familie Gringorns gewährt mir Unterkunft für den Winter.", erklärte er, „Der Sohn Gringorns ist krank. Seine Mutter bat mich, Medizin zu kaufen." Er legte einige Silbermünzen auf den Tresen.
„Und warum kommt Gringorn nicht persönlich zu mir? Warum schickt er seinen erdwühlenden Diener?", fragte der Wirt. „Er weiß, dass wir Zwerge nicht in unserem Dorf dulden. Euer Volk zerstört die Erde auf der wir leben, ungeachtet unserer Feldfrüchte und Tiere. Nur die Schätze des Bodens interessieren euch!"
Thrain schloss kurz die Augen und sandte ein Stoßgebet zu Mahal, ihm Geduld zu schenken. Er qualmte vor Zorn. Was nahm sich dieser Mensch eigentlich heraus, ihn so zu behandeln? Sicher, Misstrauen Fremden gegenüber war das eine, aber hier schlug ihm ja richtiger Hass entgegen. Wie sollte er nur ohne weitere Ausfälligkeiten das Heilkraut für Geron kaufen?
„Kommt, verkauft mir einfach die Kräuter. Nicht um meinet Willen, sondern um Gringorns Willen. Er hat keinen Streit mit euch und sein Sohn ist krank.", versuchte er es noch einmal mit ruhiger Stimme. Der Wirt spie aus. „Gringorn müsste es besser wissen, als einen Zwerg zu beherbergen! Euer Volk grub in den Nebelbergen und scheuchte Orks und allerlei Untier auf, das hier in der Ebene unsere Dörfer überfiel!", fuhr der Mann auf.
Thrain runzelte die Stirn. „Das ist Jahrhunderte her...", erwiderte er verwirrt. Sprach der Mann etwa von Balin? Jetzt kam der Wirt um den Tresen herum und baute sich vor dem Zwerg auf. Mit in die Hüfte gestützten Händen blickte er auf ihn hinab. „Die Angriffe aus dem Nebelgebirge werden wieder mehr.", knurrte er, „Orks, Trolle und was weiß ich welches Getier kommt hier in die Ebene und überfällt unsere Siedlungen."
Er hob eine Hand. „Geht!", fuhr er den Zwerg an und stieß diesem hart vor die Brust. Thrain jedoch wankte keine Handbreit zurück. Seine buschigen Augenbrauen zogen sich zornig zusammen. Er war nicht für plündernde Orks verantwortlich! Und Gringorn brauchte seine Medizin! Breitbeinig stellte er sich hin und funkelte wütend zu dem Menschen hinauf. „Ich gehe nicht ohne die Kräuter. Es ist eure Entscheidung, ob ihr sie mir gebt oder ob ich sie mir nehmen muss!", knurrte er drohend.
Der Wirt lachte auf. „Da, seht ihr! Kaum lässt man Fremde ins Dorf, da drohen sie einem mit Prügel!", rief er zu den Gästen, die den Wortwechsel gespannt verfolgt hatten. Dann holte er plötzlich zum Schlag gegen den Zwerg aus. Thrain jedoch, als erfahrener Krieger, sah den Hieb schon lange kommen. So groß und so langsam, dachte er sich, während er elegant unter der Faust wegtauchte. Mit einem raschen Schritt war er nahe an den Wirt herangekommen, schlang die Arme um dessen Becken und brachte ihn mit geringem Kraftaufwand zu Fall.
Der große Mann schlug mit einem lauten Knall auf dem harten Lehmboden auf. Thrain erhob sich. Sein Widersacher dagegen blieb für einen Moment am Boden liegen. Mit einem kurzen Blick auf den Mann ging Thrain um den Tresen herum und begann, die Schubladen nach dem Heilkraut abzusuchen. Ein Stöhnen erklang vom Boden, wo der Wirt sich nun hoch rappelte. Endlich fand Thrain, was er suchte. Er griff nach den Kräutern und wollte sich anschicken, den Schankraum zu verlassen. Doch ein paar der Gäste hatten sich erhoben und versperrten ihm den Weg. Der Wirt hatte sich auf eine Bank verzogen und hielt sich den schmerzenden Hinterkopf, zornige Blicke in Richtung des Zwerges werfend.
Ein junger Mann, kaum mehr als ein Knabe, trat auf Thrain zu. Er war nur wenig größer als der stämmige Zwerg. In seinen Händen wog er einen Stock und wies damit auf Thrains Kehle. Der Zwerg zog unbeeindruckt die Augenbrauen in die Höhe. „Geh aus dem Weg!", sagte er kühl, „Bevor du dir noch weh tust..." Doch sein Gegenüber schnaubte verächtlich. „Wenn du denkst, du könntest hier stehlen und unseren Wirt verprügeln, dann irrst du, Zwerg!", erwiderte er. „Ich stehle nicht. Dort liegt das Geld.", widersprach Thrain und wies hinter sich auf den Tresen, „Lass mich gehen, mit dir habe ich keinen Streit. Du weißt nicht, worauf du dich einlässt."
Doch seine Warnung verklang ungehört und mit einem Wutschrei warf der Junge sich nach vorne. Lässig trat Thrain zur Seite.
„Erste Lektion,", sagte er kalt, „denn offensichtlich brachte dir kein guter Meister das Kämpfen bei, wenn du schon so zum Angriff brüllst, dann sei wenigstens schneller als der Gegner, den du eben gewarnt hast."
Der Junge fuhr herum und hieb erneut nach Thrain, der einfach einen Schritt zurücktrat, während der Junge von der Wucht des eigenen Angriffs vorwärts stolperte. „Zweitens, steh immer ausbalanciert.", fuhr der Zwerg fort. Den nächsten Schlag fing er lässig mit dem Arm ab, griff den Stock und entwand ihn mit einem einfachen Ruck dem Griff seines Angreifers. „Drittens, halt deine Waffe fest."
Ein gekonnter Hieb nach den Beinen des Jungen brachte diesen ebenso zu Fall, wie davor den Wirt. Thrain wirbelte den Stock herum und deutete nun seinerseits mit dem Ende auf die Kehle des Jungen. „Viertens, lass dich nie unüberlegt in einen Kampf mit einem Gegner verwickeln, der deutlich geübter ist als du."
Ein kurzer Blick durch den Raum genügte Thrain, um sicherzugehen, dass nun alle respektvoll vor ihm zurückwichen. Keiner mehr schien auf eine Schlägerei aus. Er bemerkte eine Bewegung an der Tür und blinzelte überrascht. Jolinda, Gringorns kleine Tochter, stand dort und grinste ihn amüsiert an.
Thrain ließ den Stock fallen, griff nach den Heilkräutern und ging mit raschen Schritten durch den Schankraum zu ihr. Die Tür öffnete sich und wenig später standen sie wieder auf der leeren, verschneiten Dorfstraße.
„Was hast du hier zu suchen?", fragte Thrain irritiert und reichte ihr die Kräuter für ihren Bruder. Das kleine Mädchen grinste. „Ich dachte, du könntest vielleicht Hilfe gebrauchen, Onkel Tarl. Aber du kamst ja gut allein zurecht.", erwiderte sie kichernd. Thrain schnaubte. „Wissen deine Eltern, dass du mir gefolgt bist? Wie bist du überhaupt durch den ganzen Schnee gekommen?", fuhr er fort und spürte Unmut über das abenteuerlustige Mädchen in sich aufsteigen. Die Kleine war ihm stundenlang allein durch den Schnee gefolgt.
Jolinda grinste erneut und zeigte dabei ihre ungewöhnlich spitzen Zähne, die Thrain lebhaft an ihre Gabe der Gestaltwandlung erinnerten. „Sie wissen nichts.", sagte sie. Der Zwerg vergrub das Gesicht in den Händen. „Sie werden dir das Fell über die Ohren ziehen...", grummelte er. „Komm!", sagte er unwirsch und griff ihre Hand, „Wenn du dich schon weg schleichen musstest, kann ich dich jetzt wenigstens nach Hause bringen."
Nur wenige Zeit später fanden sich der Zwerg und das Mädchen auf der verschneiten Flussebene wieder. Noch immer heulte der Wind und biss ihnen mit Eiseskälte ins Gesicht. Hohe Schneewehen versperrten ihnen den Weg, durch die Thrain mit Mühe einen Weg bahnte. Langsam fing es an zu dämmern. Die Sonne würde bald untergehen und noch kältere Temperaturen mit sich bringen.
Besorgt sah Thrain auf das Mädchen hinab, das ihm durch den Schnee folgte. „Oh Jolinda...", seufzte er, „Warum musstest du mir auch folgen!" Sie würde bald erbärmlich frieren und ihnen standen noch einige Stunden Fußmarsch bevor. Wie töricht von dem Kind, sich vom heimischen Hof zu entfernen. Er dachte bereits darüber nach, ihnen einen Unterschlupf für die Nacht zu bauen. Der Schnee wurde noch tiefer und ohne darüber nachzudenken, griff Thrain nach der Kleinen, um sie auf seine Schultern zu heben.
„Lass mich!", wehrte Jolinda ab. Sie trat einen Schritt zurück und schloss die Augen. Und dann vollzog sich vor Thrains Augen die sonderbarste Wandlung, die er je gesehen hatte. Dunkles Fell spross aus Jolindas Armen, Händen, Gesicht, ihrem ganzen Körper... Das Mädchen drehte ihm den Rücken zu und streifte rasch Überwurf und Kleid ab. Dann verwandelte sich ihr Körper mit einem Mal unglaublich schnell. Sie wuchs in die Höhe. Aus Händen und Füßen wurden krallenbewehrte Tatzen, sie ging auf alle viere. Als sie sich wieder umdrehte, konnte er noch sehen, wie ihr Gesicht in die Länge gezogen wurde und die Kiefer sich verformten.
Schnaufend stand ein Bär vor ihm, fast so groß wie er selbst. Noch immer war es ein junges Tier, doch Jolindas Tiergestalt war in den letzten Wochen und Monaten stark gewachsen. Sie öffnete das Maul und offenbarte beeindruckende Zähne. Vorsichtig hob sie ihre zu Boden gefallene Kleidung hoch und sah Thrain an. Der wich instinktiv vor dem Tier zurück. Mit einem Mal wurde ihm klar, wie gefährlich Jolinda ihm werden könnte, wenn sie wollte. Doch der Bär brummte nur leise und stieß sanft mit dem Kopf gegen seine Seite. Langsam erholte Thrain sich von seinem Schock.
„So bist du mir also gefolgt, mmh?", fragte er und kraulte den Bären vorsichtig am Hals. Ein tiefes Vibrieren erklang aus dem Körper des Tieres und er meinte, die gelben Augen erheitert funkeln zu sehen. Mit einem Mal fühlte er sich seltsam albern. Eben hatte er sich noch Sorgen um Jolinda gemacht. Mit ihrem Fell war sie deutlich besser gegen Wind und Kälte geschützt als er.
Sie schien einen ähnlichen Gedanken gehabt zu haben, denn schon lief sie los, um einen Weg durch den Schnee für ihn zu bahnen.
Es war rasch dunkel geworden. Doch der Bär und der Zwerg setzten ihre Wanderung unbeirrt fort. Beide sahen gut im Dunkeln und so hatten sie bald den Wald erreicht, der sie noch vom Gehöft, dem wärmenden Feuer und gutem Essen trennte. Thrain hoffte inständig, dass es Geron gut ging und die Heilkräuter ihm helfen würden.
Seine rechte Hand war in Jolindas Schulterfell vergraben und so schritten sie nebeneinander zwischen den Bäumen hindurch. Plötzlich blieb Jolinda stehen, ihre Ohren zuckten und nervös wandte sie den Kopf hin und her. Fragend sah Thrain sie an. „Was ist?", fragte er leise. Ein ängstliches Fiepen erklang aus der Kehle des Bären. Er hob die Schnauze und schnüffelte.
Da hörte auch Thrain Schritte, die sich ihnen näherten. Sein Blick flog zu den dunklen Schatten unter den Bäumen, wo sich nun mehrere Gestalten aus der Dunkelheit lösten. Orks! Als sie näherkamen, erkannte Thrain ihre hässlichen Gesichtszüge mit den riesigen Augen. Sie führten schlechte Waffen bei sich und waren in Fetzen aus Leder und Fell gekleidet. Vermutlich waren es Höhlenorks, die sich aus dem Nebelgebirge in das Flusstal vorgewagt hatten. Etwa ein Dutzend Orks umstellte sie. Jolinda fiepte und scharrte nervös mit den Tatzen im Schnee. Beruhigend fuhr Thrain über ihre Flanke und senkte eine Hand auf den Griff seiner Axt.
„Stehenbleiben!", krächzte der eine Ork in der gemeinen Sprache. „Deine Waffe, Zwerg, gib sie uns! Und ich brauche einen neuen Mantel." Er leckte sich über die Lippen und ruckte mit dem Kopf zu Jolinda. „Dein Bär wird lecker schmecken... Frisch und blutig!"
Thrain trat einen Schritt zurück, bis er Jolindas Schulter im Rücken spürte. Er hob Axt und Schild in die Höhe. Der Ork knurrte abfällig und krächzte seinen Begleitern etwas in der schwarzen Sprache zu. Zwei Orks stürzten auf Thrain zu. Aus den Augenwinkeln sah er weitere auf Jolinda zu drängen. Er wehrte einen Angriff mit dem Schild ab, hob seine Axt und schlug nach dem einen Ork. Tödlich verwundet sackte dieser zusammen. Schwarzes Orkblut färbte den Schnee zu ihren Füßen. Thrain machte einen Schritt zur Seite, wirbelte die Axt herum und bevor sein zweiter Gegner reagieren konnte, hatte die Waffe des Zwerges sich in dessen Seite gefressen. Da war bereits ein weiterer Ork heran. Eine Klinge blitzte auf. Thrain wich nach hinten aus. Doch sein Gegner folgte ihm. Ein weiterer Hieb traf den Schild des Zwerges. Da holte der Ork weit aus und Thrain erkannte die Gelegenheit. Blitzschnell führte er die Axt an der Deckung des Orks vorbei und schnitt ihm tief in den Bauch. Röchelnd brach dieser zusammen.
Der Zwerg drehte sich um. Er hatte den Kontakt zu Jolinda verloren. Mit schreckgeweiteten Augen erkannte er, wie vier Orks den Bären von beiden Seiten bedrängten. Jolinda wimmerte panisch, als Knüppel und Schwerter auf die nieder gingen. Dann drehte sie sich abrupt um und rannte fort, versuchte zu fliehen. Doch weitere Orks versperrten ihr den Weg. „Jolinda!", rief Thrain und setzte ihr nach. Da tauchten zwei weitere Orks vor ihm auf. Mit einem Schrei hob Thrain seine Axt, bereit, die beiden beiseite zu fegen. Angst um Jolinda kam in ihm hoch, als er sah, wie der Bär unter den Orks, zu verschwinden drohte. Warum wehrte sie sich nicht? Er würde nicht rechtzeitig zu ihr gelangen, bevor... Er wagte nicht, weiter zu denken.
Ein Ork fiel unter der Axt des Zwerges. „Jolinda!", schrie er aus Leibeskräften nach dem Mädchen, „Du bist ein Bär! Kämpfe!" Doch er verlor den Bären aus den Augen. Er sah nur noch die Orkmeute, die Jolinda eingekesselt hatten. War sie zusammengebrochen, zugerichtet von Schwertwunden? Sein Herz schien still zu stehen.
Ein plötzliches Brüllen zerriss die Nacht und mit einem Mal stand der Bär auf den Hinterläufen, die krallenbewehrten Pranken erhoben. Ein Tatze fuhr hinab, erwischte einen der Orks und schmetterte seinen Körper in die Luft. Mit einem dumpfen Aufprall schlug der Ork gegen einen Baum und blieb verkrümmt liegen. Mit einem weiteren Brüllen stürzte Jolinda sich vor, ihre Zähne gruben sich in den Hals eines Orks und schleuderte diesen beiseite. Blut bespritzte den Schnee und das Fell des Bären.
Wie zu Stein erstarrt standen die Orks da und blickten mit plötzlicher Furcht den Bären an. Die eben noch so leichte Beute hatte sich in einen gefährlichen Gegner verwandelt. Thrain hob seine Axt und mit einem lauten Schrei köpfte er den vor ihm stehenden Ork. Das brachte die Verbliebenen zur Besinnung. Sie wandten sich um und flohen in die Dunkelheit.
„Jolinda!", rief Thrain aus und eilte auf den Bären zu. Dieser war bereits wieder auf alle viere gegangen und schien in sich zusammen zu schrumpfen. Da saß auch schon Jolinda im Schnee, nackt und zitternd. Mit verstörtem Blick sah sie sich um und griff nach dem Schnee, um sich hektisch das Blut aus dem Gesicht zu wischen. Sie schluchzte hysterisch und stopfte sich Schnee in den Mund. Dann als der Zwerg bei ihr war, beugte sie sich vornüber und erbrach sich.
Thrain packte die Kleidung, die der Bär fallen gelassen hatte, kniete sich hin und zog das haltlos schluchzende Mädchen auf seinen Schoß. Rasch schlug er seinen Mantel um die Kleine. Sie war vollkommen geschockt. „Ruhig, es ist alles gut. Ich bin hier. Es passiert dir nichts.", brummte Thrain, während Jolinda in seinen Armen hemmungslos schluchzte. „Ich... kann... ihr Blut noch... schmecken!", stieß sie abgehackt hervor, die Stimme hoch und hysterisch. Er schlang die Arme fester um sie. „Das geht weg.", sagte er sanft, „Alles ist gut." Sie war nur ein Kind, ein Kind, das gerade zum ersten Mal getötet hatte.
Es dauerte lange, bis das Mädchen sich so weit beruhigt hatte, dass er ihr in ihre Kleidung helfen konnte. Dann stand er auf, Jolinda in den Armen tragend und setzte seinen Weg durch den Wald fort. Die Kleine vergrub ihr Gesicht an seinem Hals, die Arme um ihn geschlungen, ließ sie sich tragen, noch immer leise schluchzend.
Endlich lichtete sichvor ihnen der Wald und Thrain konnte die Lichter des Gehöftes erkennen.
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