Galadriels Spiegel
Die nächsten Tage und Wochen verbrachte Thrain meist hoch oben in den Mallornbäumen an der Grenze Lothloriens. In stiller Wacht beobachteten er und die Krieger der Elben den umliegenden Wald und suchten nach Orks, Wargen oder Trolle, die es wagten, den goldenen Wald zu betreten.
Tatsächlich gab es immer wieder kleinere Scharmützel, wenn eine Gruppe Feinde versuchte, in das Reich Galadriels vorzudringen. Diese Kämpfe konnten meist noch ohne größere Verluste auf Seiten der Verteidiger geschlagen werden. Doch Zuversicht mischte sich nun auch immer mehr mit Sorge und Anspannung. Was, wenn der Strom an Feinden niemals versiegen würde? Was, wenn zu viele Eindringlinge auf einmal angriffen und sie es schafften, die Grenze zu überschreiten?
Und so vergingen für Thrain die längsten Nächte des Jahres auf den Spähplattformen der Elben, nur wenige Blätter und Zweige über seinem Haupt und darüber der klare, funkelnde Nachthimmel des Winters. Tiefe Stille lag in der Nacht der Wintersonnenwende über Lothlorien und hier an der Grenze des goldenen Waldes fielen tatsächlich auch ein paar wenige Schneeflocken, kleine, filigrane Eiskristalle, die wie winzige Sterne auf der behandschuhten Handfläche Thrains zum Liegen kamen.
Seine Gedanken weilten bei Ira und dem Fest der Sommersonnenwende, das sie vor einem halben Jahr noch so glücklich zusammen gefeiert hatten. Viel hatte sich seit dem verändert und voller Sehnsucht dachte er an sie. Zärtlich wünschte er ihr Glück und Friede, wo auch immer sie nun weilte.
Der Winter schritt voran und Thrain merkte, dass er nun von den Elben recht anders behandelt wurde, seit dem er mit ihnen zusammen an der Grenze kämpfte. Kaum noch abfällige Bemerkungen bekam er zu hören. Sie fingen an, ihn zu respektieren. Rumil war ihm gegenüber richtig freundlich geworden. Oft saßen sie beisammen und unterhielten sich leise. Der Frage, die Thrain unweigerlich gestellt wurde, woher er den Sindarin könne, wich er wieder mit seiner üblichen Antwort aus, er sei eben viel herumgekommen. So ganz zu glauben schien man ihm nicht. Doch die Elben waren zu höflich gegenüber dem, wie sie nun erkannten, äußerst fähigen Krieger, um weiter nachzubohren.
Regelmäßig kamen frische Truppen an die Grenze, zu denen mitunter auch Lenya, Haldir und Orophin gehörten. Und dies bedeutete auch, dass Thrain manchmal für einige wenige Tage zurück nach Caras Galadhon kam.
Es war eine bitterkalte Nacht im tiefsten Winter, einige Wochen nach der Wintersonnenwende, als Thrain mit Lenya, Haldir, Orophin und Rumil zusammen wieder auf einer der Spähplattformen saß. Orophin und Lenya beobachteten wachsam den Waldboden unter ihnen, während Haldir, Rumil und Thrain sich im Flüsterton über die Späherberichte austauschten, die man in den letzten Tagen erhalten hatten. Von großen Orkmeuten, die durch das Land zogen, erzählten sie, von drohendem Krieg in Rohan und Gondor und von Armeen, die in Isengart ausgehoben wurden.
„Ich werde nach Imladris schreiben.", sagte Haldir leise, „Wir können Unterstützung gebrauchen. Herr Elrond soll uns einen Teil seiner Truppen schicken."
„Denkst du, du kannst ihn überzeugen?", fragte Thrain skeptisch.
Ein schwaches Lächeln zog über Haldirs Gesicht. „Meine Verlobte Arrian wurde von ihm aufgezogen. Sie wird ihn überzeugen können und womöglich sogar mit den Hilfstruppen hierher kommen.", erwiderte er.
Da erinnerte sich Thrain an die Menschenfrau, die ihn als Jungen auf Bitten seiner Mutter hin unterrichtet hatte. Kurz wurde ihm flau im Magen. Haldir erkannte ihn nicht, dafür war zu viel Zeit vergangen, doch wie wäre es mit Arrian?
„Wach auf Tarl!", Lenyas Stimme schnitt schrill in seinen Dämmerschlaf. Thrain riss die Augen auf. Während die anderen Wache gehalten hatten, hatte er etwas geschlafen. Noch immer umgab sie nächtliche Dunkelheit. Schreie und Kampfgeräusch lagen in der Luft. Sofort war der Zwerg hellwach. Rasch richtete er sich auf, begegnete dem Blick der Elbin, deren Augen in Panik geweitet waren.
Da erzitterte mit einem Mal der Baum, auf dem sie sich befanden. Etwas unter ihnen brüllte voller Kampflust. Den Griff seiner Axt umklammert robbte Thrain an den Rand der Plattform und spähte hinab. Sein Innerstes schien zu gefrieren. Der Waldboden war eine wogende dunkle Masse aus Orks und Wargen. Die wenigen Elben, die bereits unten kämpften, schienen von der Menge an Angreifern schier erdrückt zu werden. Und da, direkt unter ihnen, stand ein riesenhafter Troll und warf sich ein zweites Mal gegen ihren Baum, der bedrohlich zu knarzen begann.
Rumil neben Thrain schoss Pfeile auf den Troll ab, doch sie zeigten kaum Wirkung bei der dicken Haut des Ungetüms.
„Wir müssen da runter!", brüllte Thrain gegen den Lärm an. Haldir hatte die Strickleiter bereits herabgelassen. Er und Lenya kletterten schon nach unten, die letzten Meter überwanden sie, indem sie sich einfach fallen ließen. Mit gezückten Schwertern stürzten die beiden Elben sich in den tobenden Kampf.
Ohne lange zu zögern folgte ihnen Thrain, während Orophin und Rumil oben blieben, um ihre letzten Pfeile zu verschießen.
Der Mut drohte Thrain zu verlassen, als er unten angekommen war und sich umsah. Von überall her schienen die Feinde auf sie einzudringen. Kaum eine Chance hatten die Verteidiger und tatsächlich wichen die Elben bereits Stück für Stück zurück, versuchten, sich zu sammeln, eine Linie zu bilden. Haldir brüllte aus vollem Hals Befehle, seine Klinge wirbelte wie ein silberner Schleier umher, fällte Orks zu Dutzenden. Neben ihm tanzte Lenya einen tödlichen Tanz mit gleich mehreren Feinden.
Von irgendwoher erklang ein schreckliches Krachen und Bersten, gefolgt vom triumphierenden Schrei eines Trolls. Ein Mallornbaum war zu Boden gestürzt.
Thrain hob seine Axt in die Höhe. „Durin!", schrie er und warf sich auf die unzähligen Orks, die zwischen den Bäumen hervorkamen. Den ersten schlug er nieder, einem Angriff wich er aus, parierte einen Hieb und durchschnitt die Kehle des nächsten Orks. Blut spritzte auf. Der Gestank seiner Angreifer ließ Übelkeit in ihm aufsteigen.
Knurrend näherte sich ihm eine Warge von hinten. Er wirbelte herum, eingekeilt zwischen Orks und Warge. Wen sollte er zuerst angreifen. Das Untier sprang vor, seine Zähne schnappten nur haarscharf an Thrain vorbei. Seine Waffe wirbelte herum und grub sich seitlich in das Fleisch des Wargs. Mit einem Jaulen brach das Tier zusammen.
Ein Sausen hinter ihm war alles, was ihn von dem bevorstehenden Angriff warnte. Er riss den Kopf zur Seite, entging so nur knapp der Waffe des Orks. Eben, als er sich wieder herum drehte, zischte ein Pfeil an ihm vorbei und durchbohrte den Hals seines Feindes.
Dankbar sah er in die Richtung, aus der der Pfeil gekommen war und erblickte Rumil, dem er dankend zunickte. Dann eilte er los, um Lenya und Haldir zu unterstützen.
Seite an Seite mit den beiden Elben kämpfte er nun gegen die schiere Übermacht an Feinden. Stück für Stück wurden sie zurückgedrängt.
Da erklang plötzlich ein Hornsignal, das Horn eines Elben, klar und rein. Verstärkung war da! Mit lautem Jubel begrüßten sie die Krieger, die von anderen Teilen der Grenze herbei geeilt kamen, um ihnen zu helfen.
Thrains Augen folgten den neu eingetroffenen Elben und mit einem Grinsen sah er, wie die Eindringlinge zurück gedrängt wurden. Da erblickte er einen riesenhaften Ork mit einem großen, schartigen Schwert, der sich ihm mit raschen Schritten näherte. Gut zwei Köpfe größer als der Zwerg war er, Geifer tropfte aus seinem Mund voller verfaulter Zähne und Hass lag in seinem Blick. Die Axt bedächtig in der Hand wiegend, ging Thrain ihm entgegen, die Herausforderung annehmend.
Sein Gegner holte aus, Thrain riss die Axt empor. Schwer krachten die Waffen aufeinander und der Zwerg japste nach Luft, als der Aufschlag ihm schmerzhaft durch die Arme fuhr. Er riss die Axt zurück und griff seinerseits an. Doch der Ork blockte mit Leichtigkeit ab. Wieder und wieder versuchte Thrain, die Verteidigung des Feindes zu durchdringen, doch es gelang ihm nicht. Der Ork war so unglaublich stark. Jeder Schlag ließ Thrain erzittern und bald versuchte er häufiger, der Waffe des Anderen einfach nur auszuweichen. Er wurde müde, während sein Gegner nicht schwächer zu werden schien. Um sie herum tobte immer noch der Kampf, während Thrain immer weiter zurück gedrängt wurde, bis er sich mit dem Rücken an einem Baum wieder fand.
Da holte der Ork zu einem erneuten Schlag aus, den Thrain mit seiner Waffe abfing. Die Axt wurde ihm aus der Hand geschleudert, so kraftvoll war der Hieb des Orks.
Thrain war wehrlos, ausgeliefert. Er konnte nicht mehr reagieren. Er sah seinen Gegner wieder ausholen und wie in Zeitlupe erblickte er dessen Schwert, wie es ihm immer näher kam.
Ein furchtbarer Schmerz fraß sich in sein Gesicht. Schreiend vor Schmerz stürzte er auf den Boden. Hitze und Qualen tobten in seinem Antlitz. Er hob die tränenden Augen empor, sah zu dem Ork auf und erblickte verschwommen zwei Elben, die sich auf den Gegner warfen.
Dann umgab ihn Schwärze.
Ein Messer aus puren Flammen zerteilte sein Gesicht, ließ ihn brennen und fruchtbare Qualen erleiden. Gepeinigt schrie er auf, brüllte den Schmerz aus sich heraus. Ihm war so heiß. Jede Bewegung bescherte ihm unheimliche Torturen. Etwas berührte ihn, fast unerträglich war ihm die Empfindung. Wild schlug er um sich.
Brennende Schwärze umgab ihn, verzehrte ihn, bis nichts übrig blieb außer unerträglichem Schmerz. Jeder Gedanke in ihm war ausgelöscht. Er hörte Stimmen um sich her, sah Schemen, die umher eilten, Hände, die ihn berührten, doch nichts davon drang zu ihm durch. Konnte dieser grausame Schmerz nicht endlich aufhören? Der Tod war ihm lieber als diese Qualen!
Flammen breiteten sich von seinem Gesicht her aus, liefen durch seinen ganzen Körper. Gequält schrie jede Faser seiner Arme und Beine auf. Dann wiederum erschien es ihm, als läge er nackt auf Eis. Es schüttelte ihn vor Kälte, die sich im nächsten Moment wieder in glühende Hitze verwandelte.
Er sah Personen, die auf ihn herabblickten. Eine Elbin, die unverständliche Worte auf ihn einredete. Ihr Antlitz veränderte sich plötzlich. Wohlbekannte dunkle Augen in einem freundlichen Gesicht. „Mutter...", wisperte er kraftlos. Dann verschwand sie wieder. War er wach, träumte er?
„Wir brauchen Verbandsmittel!", rief irgendwo eine Stimme.
Sein Vater sah ihn voller Zorn an. „Nie hätte ich gedacht, dass du uns im Stich lässt!", donnerte Thorins Stimme durch den Thronsaal. Der König unter dem Berge sah von seinem Thron herab auf Thrain, die Rabenkrone blitzte im Licht der vielen Kerzen. Seine Geschwister wandten sich von ihm ab.
Thal brannt vor seinen Augen, tausende Orks belagerten den Erebor. Hilflos versuchten die Zwerge des Berges sich zu verteidigen, doch sie standen einer Übermacht gegenüber. Der grausame Lärm der Schlacht erfüllte Thrains Ohren. Sein Volk starb.
Und da war Ira! Umgeben von Orks, um Hilfe schrie sie, während sie von den Monstren in eine dunkle Höhle gezerrt wurde. Er musste zu ihr! Er musste helfen!
Doch er konnte sich nicht bewegen. Seine Glieder waren schwer, als wären sie mit Eisen gefüllt. Die Schmerzen lähmten ihn. Ira verschwand aus seinem Blick. „Ira!", schrie er verzweifelt, „Ira!"
Das blasse Gesicht einer blonden Elbin schwebte über ihm. Sternen glitzerten in ihren dunklen Augen. Leise Worte murmelte sie, die er nicht verstand. Doch er fühlte Ruhe, die sich in ihm ausbreitete. Die grausamen Bilder wurden schwächer und versanken dann schließlich völlig in der tröstenden Dunkelheit traumlosen Schlafes.
Ganz langsam wich die Dunkelheit aus Thrains Bewusstsein. Er spürte, dass er in einem weichen Bett lag. Licht drang durch seine geschlossenen Augenlider. Keine Flammen oder Eisschauer wüteten mehr durch seine Glieder. Doch noch immer fühlte er einen deutlichen Schmerz in seinem Gesicht.
Er bewegte den Kopf, ein leises Stöhnen kam ihm über die Lippen.
„Herrin! Herrin!", die Stimme einer Elbin drang an sein Ohr, „Er wacht auf!"
Mühselig öffnete Thrain die Augen. Geblendet vom Tageslicht sah er um sich. Doch viel konnte er nicht erkennen, es fiel ihm schwer, seine Umgebung scharf zu stellen. Er musste in einem elbischen Zimmer liegen, umgeben vom silbrigen Holz eines Mallornbaumes. Doch ein heftiges Pochen hinter seinen Schläfen ließ ihn wieder die Augen schließen.
„Ist er eben erst aufgewacht?", erklang da eine dunkle Frauenstimme. Die Elbin von eben bestätigte dies. Leise Schritte verschwanden aus dem Zimmer.
„Wie geht es dir?", wurde er leise gefragt.
Trotz der heftigen Kopfschmerzen öffnete Thrain wieder die Augen. Darum bemüht, still liegen zu bleiben, ließ er den Blick umher schweifen. Da erkannte er Galadriel selbst, die an seinem Bett saß und ihn warm anlächelte.
„Was ist passiert?", fragte er mit krächzender Stimme. Das Sprechen bereitete ihm Mühe und ein unangenehmes Ziehen breitete sich über seine rechte Wange aus. Er wollte die Hand heben, doch die Bewegung war so anstrengend, dass er sie sofort wieder aufs Bett sinken ließ.
„Die Angreifer...", bohrte er trotz der Anstrengung weiter, „Die anderen, Haldir, Lenya..."
Mit einer sanften Geste brachte Galadriel ihn zum Schweigen.
„Es geht ihnen gut.", begann sie, „Die Verstärkung von den umliegenden Wachposten traf rechtzeitig ein, um den Angriff zurück zu schlagen. Seit dem herrscht auch relative Ruhe an den Grenzen und es kommt nur zu wenigen Scharmützeln. Viele Krieger verloren wir jedoch an diesem Tag und noch mehr wurden verwundet. Von den Verwundeten warst du am schwersten verletzt. Orophin trug dich eigenhändig bis hierher nach Caras Galadhon."
Die Elbin stand auf und trat zu einer kleinen Kommode, wo sie einen silbernen Becher mit einer klaren Flüssigkeit aus einem Krug füllte.
„Wo bin ich hier?", fragte Thrain. Dies war nicht seine Behausung.
Galadriel lachte leise. Glockenhell klang ihre Stimme und es war ein Laut voller Freude. „Du bist in meinem Haus.", erwiderte sie. Mit dem Becher in der Hand trat sie wieder auf ihn zu.
„Hier trink das.", sagte sie, „Du wirst noch lange schlafen müssen, um vollständig gesund zu werden."
„Was ist mit mir passiert?", wollte Thrain wissen. Er versuchte, sich aufzusetzen, doch sofortiger Schwindel machte weitere Bewegung fast unmöglich.
Galadriel jedoch ging nicht weiter auf seine Frage ein. Sie setzte sich neben ihn, stützte vorsichtig seinen schmerzenden Kopf und half ihm, ein paar Schlucke von der Medizin zu trinken.
Kaum sank Thrains Kopf zurück in die Kissen, war er schon wieder eingeschlafen.
Leiser Gesang, gemischt mit Harfenklängen weckte Thrain aus tiefem, erholsamen Schlummer. Keine grausamen Traumbilder hatten ihn heimgesucht. Helles Licht drang durch seine Augenlider und sanfter Wind strich über sein Gesicht.
Langsam öffnete er die Augen.
Ein Vorhang aus hellem Stoff flatterte an einem offenen Fenster in der Brise, dahinter sah er die goldenen Blätter Lothloriens, wie sie sanft hin und her wiegten.
Er musste lange geschlafen haben. Nur verschwommen erinnerte er sich an seine Unterredung mit Galadriel. Und er fühlte sich viel stärker und ausgeruhter.
Einen Moment blieb er noch liegen und sah sich in dem Zimmer um, das er nun zum ersten Mal richtig wahrnahm. Überall um ihn her war das helle Silberholz der für Lorien typischen Bäume.
Er lag in einem riesigen Bett, das direkt an der Außenwand des Mallornbaumes zu liegen schien. Neben ihm öffnete sich ein spitz zulaufendes Fenster. Zwei mit hellem Stoff bespannte Diwane standen in der Nähe, neben einer kunstvoll aus dem Holz des Baumes geformten Kommode. Flatternde Stoffbahnen in Silber und Weiß hingen im Durchgang zum nächsten Zimmer.
Vorsichtig setzte er sich auf, erfreut darüber, dass ihm die Bewegungen bei weitem nicht mehr solche Schmerzen bereiteten. Doch noch immer fühlte sich irgendwas in seinem Gesicht anders an. Irritiert hob er eine Hand und tastete darüber. Mitten in der Bewegung hielt er inne, als er eine schmerzhafte Wulst an seiner rechten Wange ertastete.
Seine Gedanken rasten und er erinnerte sich an den furchtbaren Schmerz in seinem Gesicht. Sein Blick fiel auf einen Spiegel, der über der Kommode hing.
Er schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. Seine nackten Füße berührten den wunderbar weichen Teppich, der den Holzboden bedeckte und langsam richtete er sich auf, noch immer etwas wacklig auf den Beinen.
Dann tappte er vorsichtig durch das Zimmer und sah in den Spiegel, wo er fassungslos auf sein Gesicht starrte.
Die frisch verheilende Wunde eines tiefen Schnitts zog sich von der linken Augenbraue, quer über den Nasenrücken und dann über die rechte Wange bis zum Unterkiefer. Leuchtend rot hob sich die Wunde von seinem Gesicht ab, eine hässliche Wulst, die zu einer großen Narbe werden würde. Für immer würde er diesen Schnitt im Gesicht tragen. Vom Kampf gezeichnet war er nun für den Rest seines Lebens.
Ganz vorsichtig tastete er über sein Gesicht, fuhr den Verlauf der Wunde nach, als könnte er so besser glauben, was da passiert war.
Innerlich sah er Fili plötzlich vor sich und ihm wurde klar, dass er sich glücklich schätzen konnte, nicht wie sein Vetter ein Auge verloren zu haben.
Doch lange noch blieb er vor dem Spiegel stehen und starrte auf den tiefen Schnitt, der nun sein Gesicht zerteilte.
Mehrere Tage blieb Thrain noch im Hause Galadriels und Celeborns. Am Anfang schlief er noch viel oder er aß mit großem Appetit, was ihm die Elben an Speisen brachten.
Hin und wieder sah die Herrin selbst nach ihm. Doch bald schon, da er durch die elbische Medizin auch zunehmend wieder kräftiger wurde, spürte er Langeweile aufkommen und so begann er, umherzuwandern.
Obwohl er sich immer noch nicht so ganz an die gigantische Höhe der Mallornbäume gewöhnt hatte, zog es ihn oft zu einer Veranda des Hauses nicht weit von seinem Zimmer. Von dieser überdachten Plattform aus hatte man eine wunderbare Sicht über das Herz von Caras Galadhon und die vielen beleuchteten Häuser, Treppen und Brücken hoch oben in den Bäumen.
Und so stand er an einem Winterabend erneut in gebührlichem Sicherheitsabstand vom Abgrund da und betrachtete seine Umgebung. Doch so richtig sah er sie nicht. Wie so oft in der letzten Zeit grübelte er über die Bilder seiner Fieberträume nach, seine Familie, der Erebor und Unwissenheit quälte ihn. War der Krieg nun auch bei Ihnen? Würde sein Vater ihn wirklich voller Zorn abweisen? Was war mit seiner Mutter? Würden die Geschwister verstehen?
„Oft weilen deine Gedanken bei deiner Heimat.", erklang da eine wohlbekannte Stimme hinter ihm. Er drehte sich um und es überraschte ihn nicht, Galadriel dort stehen zu sehen. Barfuß, wie so oft, stand die Herrin dort, in ein nachtblaues Kleid gehüllt und ein einfacher silberner Stirnreif schmiegte sich an ihr Haupt.
Er nickte und die Elbin trat an seine Seite.
„Erst in den letzten Wochen wurde mir klar, dass Krieg in Mittelerde entbrannt ist. Auch der Erebor ist nun vielleicht nicht mehr sicher. Nach allem, was ich weiß, könnten sie bereits von Feinden umzingelt sein. Über ein Jahr habe ich meine Eltern, meine Geschwister, meine Verwandten nicht mehr gesehen.", erwiderte Thrain und zittrig holte er Luft. „Ich weiß nicht, was ich tun soll, Herrin.", fuhr er leise fort, „Im Streit trennten mein Vater und ich uns. Ich bin fortgezogen, ohne Abschied zu nehmen. Nun trennen mich so viel mehr als Meilen von meiner Heimat."
Eine Zeit lang schwiegen sie. Dann drehte die Elbin sich plötzlich um und ging zum Haus zurück. „Komm mit mir.", forderte sie ihn auf und neugierig folgte Thrain ihr.
Galadriel führte ihn durch die weitläufigen Flure ihres Hauses, erhellt von dem strahlenden Licht dutzender Kristalllampen und Fackeln, in deren Schein das Mallornholz hell aufleuchtete. Zierliche geschnitzte Säulen trugen eine filigrane Konstruktion aus Spitzdächern, die sich immer wieder zum Himmel hin öffneten, wo sich die goldenen Blätter Loriens gegen den dunkler werdenden Abendhimmel abhoben und die ersten Sterne bereits am Firmament funkelten.
An manchen Stellen öffnete sich das Haus zum Wald hin und man konnte über die Stadt der Elben sehen. Abendliche Gesänge erfüllten die Luft und vermischten sich mit dem Geräusch der Brise, die sanft Blätter und Vorhänge bewegte.
Elbin und Zwerg betraten eine weitläufige Plattform direkt vor den Pforten des Hauses und von dort ging es eine überdachte Wendeltreppe hinab, die sich um den mächtigen Stamm des Mallorn wand.
Galadriel folgte einem Kiesweg nach Norden, in einen kleinen Teil der Stadt nahe ihrem Haus, der vollkommen unbewohnt war. In liebevoller Arbeit hatten die Elben hier Gärten angelegt. Hunderte Blumen säumten den Pfad, dem sie nun folgten. So viele unterschiedliche Arten wuchsen hier, wie Thrain sie noch nie gesehen hatte. Sie schienen nicht in Beeten zu wachsen, viel mehr hatten die Elben es verstanden, ihren Garten dem natürlichen Wuchs der Dinge folgen zu lassen. Hecken und Büsche wuchsen unter den Bäumen, einige wenige Pavillons und Bänke standen bereit. Doch Galadriel führte Thrain immer weiter, bis sie schließlich eine kleine Lichtung betraten.
Weiße Blumen wuchsen hier verstreut und mit einem Mal fühlte der Zwerg sich an einen Traum erinnert, den er vor Wochen gehabt hatte. Fast vollkommen still war es hier. Man konnte fast vergessen, hier noch immer in der Stadt zu sein, denn keine Gesänge, keine Musik drang bis zu ihnen vor. Nur die Geräusche der beginnenden Nacht waren zu hören und das leise Plätschern eines Baches, der über die Wiese floss.
Am Rande der Lichtung fiel das Wasser über einige Steinstufen einen kleinen Wasserfall hinab, bevor es sich munter murmelnd seinen Weg bahnte. Dorthin führte Galadriel Thrain nun, den ein seltsames Kribbeln erfasst hatte. Etwas lag in der Luft, etwas, was er nicht gänzlich benennen konnte.
Sie standen nun vor dem Wasserfall, wo sich auf ungefähr halber Höhe das Wasser in einem kleinen natürlich Becken sammelte. Daneben stand ein uralter, schlichter Steinkrug, dessen einziger Schmuck elbische Runen waren. Galadriel ergriff den Krug und füllte ihn mit Wasser aus dem Becken. Dann ging sie, vollkommen lautlos, als würde sie über das Gras schweben, zu einem steinernen Sockel. Reliefs von Pflanzen rankten sich um diesen, der jedoch ebenfalls von enormem Alter zu sein schien. Und auf dem Sockel lag ein breiter, flacher Teller aus einfachem Silber. In diesen goss die Herrin des Waldes nun das Wasser, trat einen Schritt zurück und sah den Zwerg an.
„Dies ist Galadriels Spiegel.", sagte sie, „Du kannst hinein schauen."
Langsam näherte sich der Zwerg dem Sockel und warf einen kurzen Blick auf das Wasser, das sich noch immer leicht kräuselte. Doch er sah nicht mehr darin, als das verschwommene Spiegelbild der Sterne über ihm.
„Was kann ich darin sehen?", fragte er sie, verwirrt, was dies hier zu bedeuten hatte.
Die Elbin lächelte. „Das vermag ich dir nicht zu sagen.", antwortete sie, „Der Spiegel ziegt jedem anderes. Doch auch immer das Gleiche. Dinge, die waren, Dinge, die sind und manche Dinge, die vielleicht noch sein werden."
Mit gerunzelter Stirn trat Thrain an den Spiegel heran, gerade so konnte er sich über den Tellerrand beugen. Kurz noch sah er zu der Elbin auf, die, noch immer mit dem Steinkrug in der Hand, ihn beobachtete. Dann sah er auf den Spiegel hinab.
Vollkommen glatt war das Wasser nun. Und er erblickte sein eigenes Spiegelbild gegen den dunklen Himmel. Die schwere Wunde, die sich quer durch sein Gesicht zog, das kurze, schwarze Haar, das er noch nicht lange wieder wachsen ließ, die Narben, die am Hals zu sehen waren, Überreste seiner Verbrennungen in Nebelgrund, und der scharfe Blick aus hellblauen Augen.
Da veränderte sich das Bild mit einem Mal und mit einem Aufkeuchen zuckte Thrain ein Stück zurück. Doch er konnte den Blick nicht abwenden. Keine Narben verunstalteten sein Gesicht mehr, der Ausdruck der Augen voller Lebenskraft und Hoffnung, das lange, dichte Haar verziert mit der Schließe der Steinbärte. Fast vermochte er den Prinzen, der ihm entgegen sah, nicht wieder zu erkennen.
Farben glitten über den Spiegel und er schaute plötzlich in das königliche Quartier des Erebor. Vier Zwergenkinder spielten im Salon des Königspaares miteinander. Holzfiguren und Stofftiere wurden über den flauschigen Teppich geschoben. Thrains Blick hing an dem Jungen mit schwarzem Lockenhaar, der lachend seine Spielzeuge zum Angriff führte.
Da lagen plötzlich die Wiesen des Erebor vor ihm. Fenja rannte kreischend und lachend über den Berghang, wich dem jugendlichen Thrain aus, der sie verfolgte und einzuholen gedachte.
Thrain, noch lange bevor ihm irgendein Bartflaum gewachsen war, trug einen schlafenden kleinen Zwergling auf den Armen, Rhon. Vorsichtig bettete der Zwergenjunge das Kind in sein Bettchen, beobachtet von zwei schemenhaften Gestalten.
Thrain und Frerin in ein wildes Gefecht verwickelt, ihre Holzschwerter prallten gegeneinander. Die Augen der beiden Jungen funkelten vor Freude und Abenteuerlust.
Und da war sein Vater. Lachend hob er den kleinen Thrain auf seinen Arm und ignorierte das sicher schmerzhafte Ziehen des Kindes an seinen Schläfenzöpfen. Liebevoll drückte er dem Zwergling einen Kuss auf die Stirn. Seine Mutter trat auf die zwei zu, ihre dunklen Augen leuchteten voller Liebe, als sie die Arme um beide legte.
Geduldig lehrte Thorin seinem jugendlichen Sohn den Schwertkampf, brachte ihm alles bei, was er wusste. Stolz verfolgte Lyrann die Übungen der beiden, hin und wieder einen Hinweis für den Sohn einwerfend.
Die prachtvolle Doppelaxt, von seinem Vater geschmiedet, lag in Thrains Hand.
Und da sah er wieder sich selbst als Kind, bei seinen Eltern ins Bett gekuschelt, nachdem er, von einem Alptraum geweckt, zu ihnen unter die warmen Decken geflohen war.
Tiefe Sehnsucht nach seiner Familie erfüllte Thrains Herz, während er auf seine Eltern hinab sah. Groll und Zorn waren verschwunden, nichts als Liebe fühlte er.
Da änderte sich das Bild erneut.
Zornig blitzten die Augen Thorins. Wütend schrie der König ihn an. Die Worte aus seinem Mund konnte Thrain nicht verstehen. Doch er sah sich selbst, verletzt und wütend, vor seinem Vater stehen und verfolgte, wie die beiden Männer einander anbrüllten.
Einsam funkelnd stand die prachtvolle Doppelaxt des Thronfolgers in der Ecke seines Zimmers... Ein einzelner Reiter verließ heimlich in der Nacht den Erebor.
Die Gesichter Gringorns, Evolets, Gerons und Jolindas zogen über den Spiegel.
Nebelgrund tauchte aus dem Dunkel zwischen den Berghängen auf. Und da war Ira! Ihre Kristallaugen lachten ihn voller Liebe an. Doch sie war nicht in die Kleidung der Hure oder einfachen Bäuerin gekleidet, wie er es sonst an ihr gesehen hatte. Prachtvolle Kleider und Schmuck trug sie, wie eine Adelige des Erebor.
Gemeinsam tanzten sie ums Feuer beim Fest der Sommersonnenwende, küssten sich voller Liebe.
Und da beugte er sich über Arnfast, das Gesicht vor Hass bis zur Unkenntlichkeit verstellt und prügelte auf den Mann ein.
Faris Leiche vor ihm... Die Leichen der Schmuggler... Nebelgrund zerstört...
Da tauchte ein Wald vor ihm auf und er sah die unzähligen Kämpfe, die an seinen Grenzen ausgefochten wurden, sah die Dunkelheit, die von überall her auf dieses kleine Reich zukroch.
Hunderte und tausende von Orks marschierten über eine Ebene, schwarze Reiter preschten über das Land.
Eine uralte Festung voller Feinde...
Und ein rauchender feuriger Berg, der sich gegen den dunklen Himmel erhob.
Esgaroth brannte... Am langen See wurde gekämpft. Er erblickte die Standarte des Königs unter dem Berge!
Eine Gruppe zerlumpter Gestalten kämpfte sich einen unwegsamen Weg entlang. Kristallaugen unter einer Kapuze sahen zu ihm auf.
Neun Gefährten folgten einem schmalen Bergweg.
Eine riesige Armee, die sich dem Erebor näherte. Thrain keuchte auf. Eine verschwindend kleine Gruppe aus Zwergen und Menschen warfen sich den Angreifern entgegen. Sie hatten keine Chance! Thal und Esgaroth lagen zerstört da. Alle Hoffnung ruhte auf der Verteidigung des einsamen Berges!
Doch die Verteidiger wichen immer weiter zurück.
Da waren seine Eltern! Sie trugen die Rüstungen der Herrscher des Erebor, verzweifelt sammelten sie die letzten Krieger um sich, umringt von Feinden waren sie, bereit, im Kampf zu sterben. Ihre flehenden Blicke waren auf Thrain gerichtet.
Der Thron des Erebor erschien mit einem Mal vor ihm. Ein schwarzhaariger Zwerg saß darauf, die Rabenkrone auf seinem Haupt. Der König unter dem Berge hob den Blick und Thrain erkannte sich selbst dort auf dem Thron.
Doch das Bild ging in Flammen auf, der Erebor war zerstört, tausende Tote lagen auf den Feldern vor den Pforten des Berges und er selbst lief allein über die Ebene, den Blick suchend hin und her wendend.
Und da lagen sie... Die toten Körper seiner Eltern und seiner Geschwister...
Mit einem Aufschrei stolperte Thrain zurück, weg von dem Spiegel. Keuchend starrte er zu der Elbin, die seinen Blick ruhig erwiderte.
„Was war das?", flüsterte er, seiner Stimme nicht mehr Herr.
„Es ist die Macht des Spiegels, dem Betrachter Dinge zu zeigen, die längst in Vergessenheit geraten sind und auch eine Ahnung zu geben, von dem, was passieren kann.", antwortete Galadriel, „Du sahst den Krieg, der über deine Heimat fegt, und was passiert, wenn der Erebor, das Bollwerk im Norden, nicht standhält."
„Ich sah meine Eltern im Kampf fallen...", wisperte Thrain, „Ich sah mich als König unter dem Berge..."
„Vieles zeigt der Spiegel. Doch was davon Wahrheit werden wird, das vermag selbst ich nicht dir zu sagen.", erwiderte die Elbin und trat vor ihn.
Aufgewühlt starrte Thrain auf den Spiegel, in dem sich wieder nur die Sterne des Nachthimmels spiegelten. Die Bilder des Kampfes vor dem einsamen Berg hatten sich tief in sein Inneres gebrannt. Was sollte er nur tun?
„Was soll ich tun?", fragte er Galdriel, doch diese schüttelte nur sanft den Kopf
„Auch das vermagst nur du selbst dir zu beantworten. Doch eines zeigte der Spiegel dir, was du lange Zeit vergessen hast. Du bist der Sohn deiner Eltern, Thorin Eichenschild und Lyrann Silberkönigin. Du bist der Prinz unter dem Berge, der Thronfolger und Erbe des Arkensteins."
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