Flüchtlinge
Der nächste Morgen kam für Thorin sehr viel früher, als ihm lieb war. Pünktlich zum Sonnenaufgang betrat sein Kammerdiener das königliche Gemach, um ihn mit einem einfachen Frühstück zu wecken und das Kaminfeuer anzufachen. Liebevoll wandte Thorin sich zu seiner Frau um, die sich im Schlaf leise murmelnd herumdrehte und das Gesicht, halb von dunklen Locken bedeckt, ins Kissen drückte.
Seine Gedanken kehrten zum Abend zurück, wie sie beide am Ufer des Sees Arm in Arm eingedöst waren. Es war bereits dunkel gewesen, als er aufgewacht war, sacht Lyrann geweckt hatte und sie gemeinsam zum Berg zurück geritten waren. Ein liebevolles Lächeln huschte über seine Züge. Sanft küsste er die schlafende Lyrann auf die Stirn und befreite sich aus ihrer Umarmung, bevor er auf Zehenspitzen das Schlafzimmer verließ.
Am Hauptportal des Erebor wurde er bereits erwartet. Dort, unter dem geöffneten Tor, an dem zu dieser frühen Stunde nur ein paar der wachhabenden Soldaten verkehrten, stand Dwalin mit verschränkten Armen und missmutigem Blick. Müde, aber mit gut gelauntem Grinsen, ging Thorin auf ihn zu. „Guten Morgen, mein Freund!", sagte er und klopfte Dwalin auf die Schulter. Noch immer sah dieser reichlich unerfreut zu seinem König. „Was hast du?", fragte Thorin ihn.
„Das weißt du ganz genau!", polterte sein bester Freund und Vertrauter, „Ganz Thal habe ich nach euch beiden abgesucht! Ich war schon kurz davor, den Rat zu unterrichten und einen Suchtrupp zu bilden, als ich mitten in der Nacht erfahre, dass ihr von einem kleinen Stelldichein am See zurück gekehrt seid!"
Thorin lächelte schuldbewusst. „Verzeih mir, Dwalin.", sagte er reumütig, aber mit einem fröhlichen Leuchten in den Augen. Die gestohlene Zeit allein mit Lyrann am Seeufer wärmte ihn wie ein inneres Feuer und gab ihm so viel Kraft. Dwalin schnaubte nur. Offenbar war ihm das glückliche Aussehen seines Königs, das dessen Reue Lügen strafte, nicht entgangen. „Dürfen wir dann bald den fünften Nachkommen der Familie begrüßen?", spöttelte er leise.
Doch Thorin antwortete nicht, da sich eben in diesem Moment die zwei Ratsmitglieder näherten, mit denen sie verabredet waren. Der kahlköpfige Mim, wie immer eine blasierte Miene zur Schau tragend und in reich verzierte Gewänder gekleidet, und der schwarzhaarige Krudd, die nackten Oberarme gestählt vom Schmieden und mit seiner Arbeitskleidung ein starkes Gegenbild zu Mim.
Tief verneigten sich beide vor Thorin und grüßten ihn. Dann traten die vier Zwerge durch das Portal und wandten sich von außen den Befestigungsmauern des Berges zu. Seufzend verbannte Thorin die Gedanken an Lyrann in einen hintersten Winkel seines Kopfes und widmete sich der Aufgabe dieses Morgens, der Inspektion der Mauern am Portal. Als Reaktion auf die Unruhen an der Rotwasser und die besorgniserregenden Beobachtungen in Wilderland, würde er nun Stück für Stück den Erebor auf mögliche Kriegszeiten vorbereiten.
Auf der großen Steinbrücke stehend, die sich über den Graben vor dem Hauptportal spannte, blickten sie zu der Mauer empor. Rechts und links des Portales bildeten trutzige Mauern und blanker Fels eine unüberwindbar scheinende Barriere. Über dem doppelflügeligen Tor trafen die Mauern sich zu einem Balkon mit Brustwehr und Schießscharten. Die Steinbrücke selbst war flankiert von den zwei großen Türmen, die Thorin vor einigen Jahren hatte errichten lassen. Sie wiesen hier unten keinerlei Öffnungen auf, besaßen lediglich hoch über der Erde eine Verbindung zur Brustwehr. Thorin trat vor und fuhr mit sachkundiger Hand über das Gemäuer. „Lasst die Steinmetze die Mauer überprüfen, sie sollen Schwachstellen ausbessern.", wies er seine Begleiter an. Dann ruckte er mit dem Kopf zu der Brustwehr hinauf. „Wir werden uns gleich auch noch von oben die Mauer anschauen. Ich will, dass große Geschütze dort oben stationiert werden und die Wachsoldaten sollen Übungen daran absolvieren.", fuhr er mit Blick auf Dwalin fort. Dann wies er zu den Türmen. „Außerdem sollen Schießscharten in das Gemäuer gebrochen werden. Angreifer sollen im Pfeilhagel zugrunde gehen, bevor sie unser Tor auch nur berühren können."
Sie waren noch nicht lange beschäftigt, als von der Brustwehr her ein Ruf erklang. „Herr!", sagte Krudd und wies mit ausgestreckter Hand auf die Straße nach Thal. Dort, noch teilweise im Schatten der Bäume, die die Ebenen um den Erebor bewaldeten, erschienen Gestalten. Ein ganzer Zug aus dutzenden Zwergen näherte sich dem Berg. Überrascht sahen Thorin und seine Begleiter ihnen entgegen. Es waren Männer und Frauen, einige Kinder waren auch dabei. Sie schienen bepackt mit ihren Habseligkeiten und seit Tagen unterwegs. Kinder klammerten sich erschöpft an ihre Mütter, die Männer hielten argwöhnisch und wachsam ihre Waffen in der Hand. Mit großen Augen blickten sie alle zum Tor und zu ihm, der davor stand. Die meisten von ihnen waren in einfache Kleidung gehüllt, Schmiede, Handwerker und Bergbauer scheinbar. Doch an manchem Zwerg war Schmuck und teure Kleidung zu erkennen. Vor der Steinbrücke blieben sie stehen.
„Thorin!" Eine Gestalt löste sich aus der Gruppe. Die Blicke der anderen Zwerge folgten ihr gebannt, offenbar waren sie ihrer Führung gefolgt. „Bin ich froh, dich zu sehen!" In einen dicken Kapuzenmantel aus dunklem Samt gekleidet, trat sie auf die Brücke, die Stimme unverkennbar weiblich. Mit energischer Bewegung schlug sie die Kapuze zurück. Darunter kam das rundliche, stolze Gesicht einer Zwergin zum Vorschein. Pechschwarzes Haar, von einigen wenigen Strähnen Grau durchzogen, legte sich als dicker geflochtener Zopf um ihre Schultern und zog sich als weicher Bart an den Wangen entlang. Festen Schrittes überwand sie die übrige Distanz zwischen ihnen, ihre stolze Körperhaltung verriet adelige Abstammung und die Gewohnheit, Befehle zu erteilen. Ein Paar dunkler Augen huschte rasch über Thorins Begleiter, bevor sie ihn wieder ansahen.
Voller Überraschung sah Thorin die Zwergin an, die er seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen hatte. „Zahina!", begrüßte er sie. Die Zwergin lächelte. „Wie lange ist es nun her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben?", fragte sie, „Du bist alt geworden." Thorin lachte leise, als er seine alte Jugendfreundin ansah. „Lange... Vor Smaugs Angriff habe ich dich zuletzt in den Eisenbergen besucht.", erwiderte er, an seine Jugend zurück denkend.
„Was machst du hier?", fragte er mit einem Blick auf die Ansammlung an Zwerge, die Zahina beobachteten. Sie seufzte. „Unsere Siedlung wurde angegriffen.", erklärte sie. „Daín?", fragte Thorin alarmiert und mit schockiertem Blick. Doch Zahina schüttelte den Kopf. „Mein Ehemann, den ich einige Jahre nach Smaugs Angriff heiratete, wollte fort von der großen Zwergenstadt und er zog mit mir nach Ursul'aban*." Sie lachte leise. „Der Narr, getötet wurde er, zusammen mit vielen anderen unserer Siedlung, als Ostlinge über die Rotwasser kamen und uns angriffen. Die Angreifer schnitten uns den Weg zu Daín ab, vielleicht haben sie ihn bereits erreicht. Daher führte ich die Überlebenden meiner Siedlung hierher."
Voll Grauen sah Thorin sie an. „Wie viele sind gestorben?", fragte er leise und voll Trauer. Seine Hand fasste sacht die ihre und drückte sie anteilnehmend. „Ich weiß es nicht genau.", flüsterte sie. „Aber ich bin so froh, dich gefunden zu haben, mein Freund."
Ein lautes Krächzen ließ sie beide herum fahren. Ein Rabe war über ihnen erschienen und kam nun auf Thorin zu geflattert. Er landete auf dessen ausgestreckter Hand und reckte sein Bein vor. Daran war eine Botschaft fest gebunden worden. Sofort erkannte Thorin die Handschrift seines Vetters und löste die Verschnürungen um das Bein des Vogels.
Thorin,
wir wurden angegriffen. Eine Horde Ostlinge ist scheinbar über die Rotwasser gekommen. Die dortige Siedlung Ursul'aban muss überrannt worden sein. Meine Soldaten haben keine Überlebenden gefunden. Den Angriff konnten wir abwehren. Aber es reicht! Zum letzten Mal haben Ostlinge die Rotwasser ungesühnt überquert und Leid verbreitet. Noch heute sende ich Soldaten aus, unsere Grenzen zu verteidigen. Schließe dich uns an, Vetter!
Daín
Mit bebendem Atem schloss Thorin die Augen. Es war also soweit. Daín rief zu den Waffen und er würde nicht tatenlos daneben stehen. Krieg war unausweichlich. Bisher hatte es nur wenige Scharmützel an den Grenzen gegeben. Soldaten des Erebor, der Eisenberge und aus Thal sowie die Ostlinge belauerten einander, warteten ab, beobachteten lediglich. Waren die Ostlinge über die Rotwasser gekommen, hatte man sie rasch wieder vertrieben, größeren Konfrontationen schienen sie seit ihrem ersten Angriff aus dem Weg gegangen zu sein. Bis jetzt.
„Mahal steh uns bei!", flüsterte Thorin leise in Gedanken an all die Opfer, die dieser Krieg fordern würde. Tiefe Trauer erfüllte ihn, dass er sein Volk vor diesem Leid nicht bewahren konnte. Aber als König unter dem Berge, Herr über den Arkenstein und Herrscher über die Zwergenvölker würde er jeden Angriff auf zwergisches Land voll Zorn vergelten.
Entschlossen hob er den Blick. „Wir werden die Besichtigung der Verteidigungsanlagen bei anderer Gelegenheit fortsetzen müssen.", verkündete er an seine Begleiter gewandt, „Setzt meine Anweisungen derweil in die Tat um. Dwalin, wir müssen Fili suchen. Daín wurde angegriffen. Die Heerschau soll beginnen, Fili soll noch heute mit einem ersten Trupp Soldaten zur Rotwasser aufbrechen." Sein Freund nickte ernst. Mit einem Blick auf die Flüchtlinge ergänzte Thorin: „Unterrichtet die Königin über die Ankunft der Flüchtlinge. Prinz Frerin soll sich um Unterkünfte für sie kümmern."
Mit bedauerndem Blick wandte Thorin sich Zahina zu. Das kurze Blitzen in ihren Augen bei der Erwähnung der Königin sah er nicht. „Es tut mir leid, meine Liebe, dass wir unser Gespräch nicht fortsetzen können. Mim,", er wies auf den Zwerg, „soll dich in eine vorübergehende Unterkunft bringen. Sobald mein Neffe aufgebrochen ist, werde ich nach dir schauen." Die Zwergin neigte zustimmend den Kopf, dann folgte sie Mim, der ihr galant den Arm reichte, in das Innere des Berges, gefolgt von mehreren Dutzend nun heimatlosen Flüchtlingen.
Mit raschen Schritten eilte Lyrann den Gang entlang. Die Nachricht von den eingetroffenen Flüchtlingen aus den Eisenbergen hatte sie in ihrem Gemach erreicht, wo sie gerade die diesjährige Bepflanzung der Äcker auf den Bergterrassen geplant hatte. Ursul'aban war angegriffen worden. Nach Lyranns Kenntnissen handelte es sich um ein unbedeutendes zwergisches Dorf bei der Rotwasser, bewohnt von Angehörigen aus Daíns Volk. Eisenerz wurde dort abgebaut, was in dieser Gegend nichts besonderes war. Sie wusste nur von dem Ort, weil dort auch Granatsteine abgebaut wurden, die schönsten im ganzen Norden Mittelerdes. Einige wenige Zwerge dort hatten es zu ansehnlichem Wohlstand mit dem Handel dieser Kostbarkeiten gebracht. Mehr wusste sie über den Ort nicht. Er war von keiner großen strategischen Bedeutung, wahrscheinlicher war es, dass er den Ostlingen auf ihrem Weg zu Daíns Zwergenstadt schlicht im Weg gewesen war.
Sie erreichte eine kleine Halle neben dem Hospital gelegen. Normalerweise fand hier ein regelmäßiger Markt statt, auf dem sich sowohl die Bewohner des Berges als auch die Heiler des Hospitals mit Kräutern und weiteren Heilmitteln eindecken konnten. Nun hatte Frerin befohlen, hier ein Übergangslager für die Flüchtlinge zu errichten.
Und tatsächlich hatten sich hier bereits die Neuankömmlinge versammelt. Auf einem Treppenabsatz stehend hatte Lyrann einen guten Überblick über die Zwerge. In kleinen Gruppen drängten die Flüchtenden sich aneinander, mit großen Augen sahen sie sich verunsichert in der riesigen Halle um. Sie schienen nur das Nötigste mitgenommen zu haben, was sie gerade am Leibe hatten oder vorm Angriff hatten retten können. Kinder weinten, ständiges Murmeln war zu hören. Voller Elend und Unsicherheit schienen die Vertriebenen.
Unter ihnen auf einem kleinen Podest stand Frerin und setzte eben zum Sprechen an. „Die Schwester des Königs wird bald mit Essen kommen, damit jeder sich stärken kann und Vorräte aufgestockt werden können. Direkt hinter dieser Tür,", er wies nach rechts, „befinden sich die Hospitalhallen, wo diejenigen, die verwundet oder krank sind, Hilfe erhalten können. Bis neue Quartiere für jede Familie gefunden werden ist es nötig, dass ihr hier bleibt. Es soll an nichts fehlen."
Stolz durchflutete Lyrann, als sie ihren Sohn beobachtete. Er hatte sich gut in die ihm aufgezwungene Rolle des Thronfolgers hinein gefunden. Sie stieg die Stufen hinab und ging auf ihn zu.
Murmelnd teilte sich die Menge. Einige knicksten verunsichert vor ihr und senkten den Blick, andere starrten die offensichtlich elbisch anmutende Königin unter dem Berge unverhohlen an. Mitleidig sah Lyrann sich unter ihnen um. Diese Zwerge hatten von einem Moment auf den anderen alles verloren bis auf das, was sie am Leibe trugen. Die Unsicherheit und Angst spiegelte sich in vielen Gesichtern wieder. Ein leises Weinen erweckte ihre Aufmerksamkeit. Ihr Blick fiel auf zwei Zwergenkinder, die sich an die Röcke ihrer Mutter klammerten. Die Mutter, selbst bleich und zittrig, fuhr ihnen berückend über die Lockenköpfe. Doch das konnte die beiden nicht beruhigen, die voller Angst zu Lyrann sahen.
Mit einem milden Lächeln ging Lyrann vor ihnen auf die Knie. „Alles ist gut, ihr Beiden.", sagte sie leise, „Ihr seid in Sicherheit, hier passiert euch nichts. Keiner greift diesen Berg an." Schniefend zog der Junge die Nase hoch und erwiderte ihren Blick, während seine Schwester ängstlich das Köpfchen in den geflickten Rock der Mutter drückte. Lyrann tauschte einen Blick mit der Zwergin. „Verzeiht Herrin.", flüsterte diese traurig, „Wir sind seit Tagen ohne Essen unterwegs. Mein Mann wurde bei dem Überfall getötet." Ihre Stimme brach vor Tränen. Lyrann erhob sich und besah sich die Frau genauer. Von den hellen Locken fast verdeckt fiel ihre eine üble Schramme an der Schläfe auf, vielleicht Spur eines Steins, der auf ihren Kopf gefallen war?
Sie blickte wieder zu dem Jungen und sagte, „Komm, wir bringen deine Mutter zu den Heilern, die können nach ihrer Verletzung gucken. Habt ihr Hunger? Mögen du und deine Schwester heiße Milch mit Honig?" Immer noch etwas schüchtern nickte der Kleine, aber er ergriff Lyranns ausgestreckte Hand.
Mit einem Blick zu Frerin führte Lyrann die kleine Familie in Richtung des Hospitals. Einige weitere folgten ihr.
Es verging einige Zeit, bis alle der Neuankömmlinge versorgt waren. Frerin hatte die Entzündung einiger weniger Feuer erlaubt, in deren Umkreis aus herbeigebrachten Stoffen und Stangen behelfsmäßige Zelte errichtet worden waren. Dís war recht bald erschienen, Bombur und einige Helfer aus der königlichen Küche im Schlepptau und während Lyrann gemeinsam mit ihrem Sohn Felle für Betten organisierte, waren die Flüchtlinge mit Eintopf, Brot, Wasser und Räucherfleisch versorgt worden.
Als alle gesättigt waren und eigene Vorräte hatten anlegen können, kehrte in dem Lager langsam Ruhe ein. Manche schliefen direkt auf ihren Notbetten ein, erschöpft und kraftlos, aber endlich in Sicherheit.
Mit sorgenvollem Blick ging Lyrann durch die Haupthalle des Hospitals. Von den Flüchtlingen mussten doch einige medizinisch versorgt werden. Von Knochenbrüchen, Prellungen oder Schürfwunden über Fieber und Husten oder auch nur einfache Erschöpfung aufgrund des langen Marsches gab es alles. Ein erfreutes Lächeln huschte über ihre Züge, als sie die junge Mutter, nun mit frischem Verband am Kopf und wieder etwas Farbe im Gesicht auf einem Bett liegen sah und ihre beiden Kinder neben ihr, beide einen Becher heißer Milch mit Honig umklammernd, den Lyrann ihnen persönlich gebracht hatte. Scheu hob das Mädchen eine Hand und winkte.
Dori fand sie am Lager einer alten Zwergin stehend, die scheinbar unter Atemproblemen litt, was bei der noch recht kühlen Luft nicht verwunderlich war. Über ihren Rücken gebeugt stand er da und hörte ihre Lunge ab. Auf einem Tisch standen bereits einige Kräuter bereit und Lyrann, die immer noch in regelmäßigen Abständen hier vorbei schaute, griff sich Mörser und Stößel und begann die erforderlichen Mengen an Süssholz, Thymian und Salbei zu zerstoßen. Mit großen Augen verfolgte die alte Frau Lyranns Handgriffe.
Als Dori mit seiner Untersuchung fertig war, reichte Lyrann der Patientin den schon fertig angesetzten Aufguss. „Hier Mütterchen.", sagte sie leise, „Trinkt davon." Vorsichtig half sie der Zwergin einige Schlucke des Aufgusses zu sich zu nehmen. Eine Heilerin kam herbei gewuselt, mit frischen Tüchern, um der Frau warme Umschläge um die Brust zu machen.
„Hast du alles, was du brauchst?", fragte Lyrann ihren Freund. Dori sah sich in seinem Reich um und nickte. „Wir sind gut ausgerüstet mit allem Notwendigen. Aber dennoch wäre es gut, wenn wir unsere Vorräte noch weiter aufstocken. Ich fürchte, es könnten in den nächsten Monaten noch mehr Flüchtlinge vor unseren Toren auftauchen.", erwiderte er. „Besorge dir, was immer du brauchst.", erwiderte Lyrann, „Ich werde an Thranduil schreiben, dass er eine zusätzliche Lieferung der elbischen Kräuter, die wir von ihm beziehen, uns zukommen lässt."
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass alle versorgt waren und keiner Hilfe mehr bedurften, machte sie sich schließlich auf den Weg zur Halle der Krieger, wo sie regelmäßig trainierte. Dort wartete Kili auf sie. Meistens trainierte sie mit Dwalin, doch dieser war nun anderweitig beschäftigt. Rasch hatte sie sich in einem kleinen Nebenraum umgezogen und trat nun mit Hose, Stiefeln und Hemd bekleidet auf Kili zu.
Einige Stunden waren vergangen, als Thorin an der Tür zu Zahinas Unterkunft klopfte. Zu seiner Überraschung war sie nicht in dem Bezirk untergebracht, in dem sowohl die Räumlichkeiten für Staatsgäste als auch Gastbetriebe für Reisende lagen, sondern in den Räumlichkeiten von Mims Familie.
Er hatte Fili Anweisungen gegeben, zur Rotwasser aufzubrechen, die vorbereiteten Soldaten inspiziert und sich überzeugt, dass es den Flüchtlingen gut ging. Nun würde Fili bestimmt bald aufbrechen. Für ihn gab es nichts mehr zu tun.
„Herein!", erklang Zahinas Stimme und er drückte die Türklinke herunter. Die Zwergin hatte sich mittlerweile umgezogen. Das von der Reise gezeichnete Kleid war gegen ein elegantes, hochgeschlossenes schwarzes Kleid mit weitem Rock getauscht worden, passend zu ihrem Witwenstand und der schwarzen Haarpracht. Einziger Schmuck waren mit Granat geschmückte Haarnadeln.
„Ich wollte mich noch einmal versichern, dass es dir an nichts fehlt.", begann Thorin, „Wie kommt es, dass du bei Mims Familie wohnst?" Zahina lachte. „Ach das... Nun, ich habe ihm lediglich erzählt, woher ich dich kenne und er war sofort so freundlich, mir hier eine Bleibe anzubieten. Die Gastbezirke sind immer so gedrängt voll mit allen möglichen Individuen!" Thorin lächelte schwach. „Ach ja...", erwiderte er, „Nun, ich dachte, ich führe dich ein wenig herum. Es ist lange her, dass du das letzte Mal hier warst." Höflich bot er ihr seinen Arm an.
Auf einem ausgedehnten Spaziergang führte Thorin sie von Halle zu Halle und erzählte ihr viel, von dem, was er in den letzten Jahrzehnten bewirkt hatte. Im Gegenzug berichtete Zahina ihm von ihrer Ehe. „Im Endeffekt gibt es nicht viel zu berichten. Mein Mann reiste nicht gern, er liebte sein Ursul'aban und den Granathandel.", schloss sie. „Warum bist du nie hierher gekommen?", erkundigte sich Thorin, „Du wusstest, dass ich hier König unter dem Berge war." Sie zuckte die Achseln und ein kühler Ausdruck legte sich auf ihre Züge. „Wie schon gesagt, mein Mann reiste nicht.", erwiderte sie knapp.
„Adad!", erklang da hinter ihnen eine aufgebrachte Stimme. Sie drehten sich um. Fenja, in voller Rüstung und bewaffnet, kam auf sie zu gerannt. „Vater!", rief sie noch einmal aus und kam atemlos vor ihnen zum Stehen. Ein kurzer, irritierter Blick huschte über Zahina, dann strich sie sich energisch einige Strähnen aus dem Gesicht und fixierte Thorin. „Ich war eben bei Fili. Er will mich nicht mitnehmen!", beschwerte sie sich zornig.
„Und das ist auch gut so.", erwiderte Thorin, „Du bist viel zu jung für den Krieg." Aufgebracht schnappte Fenja nach Luft. „Ich bin besser als viele deiner Soldaten! Ich will kämpfen! Bitte, Vater! Ich ertrage es nicht, hier eingesperrt zu sein, während andere für uns kämpfen!", klagte sie. Doch Thorin schüttelte den Kopf. Fenja war fast noch ein Kind, ein wildes Kind, voller Abenteuerlust und Feuer, aber eben ein Kind, das von Krieg und Leid nichts wusste. Und dem sollte so bleiben.
„Nein, Fenja.", sagte er leise, „Du bleibst hier." Zornfunken sprühten aus Fenjas dunklen Augen und mit einem wütenden Aufschrei wandte sie sich um und eilte davon. Thorin seufzte und presste die Lippen zusammen. „Eine Tochter zu erziehen gestaltet sich mitunter schwieriger, als einen Drachen zu töten.", murmelte er leise.
Sie folgten einer Treppe und traten schließlich durch das Tor zur Halle der Krieger, die bis auf zwei Kämpfer leer war. Mit einem Lächeln stieg Thorin zur Kampffläche hinab, Zahina neben sich führend.
„Mein Neffe Kili, der jüngere Sohn von Dís.", sagte er zu ihr, „Und Lyrann, meine Frau, Königin unter dem Berge."
Voller Stolz und Liebe glitt sein Blick zu Lyrann zurück, sodass er das Zucken in Zahinas Zügen nicht sah. Wie elegant und gekonnt seine Frau mittlerweile das Schwert führte! Dwalin war ihr wahrhaft ein guter Lehrer gewesen. Ihr Haar, zu einem langen Zopf gefasst, peitschte durch die Luft. Die Luft sirrte von den schnellen Bewegungen ihres Schwertes, gekonnt attackierte sie Kili und wich seinen Angriffen aus, schnell und wendig. Thorin schmunzelte. In Hose und Hemd war noch mehr von ihrer Schönheit zu erkennen, als in einem weit ausladenden Kleid.
Die Kämpfer hielten inne und wandten sich ihnen zu. Noch mit dem Übungsschwert, einer exakten hölzernen Nachbildung des Schwertes, das Thorin ihr einst schenkte, trat Lyrann auf sie zu. Vereinzelte Locken hingen ihr in das verschwitzte Gesicht. Die Augen sprühten Funken, die Wangen gerötet vom Kampf, blieb sie vor ihnen stehen und musterte Zahina mit höflicher Neugier.
„Mein König!", erklang es da soeben vom Eingang der Halle her.
„Verzeiht, ich bin gleich wieder da.", seufzte Thorin und eilte davon.
„Seid gegrüßt!", sagte Lyrann höflich zu der Frau vor ihr und neigte erhaben den Kopf, „Wer seid ihr?"
Die Zwergin ihr gegenüber richtete sich zu voller Größe auf. „Mein Name ist Zahina. Ich bin Thorins Verlobte."
*ursul'aban = flammender Stein
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