Familienleben
2959 D.Z.
Der kleine Zwergling saß vor sich hin murmelnd auf dem Teppich vor dem flackernden Kaminfeuer. Neben ihm hockte im Schneidersitz sein deutlich älterer, bereits erwachsener Vetter und betrachtete nachsichtig grinsend das Kind.
Der Kleine griff nach der hölzernen Figur eines Zwergenkriegers, den sein Vater ihm geschnitzt hatte. „Und da, da ist Thror... Der greift jetzt die bösen Orks an.", verkündete er mit kindlicher Begeisterung. Dann schob er den Holzzwerg auf eine Gruppe hölzerner Ungeheuer zu, die vor seinem Vetter standen.
Leises Gelächter von hinten lenkte diesen vom Spiel ab. Die zwei Frauen, die sich bis eben in leisem Sindarin unterhalten hatten, schmunzelten über die Unschuld mit der der kleine Prinz die grausame Schlacht von Azanulzibar nachspielte.
„Kili!", rief Thrain ungeduldig und rüttelte am Knie seines Vetters, „Du sollst doch mitspielen!" Kili grinste kurz in Richtung der beiden Frauen und beeilte sich, Thrains Aufforderung nachzukommen.
Lyrann lächelte versonnen und beobachtete ihren Sohn, der gerade eine Armee Holzzwerge gegen die Orks Kilis losschickte. Es schien ihr, als hätte sie ihn erst gestern geboren und doch war er jetzt bereits ein überaus neugieriges, unternehmenslustiges Zwergenkind. Mit einer Hand strich sie sanft über ihren Bauch, der sich mittlerweile ein zweites Mal wölbte.
Sie wandte sich wieder ihrem Gast zu. Tauriel saß ihr gegenüber und betrachtete liebevoll die beiden am Boden hockenden Zwerge. „Du hast eben von Dol Guldur erzählt, Tauriel?", bohrte sie interessiert nach. Die Elbin zuckte kurz zusammen, dann drehte sie sich wieder Lyrann zu.
„Nun...,", nahm sie den Gesprächsfaden wieder auf, „es ist alles still auf der alten Burg. Und das gefällt mir nicht." Sie nahm einen Schluck Wein aus ihrem Kelch und fuhr fort, „Es gibt keine Spinnen mehr im Wald und die Natur um die Burg herum scheint sich zu erholen. Auf unseren Patrouillen treffen wir immer seltener auf Feinde."
„Aber das ist doch etwas Gutes.", wandte Lyrann ein. Jedes Mal, wenn Tauriel im Erebor zu Besuch war, wurde sie von ihrer Freundin mit Fragen bedrängt. Als Königin und bald mehrfache Mutter war es Lyrann nicht möglich, Reisen über Thal und Esgaroth hinaus zu unternehmen. Und so war sie über jede Nachricht dankbar.
„Ich traue diesem Frieden nicht, Lyrann.", erwiderte Tauriel nachdenklich, „Sicher, die Spinnen sind weg, die Orks werden weniger. Aber es fühlt sich nicht nach Frieden an. Mehr wie... mehr wie ein Atem holen oder die Ruhe vor dem Sturm. Sicher, der Feind wurde aus Dol Guldur vertrieben... Aber er ist nicht vernichtet worden. Wo ist er?"
Lyrann seufzte. „Ich weiß es nicht, Tauriel.", sagte sie sorgenvoll.
„Letzte Woche habe ich eine Gruppe Orks verfolgt, sie zogen in Richtung Süden. Auch andere Spähtrupps berichten ähnliches. Kreaturen, Orks, Monster... sie ziehen nach Süden. Sammelt der Feind seine Armeen?", fuhr Tauriel fort.
Stille herrschte. Doch sie wurde plötzlich von Thrain unterbrochen, der juchzend auf seine Mutter zulief und dabei rief: „Ich habe die Schlacht gewonnen, Amad*!" Stolz reckte der Zwergling die Arme in die Luft. Lyrann lachte und sagte: „Das ist ja großartig, mein Schatz." Dann hob sie ihn hoch auf ihren Schoß. Der Junge drückte sich an sie und lächelte zufrieden. Kili kam grinsend herbei geschlendert, küsste Tauriel auf die Wange und setzte sich zu den Frauen dazu.
Schließlich richtete Tauriel sich auf und lächelte. „Lass uns von anderen Dingen sprechen.", sagte sie fröhlich. Grinsend wies sie auf Lyrann, „Bei dir ist es bald wieder soweit, oder?" Doch diese schüttelte den Kopf. „Das sieht nur so aus. Es wird bestimmt noch ein halbes Jahr dauern. Oin vermutet, dass ich diesmal Zwillinge trage.", erklärte Lyrann. Tauriel lachte erfreut auf. „Zwillinge?", fragte Kili gespielt schockiert. „Da werden wir aber nicht drauf aufpassen.", meinte er zu Tauriel.
Lyrann schmunzelte. Kili liebte seinen kleinen Vetter, der Thorin wie aus dem Gesicht geschnitten war. Überhaupt hatte Kili sich sehr verändert. Die letzten Jahre an Tauriels Seite hatten ihn reifer werden lassen. Zwar war er noch immer für Späße zu haben, aber er war ein umsichtiger Krieger geworden, der seine Aufgabe, den Kontakt zu Thranduil aufrecht zu erhalten, sehr ernst nahm. Und er kümmerte sich liebevoll um den kleinen Thrain.
Die Tür knarzte, Schritte waren zu hören. „Guten Abend!", rief Thorins Stimme durch die königlichen Zimmer. „Adad**!", rief Thrain selig und strampelte sich aus den Armen seiner Mutter frei. Dann rannte er seinem Vater entgegen. Lyrann sah glücklich zu, wie Thorin sich bückte und seinen Sohn auf die Arme hob. Als der König in den Raum kam, fiel ihr einmal mehr auf, wie ähnlich Thrain seinem Vater sah. Er hatte die gleichen eisblauen, scharf blickenden Augen und ebenfalls schwarzes Haar. Zudem besaß er eindeutig das gleiche stürmische Temperament wie sein Vater.
Nach einem sanften Kuss für seine Frau und einem freundlichen Lächeln für Kili und Tauriel, wandte sich Thorin seinem Sohn zu. „Sag mal Thrain, was hältst du davon, wenn du mich morgen zu den Schmieden begleitest?", fragte er. „Ja!", rief der Prinz sofort, „Nimmst du mich mit, Papa?" „Ist das nicht ein wenig früh?", schaltete sich Lyrann besorgt ein. Sie sah zu Thorin. Die Schmieden waren gefährlich und Thrain manchmal sehr ungestüm. Thorin lächelte beruhigend. „Es wird langsam Zeit für ihn, sein Volk kennen zu lernen.", sagte er, „Keine Angst, meine Liebste, ich werde gut auf ihn achten."
Mit zusammen gezogenen Augenbrauen beugte Lyrann sich über das Buch. Mit einer Hand glättete sie die ersten Seiten und wischte den Staub herunter. Mühsam versuchte sie den Titel zu lesen. „Meißel und Pickhacke – Ein Führer zu den wichtigsten Werkzeugen des Minenarbeiters.", las sie leise, „geschrieben von Dron, Sohn des Drun."
Sie tauchte ihre Schreibfeder in ein Tintenfässchen und machte eine Notiz auf der Liste neben ihr. Dann legte sie das Buch beiseite und griff nach dem nächsten. Ihr Blick schweifte durch den Raum. Um sie herum lagen stapelweise Bücher, Pergamentrollen und lose Blätter. Vor zwei Wochen hatte man einen vorher eingestürzten Stollen im Berg endlich freilegen können und war auf eine alte Bibliothek gestoßen. Nun hatte Ori alle Hände voll zu tun, diese für seine Bibliothek zu sichten, eventuell in Stand zu setzen und einzuordnen.
Lyrann hatte sich erboten, ihm zu helfen. Und so saß sie nun oft in einem der Zimmer von Oris Bibliothek und arbeitete sich durch die Bücher. Bis vor wenigen Monaten hatte sie Fili und Dori geholfen, die letzten der noch eingestürzten Wohnunterkünfte im Westen des Berges aufzuräumen und zu sichern. Doch seit sie schwanger war, hatte Thorin ihr schwere körperliche Arbeit verboten.
Stöhnend massierte sie ihren Rücken. Zwar hatte Ori den bequemsten Sessel der Bibliothek für sie stapelweise mit Kissen gepolstert, doch bereits jetzt schmerzte ihr Rücken von dem Gewicht der Zwillinge.
Ori kam auf sie zu. „Lyrann, es ist fast Abend. Ich denke, wir machen jetzt besser Feierabend.", sagte er höflich und blieb vor ihrem Tisch stehen. Erleichtert legte Lyrann die Feder beiseite und erhob sich. „Kommst du mit zum Essen?", fragte sie ihn. Ori nickte, „Ich werde aber noch etwas hier erledigen. Geh ruhig vor, ich komme nach", erwiderte er.
Und so ging Lyrann wenig später durch die Gänge des Berges in Richtung des Kaminzimmers, wo sich Thorin und ihre Freunde zum Essen trafen. Schmunzelnd dachte sie an Thrain. Hatte ihm der Ausflug mit seinem Vater zu den Schmieden gefallen?
Als sie sich dem Zimmer näherte, vernahm sie bereits Stimmen und Gelächter. Deutlich hörte sie das helle Lachen ihres Sohnes heraus. Neugierig öffnete sie die Tür. Die meisten der Zwerge waren bereits versammelt. Sie sah Thorin zusammen mit Dís und Fili am Kamin stehen. Einige der Zwerge saßen bereits am Tisch. Neben Gloin saß ein rothaariger, jugendlicher Zwerg, den sie rasch als seinen Sohn Gimli erkannte. Gloin brachte ihn hin und wieder zum Essen mit. Gimli beobachtete ein paar Zwerge, die am Tischende standen. Lyrann folgte seinem Blick und musste lachen. Bofur, Nori, Dori und Kili standen um Dwalin herum, der den jungen Prinzen immer und immer wieder in die Höhe warf. Thrain kreischte vor Lachen, während er durch die Luft gewirbelt wurde.
„Geliebte Frau...", erklang da eine tiefe Stimme neben ihr. Lyrann drehte sich um und sah direkt in das Gesicht ihres Mannes. Thorin grinste, legte die Arme um sie und küsste sie liebevoll. Entspannt schloss Lyrann die Augen und lehnte ihre Stirn gegen Thorins. „Wie geht es dir?", hörte sie ihn leise fragen, „Was machen unsere Kinder?" Lyrann lächelte, sie hob den Kopf und sah in die blauen Augen ihres Mannes. „Gut geht es mir,", erwiderte sie sanft, „und den Kleinen auch." Sie spürte, wie Thorins schwielige Hand kurz liebevoll über ihren Bauch fuhr. Der Zwerg schenkte seiner Frau ein verliebtes Lächeln, dann wandte er sich zu den anderen um.
„Lasst uns essen!", rief er. „Mama! Mama!", drang Thrains Stimme zu ihnen durch. Der kleine Zwergling schob sich zwischen den anderen Zwergen zu seinen Eltern. Lyrann ging auf die Knie und erwiderte die stürmische Umarmung ihres Sohnes. „Hallo, mein Schatz!", sagte sie und küsste das Kind vorsichtig auf den Haarschopf. Der Junge trat einen Schritt zurück und sah sie strahlend an. „Mama, ich habe die Schmieden gesehen!", rief er aus. Einen Moment stand er da, unsicher, was er zuerst erzählen sollte. „Da war Gold, das war flüssig und... und Edelsteine!", brach es aus ihm heraus, „Papa hat mir ihre Namen verraten! Rubin, Saphir, Smaragd und... und Amethyst!" Eifrig und mit leuchtenden Augen zählte er die Steine auf.
„Das klingt ja wunderbar, Thrain.", sagte Lyrann. Sie stand auf und nahm die Hand ihres Sohnes. Langsam ging sie mit ihm zum Tisch, wo das Essen bereits aufgetragen wurde. Hinter ihnen schob sich Ori noch schnell in den Raum. „Du musst mir alles erzählen.", bat sie den Jungen.
2963 D.Z.
Der Regen peitschte in schweren Vorhängen über das Land. In Thal und Esgaroth suchten die Menschen hektisch Schutz vor dem Herbststurm in ihren Häusern. Lose Blätter trieben vom Wind aufgewirbelt umher und wurden gegen die Flanken des hoch aufragenden einsamen Berges gedrückt.
Mit raschen Schritten kehrte der König unter dem Berge zu seinen Gemächern zurück. Es war ein langer Tag gewesen, angefangen mit einer zermürbenden Ratssitzung, einem Besuch in den frisch eröffneten Silberminen und einem Ritt nach Thal, um mit Bard zu reden. Doch er hatte sich heute nur schwer konzentrieren können. Sorge erfüllte den Zwergenkönig. Sein ältester Sohn Thrain lag nun schon seit mehreren Tagen krank im Bett. Bei einem Ausritt mit seinen Vettern Fili und Kili schien der Junge sich erkältet zu haben. Vor zwei Tagen war das Fieber stark angestiegen und Oin hatte schon überlegt, Thranduil eine Nachricht zu senden, um elbische Arznei zu erbitten. Lyrann verbrachte krank vor Sorge jeden Tag am Bett ihres Sohnes, während Minna sich um die beiden Zwillinge, die nun einige Jahre alt waren, kümmerte.
Endlich erreichte Thorin die Tür zu ihren gemeinsamen Gemächern und öffnete sie.
„Ich will aber nicht mehr...", hörte er als erstes Thrains Stimme und Erleichterung durchflutete ihn. Die letzten beiden Tage hatte der Junge komplett durchgeschlafen. Thorin ging den Gang entlang und betrat das Zimmer Thrains.
Sein Sohn saß gestützt von Kissen in seinem Bett. Er war sehr blass und wirkte verschwitzt. Das schwarze Haar stand verstrubbelt in alle Richtungen ab. An der Kante seines Bettes saß Lyrann, in den Händen eine Suppenschüssel und einen Löffel. „Du konntest die letzten Tage nichts essen, Thrain.", sagte sie gerade sanft, „Oin sagte es ist wichtig, dass du etwas zu dir nimmst, sobald du wach bist."
Sie tauchte den Löffel erneut in die Suppe, als Thrain seinen Vater erblickte. „Papa!", rief er freudig aus. Thorin lächelte. „Na, wie geht es meinem kleinen Krieger?", fragte er und kam weiter in den Raum hinein. Sanft küsste er seine Frau auf den Kopf, dann beugte er sich zu Thrain hinunter. „Mama will, dass ich Suppe esse!", beschwerte sich Thrain leise.
Thorin blickte kurz zu Lyrann. Seine Frau war bleich und tiefe Ringe lagen unter ihren Augen, die vom Schlafmangel der letzten Tage zeugten. Ihre Lippen waren fest aufeinander gepresst. Thorin wusste, wie sehr sie um ihren Sohn Angst hatte. Ihre Augen trafen auf seine, sie sah so müde aus. „Wo ist Minna?", fragte er. „Ich habe sie Heim geschickt, um sich auszuruhen.", erwiderte Lyrann, „Sie war ja auch die ganzen letzten Tage hier und auf den Beinen."
Thorin nickte und wandte sich wieder Thrain zu. „Deine Mutter hat Recht.", sagte er leise, „Iss noch ein paar Löffel, dann schläfst du etwas. Wenn du wieder wach bist, bekommst du den Rest der Suppe."
Leises Weinen erklang. „Mama!", hörten sie einen der beiden Zwillinge schwach rufen. „Geh nur.", sagte Thorin sanft und nahm Lyrann die Schüssel aus der Hand, „Ich kümmere mich um Thrain." „Aber willst du dich nicht erst umziehen und frisch machen?", fragte diese. Doch Thorin schüttelte den Kopf, „Das ist jetzt nicht so wichtig."
Seine Frau erhob sich, küsste ihn kurz und ging aus dem Zimmer. Thorin konnte hören, wie sie leise mit den Zwillingen sprach. Er setzte sich schwerfällig auf das Bett und blickte in die Schüssel in seiner Hand. Es war eine einfache Suppe mit Hühnerfleisch, Gemüse und Sahne.
„Erzählst du mir eine Geschichte?", bat Thrain leise. „Wenn du dabei isst...", erwiderte Thorin lächelnd, er tauchte den Löffel ein und gab seinem Sohn die erste Portion, „Was willst du den hören?" „Erzähl mir, wie Mahal die Zwerge schuf!", forderte sein Sohn.
Thorin nickte, gab Thrain noch einen Löffel Suppe und begann zu erzählen: „Vor vielen, vielen tausend Jahren, als es noch keine Elben und Menschen auf Ea gab, wünschte Mahal sich Schüler, die er unterrichten und sie seine Kunstfertigkeit und sein Handwerk lehren könnte. Doch er wollte seinen Wunsch geheim halten und zog alleine in die Berge..." Thorin sprach mit leiser Stimme und während er erzählte, leerte sich die Suppenschüssel.
Als Thrain fertig war, sank der Junge erschöpft zurück in die Kissen. Thorin hielt in seiner Geschichte inne und schüttelte die Decken seines Sohnes auf. Gerade als er weiter erzählen wollte, erklang Lyranns Stimme aus dem Schlafzimmer, die den Zwillingen leise vorsang:
A Elbereth Gilthoniel
silivren penna míriel
o menel aglar elenath!
Na-chaered palan-díriel
o galadhremmin ennorath,
Fanuilos, le linnathon
nef aear, sí nef aearon! (Tolkien)
Oh Elbereth Sternenentfacherin,
weiß-funkelnd wie Juwelen senkt sich
der Glanz der Sterne vom Himmel!
In weite Ferne habe ich geschaut
von den baumbestandenen Landen Mittelerdes,
zu Euch, Fanuilos, will ich singen
diesseits der See, hier diesseits des Meeres!
Mit einem Lächeln legte Thorin den Kopf schief und lauschte. Thrain neben ihm kuschelte sich in seine Kissen. Schließlich verklang das Lied und der König blickte auf seinen Sohn hinab. Er war eingeschlafen.
https://youtu.be/irRxzfsfWNU
2979 D.Z.
Lachend rannten die Zwergenkinder über die Wiese. „Ihr entkommt mir nicht!", rief Thrain und stürmte seinen beiden jüngeren Geschwistern hinterher. Die Zwillinge Fenja und Frerin kreischten und versuchten, ihrem jugendlichen Bruder davon zu laufen. Fenja raffte ihre Röcke und rannte so schnell sie konnte. Sie spurtete durch den Bach, der sich durch die Senke von Thal schlängelte, und spritzte Wasser auf. Ihr Zwillingsbruder Frerin war nicht ganz so schnell und so wurde er rasch von Thrain eingeholt, der ihn zu fassen bekam. „Du bist!", rief Thrain laut und wandte sich schon zur Flucht.
Lyrann lachte leise vor sich hin, während sie ihre Kinder beobachtete. Vor allem Fenja vergötterte ihren halbstarken, großen Bruder. Zwar blieb Streit zwischen den Kindern des Königspaares nicht aus, aber meist gingen die Geschwister zusammen durch dick und dünn.
„Ich habe gehört, Thorin hat nun auch die letzte der Minen in Betrieb nehmen lassen?" Eine Stimme holte Lyrann aus ihren Gedanken. Sie drehte den Kopf zu ihrer Gefährtin hin. Neben ihr saß Tilda, Bards jüngste Tochter. Doch war sie schon lange nicht mehr das kleine Mädchen, dem Lyrann in Esgaroth begegnet war. Tilda war eine schöne, erwachsene Frau geworden. Mittlerweile war sie verheiratet und hatte selbst zwei Kinder. Zusammen mit ihrer Familie lebte sie in Thal, wo ihr Bruder Bain nun nach seinem verstorbenen Vater König war.
„Das stimmt...", erklang neben Lyrann nun eine Kinderstimme, „Adad hat gesagt, alle Minen arbeiten nun." Tilda und Lyrann drehten sich zu dem Sprecher um. Rhon, der jüngste Sohn von Thorin und Lyrann saß da. Er beteiligte sich nicht am Spiel der anderen, sondern saß bei den Frauen auf der Decke und las in einem Buch.
Lyrann fuhr ihrem Sohn über das glatte, schwarze Haar. Balin hatte erst vor kurzem angefangen, nun auch Rhon zu unterrichten. Der Junge erwies sich als sehr gelehrig und neugierig. Kaum hatte er lesen gelernt, bekam man ihn nicht mehr von den Büchern fern. Er hörte wissbegierig zu, wenn sein Vater erzählte und schnappte jedes noch so kleine Detail auf. Auch jetzt wandten sich Rhons braune Augen nicht von den Seiten des Buches ab, in dem er las.
Tilda lachte. „Nun, dann sind die Aufbauarbeiten endlich abgeschlossen.", sagte sie. Lyrann nickte. „Ja, es hat lange Zeit gedauert, doch endlich ist der Erebor das, was er einmal war." Ihr Blick schweifte hinüber zum einsamen Berg. Etwas mehr als vier Jahrzehnte waren vergangen, seit der Schlacht der fünf Heere. Viel hatte sich in dieser Zeit verändert. Hunderte Zwergenfamilien belebten nun den Erebor wieder. Die Schmieden arbeiteten Tag und Nacht. In den Minen summte das Klopfen und Schlagen von Hammer und Meißel. Waffen, Rüstungen und Kunsthandwerk der Zwerge vom Erebor wurde über Thal und Esgaroth nach ganz Mittelerde transportiert. Endlich war das Zwergenreich des einsamen Berges wieder zu altem Glanz gekommen.
„Wie geht es deinem Bruder?", fragte Lyrann Tilda. Die Frau lächelte. „Ihm geht es gut. Er hat viel zu tun. Heute eröffnet er die neue Spielzeugmanufaktur in Thal.", erwiderte sie. Wissend nickte Lyrann. Bain hatte vor einigen Jahren das Amt des Königs von Thal übernommen, nachdem sein Vater Bard gestorben war. Anfangs hatte er viel Rat bei Thorin gesucht. Nun versuchte er als selbstbewusster Herrscher, Thal etwas unabhängiger vom Erebor zu machen. Die neu eröffnete Manufaktur, in der allerdings auch einige Zwerge arbeiteten, sollte Handelsware liefern, die nach ganz Mittelerde verschickt werden sollten.
„Stimmt,", sagte Lyrann, „Bifur war in den letzten Wochen fast nur noch in Thal, um bei den Arbeiten zu helfen."
„Mutter!", unterbrach Thrain das Gespräch der beiden Frauen, „Schau, sie kommen zurück!" Lyrann hob den Blick. Eine Gruppe berittener Zwerge näherte sich ihnen. An der Spitze ritt Thorin, in ein erhitztes Gespräch mit seinem alten Mentor Balin vertieft. Ihnen folgte ein Trupp bewaffneter Krieger von Dwalins Königsgarde.
„Papa!", rief Fenja voller Glück und rannte los, um ihren Vater zu begrüßen. Ihr folgte Frerin. Thorin hörte seine Kinder und stieg vom Pony. Wenig später warfen sich ihm erst Fenja, dann Frerin an den Hals. Tilda kicherte leise, als sie beobachteten, wie Thorin von der Wucht der Zwillinge umgeworfen wurde. Der Zwergenkönig erhob sich, nahm jedes der beiden Kinder an die Hand und ging, wie immer mit dem rechten Bein leicht hinkend, langsam zum Rest seiner Familie. Thrain kam ihm entgegen und Thorin zog den Jugendlichen kurz an sich. Balin begleitete ihn. Als sie sich den Frauen und Rhon näherte, wandte Thorin sich an seinen Freund und sagte barsch: „Ich will davon nichts mehr hören, Balin. Diese Idee ist Wahnsinn. Und das ist mein letztes Wort."
Er beugte sich zu Lyrann hinab und küsste sie sanft. „Hallo, geliebte Frau.", murmelte er leise. Freundlich nickte er Tilda zu, drückte Rhon an sich, dann schickte er die Soldaten fort: „Reitet schonmal vor, ich bleibe bei meiner Familie." Er setzte sich auf die Decke und hob sich Fenja auf den Schoß. „Wie war es in den Eisenbergen? Wie geht es Daín?", erkundigte sich Lyrann.
„Gut,", erwiderte Thorin, „in den Eisenbergen geht alles seinen geregelten Gang. Wenn man von einer Gruppe Trolle absieht, die einen Trupp Zwerge überrascht hatten, während wir dort waren. Aber es kam wohl niemand zu Schaden. Und ich glaube, Daín war fast froh um die Abwechslung."
Er zog seinen Reisebeutel zu sich heran. „Ich habe euch allen etwas mitgebracht.", sagte er, „He, Rhon, nimm die Nase aus dem Buch, wenn ich die Geschenke verteile!" Er griff in den Beutel und begann: „Als erstes, eine wunderschöne Brosche für meine Königin, besetzt mit Granaten und Opalen aus den Minen der Eisenberge." Lächelnd überreichte er Lyrann die Brosche, die sie erfreut entgegen nahm. Dann begann er, den Kindern seine Mitbringsel zu geben, ein kleiner Wurfdolch für Thrain, ein geschnitztes Holzpferd für Fenja, ein Kreisel für Frerin und ein kleines Kartenspiel für Rhon.
Glücklich beobachtete Lyrann ihre Familie, als eine Bewegung aus dem Hintergrund ihre Aufmerksamkeit weckte. Ein Zwerg auf einem Pony kam vom Berg her zu ihnen galoppiert. „Thorin...", sagte Lyrann leise und berührte ihren Mann an der Schulter.
„Ein Brief für die Königin!", rief der Zwerg, als er sich ihnen näherte. Lyrann erhob sich und kam ihm entgegen. Der Bote bremste und überreichte ihr den Umschlag. Interessiert blickte Lyrann auf den Absender. Der Brief war von Fila, ihrer Tante und Ziehmutter aus Imladris. Sie hatten sich seit Lyranns Hochzeit mit Thorin nicht mehr gesehen, standen jedoch in regen Briefkontakt. Ein gewisser Tropfen Wehmut lag immer in dieser Korrespondenz, denn Lyrann wusste nicht, wann Fila wie so viele andere Elben nach Valinor aufbrechen würde.
Mit gerunzelter Stirn überflog sie den Brief während sie zurück zu ihrer Familie ging. Langsam setzte sie sich. „Von wem ist er?", fragte Thorin. „Fila...", murmelte Lyrann leise, dann senkte sie den Brief. „Sie lädt uns nach Imladris ein.", sagte sie schließlich geradeheraus.
„Ah", machte Thorin nur. Nachdenklich beobachtete er die Kinder. Sogar Rhon hatte das Buch beiseite gelegt und beschäftigte sich mit dem Spiel. Lyrann wartete kurz ab. Sie wusste, dass es ihrem Mann widerstrebte, den Berg für mehrere Monate allein zu lassen.
„Die großen Schiffe in den grauen Anfurten werden bald fertig sein.", fuhr Lyrann fort, „Dann wird Fila nach Westen segeln." Ein Kloß bildete sich in ihrem Hals und sie blinzelte heftig. Diese Entscheidung hatte sie schon vor Jahrzehnten getroffen. Ihr Platz war hier. Sie würde Fila nicht begleiten.
Thorin blickte hoch zum einsamen Berg. „Fili und Balin werden der Aufgabe gewachsen sein.", sagte er plötzlich, „Wir sollten bald aufbrechen."
*Mutter
**Vater
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