Entführt
Erwachseneninhalt - Triggerwarnung (Nichts für schwache Nerven)
Voller Panik hetzte Ira weiter und weiter. Rufe, entsetzliche Schreie und Weinen erfüllten die Luft. Tränen strömten unaufhaltsam über ihre Wangen und nahmen ihr die Sicht. Halb blind stolperte sie weiter, Äste und Zweige schlugen ihr ins Gesicht und zogen blutige Striemen.
„Lauft! Lauft weiter, ihr Pack!"
Gräßlich grellte das Brüllen ihrer Peiniger in den Ohren der Zwergin.
Sie konnte noch gar nicht fassen, was vor wenigen Stunden erst passiert war. Einzig Gloidas festem Griff um ihren Arm war es zu verdanken, dass Ira nicht zu Boden stürzte. Wie von Sinnen lief sie weiter, rempelte gegen andere Bewohner ihres Dorfes, das nun in Schutt und Asche lag.
Die Orks, größer und schrecklicher als alle, die Ira je zu Gesicht bekommen hatte, hatten in den frühen Mittagsstunden Nebelgrund angegriffen. Zwar hatten sich die Bewohner verbissen verteidigt, doch sie waren hilflos unterlegen gewesen. Den schwer gepanzerten Angreifern hatten sie nichts entgegen zu setzen gehabt und so wurde jeder, der versucht hatte, zu kämpfen, grausam nieder geschlachtet. Übelkeit stieg in Ira auf, als sie an den Anblick der Ermordeten dachte, die in ihrem Blut nun auf der Straße lagen.
Die anderen hatte man wie Vieh zusammen getrieben. Und nun rannten sie durch den Wald. Peitschenhiebe knallten über ihre Köpfe und hielten die Dorfbewohner auf Trab. Wimmernd drückte Ira sich an Gloida. Noch immer hoffte sie, dass all dies nur ein schrecklicher Traum war.
Mhilram tot... Tapfer hatte die Zwergin versucht, ihre Mädchen zu verteidigen. Doch keine Gnade hatten die Angreifer gezeigt.
Das Dorf in Flammen...
Schreie... Das gequälte Weinen der Sterbenden...
Blut... Schreie...
Irgendwo vor ihr konnte Ira Nubes blonden Haarschopf erkennen. Die hoch gewachsenen Zwergin hielt die beiden Zwillinge Dwaika und Dwaike an den Händen und zerrte sie unerbittlich weiter.
Bloß nicht stehen bleiben, bloß keine Schwäche zeigen...
Und dort waren Fredi, der seine Mutter Frida beinahe tragen musste. Frida schrie voller Schmerz, dabei war sie nicht verwundet. Ira hatte nicht gesehen, was vorgefallen war, doch nirgendwo waren Frede oder die zwei kleinen Söhne der Zwergin zu sehen. Sie vermutete das Schlimmste.
Der Wirt Skolvith lief schwer keuchend neben seiner Tochter Solda. Beide hielten sich aneinander fest, versuchten sich vor den Peitschenhieben weg zu ducken.
Wohin brachte man sie? Würden die Orks sie ebenfalls töten, nur an einem anderen Ort? Warum hatte man sie gefangen genommen? Würden die Orks sie fressen?
Ira bebte vor Angst, die Beine wollten ihr nachgeben und sie wankte.
„Nein!", rief Gloida neben ihr scharf, „Komm, weiter!"
Ira blinzelte, nickte verworren und lief weiter.
Sie ließen den Wald hinter sich und die Zwergin bemerkte kaum, wie sich der Trupp nach Süden wandte. Wohin brachte man sie?
Weiter und weiter liefen sie. Ihre Entführer machten keine Pause und gestatteten keine Rast. Iras Beine schmerzten, ihr ganzer Körper schrie nach einem Moment des Ruhens. Doch sie ignorierte es. Mit brennenden Gliedern lief sie weiter und weiter. Bald war ihr Körper stumpf und taub. Hand in Hand stolperten sie und Gloida weiter, direkt hinter Nube und den Zwillingen. Das Weinen der Dorfbewohner war fast vollständig verstummt, während die Sonne über ihnen unbarmherzig gen Weste zog.
Die nächsten Stunden zogen wie ein Alptraum an Ira vorbei. An Gloida geklammert lief sie immer weiter, Schmerzen und Erschöpfung ignorierend. Sie rempelte gegen andere Dorfbewohner, die ebenfalls einfach vorwärts taumelten.
Es wurde dunkel und Nacht brach herein. Doch eine Rast erlaubte man ihnen nicht. Mit scharfem Schnalzen knallten die Peitschen über ihren Köpfen. Sich duckend liefen sie weiter durch die Nacht, bis die Sonne schließlich wieder aufging.
Ira hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren. Taub setzte sie einen Fuß vor den anderen, rang nach Atem, während ihr ganzer Körper brannte. Doch sie spürte nun einen eisernen Willen. Sie würde überleben. Sie würde nicht aufgeben.
Gloida neben ihr jedoch schien vollkommen am Ende ihrer Kräfte angekommen zu sein.
„Ira...", keuchte sie, „Ich kann nicht mehr..."
Die Zwergin wollte in die Knie gehen. Doch diesmal war es Ira, die die Freundin packte und wieder in die Höhe zerrte.
Ein Sirren erklang und im nächsten Moment knallte eine Peitsche scharf auf die Rücken der beiden Frauen. Gequält schrieen sie auf. „Steh auf, dreckiges Zwergenweib!", kreischte einer der riesenhaften Orks.
„Gloida, komm!", bat Ira und zog erneut an der jungen Frau. Dann legte sie kurzerhand einen Arm um Gloidas Hüfte und stemmte sie empor. „Ich lass dich nicht zurück!", sagte sie und lief weiter, die Freundin stützend, die mühsam versuchte, Schritt zu halten.
Wie lange liefen sie schon? Stunden, Tage? Wie oft war die Sonne bereits untergegangen? Ira vermochte es nicht zu sagen.
Gloida stützend kämpfte sie um jeden Schritt, neben ihnen liefen Nube und die Zwillinge, die sich ebenfalls gegenseitig immer weiter zogen.
Abendliche Dunkelheit senkte sich erneut über das Land, als ihre Entführer endlich stehen blieben. Auch sie rangen nach Atem.
„Wir machen eine Pause!", rief einer von ihnen, „Wenn auch nur einer von euch versucht, zu entkommen, stirbt er sofort!"
Ohne ein weiteres Wort abzuwarten, brach Ira auf dem Boden zusammen. Keuchend und am ganzen Leib zitternd lag sie da. Kaum nahm sie wahr, wie ihre Freundinnen neben ihr lagen. Ihr war kalt, sie war so unglaublich erschöpft, alles tat ihr weh.
„Wasser...", flüsterte Dwaika da ganz in der Nähe.
Langsam hob Ira den Kopf, ihre Sicht war ganz verschwommen. Doch sie konnte die junge Zwergin erkennen, die über einer Pfütze Wasser kauerte und daraus trank.
Wie durstig sie doch war! Hastig krabbelte Ira zu ihr hinüber und schöpfte ebenfalls mit der Hand Wasser. Es schmeckte brackig.
„Trink nicht zu viel...", flüsterte sie Dwaika zu. „Sonst wirst du noch krank."
„Wir sind doch sowieso schon so gut wie tot.", kam es von einem der anderen Gefangenen, der spöttisch zu den Zwerginnen sah.
Ira wollte schon zu einer heftigen Erwiderung ansetzen, als ein lautes „Ruhe!" über sie hinweg fegte.
Nur wenig später lag Ira zusammen mit Nube, Gloida, Dwaika und Dwaike dicht aneinander geschmiegt am Boden. Die anderen schliefen, sie selbst brachte kein Auge zu.
Zwar war sie todmüde, doch immer wenn sie die Augen schloss, erblickte sie das brennende Nebelgrund, sah sie, wie ihre Freunde und Nachbarn abgeschlachtet wurden. Zitternd lag sie da und sah zum Nachthimmel empor, während ihre Erinnerungen an das Grauen, das sie erlebt hatte, sie quälten.
Da schob sich plötzlich Tarls Gesicht zwischen all die Bilder und Iras Herz zog sich vor Trauer zusammen. Zu sehen, wie Tarl Arnfast beinahe ermordet hatte, hatte sie zutiefst verstört. Sie hatte nicht mit ihm reden wollen, hatte sich nicht getraut. Auch als er verbannt worden war, hatte sie sich nicht überwinden können, zu verwirrt war sie gewesen. Doch keine zwei Tage war Tarl fort gewesen, da hatte sie sich schon vor Kummer und Sehnsucht nach ihm verzehrt.
Wie sinnlos und albern ihr nun diese Streitigkeiten vorkamen. Nie hätte sie den Streit mit ihm so eskalieren lassen sollen! Doch war dies nun alles hinfällig. Sie würde ihn nie wieder sehen. Ihr Herz fühlte sich an, als müsse es jeden Moment zerspringen. Sie liebte ihn.
Doch, wenn er nicht verbannt worden wäre, wäre er nun entweder unter den Gefallenen oder ebenfalls gefangen. Und so hatte Ira die Hoffnung, dass, wenn sie auch in Gefangenschaft war, ihr Geliebter immerhin noch in Freiheit lebte.
Ein leises Knacken erweckte Iras Aufmerksamkeit. Aus ihren Gedanken gerissen hob sie den Kopf und drehte sich in Richtung des Geräusches. Beinahe hätte sie vor Überraschung aufgeschrien.
Musmasum!
Die junge Katze schob sich ganz vorsichtig schleichend an sie heran. Tief an den Boden gedrückt war sie, aufmerksam die Ohren aufgestellt. Doch niemand der Wachen bemerkte sie. Ira jedoch erkannte das Tier, das sie und Tarl im Sommer gemeinsam aufgezogen hatten, sofort. Unverwechselbar war das dreifarbige, wild gesprenkelte Fell.
Sie streckte eine Hand aus und vorsichtig stieß das Kätzchen mit dem Kopf dagegen. Tränen der Erleichterung flossen über Iras Gesicht.
Als die Angreifer auf das Dorf zugerannt waren, war Musmasum gerade irgendwo am Fluss gewesen. Ira hatte nach ihr gerufen, aber in dem Chaos, das ausgebrochen war, das Kätzchen nicht gefunden.
Nie hatte sie gedacht, dass Musmasum ihr folgen würde und sich hier, trotz der offensichtlichen Gefahr, ihr nähern würde.
Bewegung entstand um sie her, als Nube wach wurde und sich mit offenem Mund der kleinen Katze zudrehte.
Musmasum dagegen stapfte an Ira heran, rollte sich direkt an ihrem Bauch ein und schloss die Augen. Vollkommen erstaunt sahen Ira und Nube einander an. Schließlich streckte Nube eine Hand aus und tätschelte sacht das Fell der Katze.
Mit Musmasum an ihrer Seite gelang es Ira endlich, einzuschlafen. Mit lautem Gebrüll weckten ihre Entführer sie am nächsten Morgen. Die Katze an Iras Bauch sprang auf die Pfoten und rannte geduckt davon, kaum, dass Ira die Augen geöffnet hatte.
Mühsam kämpfte sich Ira auf die Beine, Mut aus dem Wissen schöpfend, dass Musmasum in der Nähe war und ihnen folgte.
Erneut verschwammen die Stunden in einem Strudel aus Farben, Schmerz, Erschöpfung und Schreien. Ohne Wasser und ohne Nahrung war die wenige Erholung, die die Nacht geboten hatte, bald wieder aufgebraucht. Vollkommen am Ende ihrer Kräfte waren sie. Dennoch schleiften sie sich immer weiter.
Ira lief zwischen Dwaika und Dwaike, kämpfte darum, auf den Beinen zu bleiben. Vor ihr lief Skolvith, am ganzen Leib bebend vor Erschöpfung. Jalrek, der Bäcker des Dorfes, stützte ihn so gut er konnte. Der Wirt war leichenblass und wurde immer langsamer. Solda, seine Tochter war an seiner anderen Seite und sah immer wieder voller Sorge zu ihrem Vater.
Plötzlich sackte Skolvith in sich zusammen und ging in die Knie. Sofort zerrte Jalrek an ihm, versuchte ihn wieder auf die Beine zu bringen. „Vater!", rief Solda und ging vor ihm auf die Knie. „Du musst weiter laufen, bitte!", flehte sie mit brechender Stimme.
Doch Skolvith schüttelte den Kopf. Er streifte Jalreks Hand ab.
„Weiter laufen!", schrie einer der Orks und bahnte sich einen Weg zu ihnen, „Willst du nicht mehr?"
Solda brach in Panik aus, als sich der Entführer ihnen näherte und seine Waffe hob. „Vater!", schrie sie unter Tränen.
Ira blickte zu Skolvith und ihr war klar, dass der Mann nicht mehr aufstehen würde.
„Wenn ihr nicht weiterlauft, schlachte ich euch alle ab!", brüllte der Ork nun und baute sich bedrohlich hinter dem Wirt auf. Von irgendwoher traf ein Schlagstock Ira an der Seite und sie brüllte vor Schmerz auf.
Da tauchte plötzlich Frida von der Seite her auf, sie packte Solda am Arm. „Komm mit!", rief die Zwergin energisch.
„Vater, nein!", kreischte Solda und bäumte sich auf. Nun sprangen auch Ira und Nube an Fridas Seite, genauso wie Jalrek. Sie alle griffen nach dem Mädchen, das sich mit aller Kraft wehrte. Ein Gerangel entstand, während die weinende Solda sich an ihrem Vater festkrallte und die anderen versuchten, das Mädchen zu retten.
„Komm mit uns, Kind!", sagte Frida mit unglaublicher Wärme in der Stimme. Tränen glitzerten in ihren Augen.
Skolvith streckte sacht eine Hand nach Solda aus und fuhr ihr liebevoll über die Wange. „Geh, Tochter!", flüsterte er.
„Weiter jetzt!" Peitschen knallten über ihren Köpfen. Ira schaffte es kaum die Tränen nieder zu kämpfen. Grauen erfüllte sie, als sie sah, wie der eine Ork hinter Skolvith seine Waffe hob. Sie schlang einen Arm um Solda und drehte die junge Menschenfrau, die haltlos schluchzte, von ihrem Vater weg.
Blind vor Tränen verfielen sie wieder in Laufschritt. Solda war kaum in der Lage zu laufen, doch Frida und Ira nahmen sie in ihre Mitte und zogen sie weiter.
Ira wandte sich noch einmal kurz nach hinten um, wo sie Skolviths leblosen Körper am Boden erblickte.
Ihr Herz krampfte sich voller Schmerz und Trauer zusammen. Solch willkürliche Grausamkeit... Es entzog sich vollkommen ihrem Verstand, wie so etwas passieren konnte. Das Entsetzen über Skolviths kaltblütige Ermordung hielt sie den ganzen Tag gefangen, während sie abwechselnd mit den anderen Solda stützte und das Mädchen versuchte zu trösten.
Sie merkte gar nicht, wie das Lederband, an dem sie noch immer Tarls Anhänger bei sich trug, sich immer mehr löste und schließlich zu Boden fiel, wo der Anhänger von dutzenden Stiefeln in den Matsch getreten wurde.
In dieser Nacht schneite es.
Erneut gönnte man ihnen keine Pause. Immer weiter trieben die Entführer sie durch die nächtliche Dunkelheit. Über ihnen schien ein kalter Mond gleichgültig zwischen dichten Wolken auf sie hinab. Eiskalter Wind fegte über die Ebene und Matschwasser durchweichte ihre Schuhe. Kein Laut war zu hören, außer dem Geräusch dutzender Füße und dem gequälten Atem der Gefangenen.
Und da fielen plötzlich die ersten Flocken. Erstaunt hob Ira den Kopf zu den Wolken, die sich vor den Mond geschoben hatten. Leicht und sacht trudelte der Schnee zu ihnen herab, ein Anblick von unglaublicher Schönheit. Wie kleine tanzende Sterne hoben sich die Flocken gegen den dunklen Himmel ab. Ungeachtet der Tragödie die sich unter ihnen abspielte, luden die Wolken ihre weiße Fracht ab.
Mehr und mehr Flocken wurden es, bis sie durch einen Wirbel an Schnee liefen.
Wie eine weiße Decke legte er sich über die Lande, knirschte unter ihren Füßen. Höher und höher wuchs der Schnee während sie weiterliefen.
Nun wurde das Laufen noch mühseliger, denn sie mussten durch den Schnee stapfen, der gerade den Zwergen sehr bald fast bis an die Hüfte reichte. Und es war kalt. Bibbernd drängten sie sich aneinander beim Laufen, versuchten dicht hintereinander zu gehen, um die Schneise derjenigen zu nutzen, die vor ihnen liefen.
Schwankend taumelte Ira weiter. Sie lief Hand in Hand mit... Frida? Nube? Oder Gloida? Sie wusste es gar nicht. Trübe hatte sie den Blick auf den Rücken vor ihr gerichtet. Die Schönheit des Schnees beachtete sie gar nicht mehr. Ihr Atem bildete Wölkchen vor ihrem Mund und sie packte sich so gut es ging in ihre Kleidung, während sie weiter durch die Nacht stolperte.
Die Sonne erhob sich schließlich über einer vollständig in Schnee gehüllten Landschaft. Fahl und schwach war ihr Licht bereits, als wäre die Wintersonnenwende bereits heran gekommen.
Wie von Sinnen vor Hunger, Durst und Erschöfpung taumelten die Bewohner Nebelgrunds weiter, konnten sich kaum noch auf den Beinen halten. In dieser Nacht waren einen Menschenfrau und ein Zwerg vor Müdigkeit zusammengebrochen. Ihre Entführer hatten genau wie bei Skolvith keine Gande gezeigt. Iras Augen brannten vor ungeweinten Tränen, während sie weiter und weiter lief. In der Nacht hatte sie irgendwo zwischen den Schatten den hoch gereckten Schwanz einer Katze ausmachen können. Musmasum folgte ihr noch immer.
Da stoppten die Orks plötzlich und die Gruppe kam zum Halt. „Eine Pause!", rief der Ork, den Ira als den Anführer vermutete.
Stöhnend sackte sie auf die Knie. Ihre Kleidung hatte sich voll mit Schnee gesogen und lag nun klamm an ihr. Es war nur eine Frage der Zeit, bis sie krank wurde oder ebenfalls einfach zu Boden ging.
„Wir sind nach Osten abgebogen.", hörte sie Fredes geflüsterte Stimme nah bei ihr. Sie drehte den Kopf. Der junge Mann kauerte zusammen mit seiner Mutter nahe bei Ira und den anderen Mädchen Mhilrams. Solda hockte neben Frida, die sachte dem Mädchen immer wieder über das blonde Haar strich. Das Gesicht der jungen Menschenfrau war kalkweiß wie der Schnee.
Hinter Frede bemerkte Ira drei Orks, die tuschelnd die Köpfe zusammensteckten und gierige Blicke auf die Gruppe warfen. Unwohlsein stieg in ihr auf und unwillkürlich tastete sie nach Dwaikas Hand neben ihr.
„Was ist?", fragte Dwaika leise und hob ebenfalls den Blick.
Da kamen die Orks auch schon auf sie zu.
„Du da!", grunzte einer von ihnen und griff sich Dwaikes Zopf, „Mitkommen! Wir wollen etwas Unterhaltung!"
Brutal riss er an den Haaren. Mit einem schmerzhaften Kreischen fiel die Zwergin nach hinten auf den Rücken. Lautes Gelächter erklang.
„Lass sie in Ruhe!", rief Frede und war mit einem Mal auf den Füßen. Doch er wankte verdächtig, so entkräftet war er. Sofort waren mehrere Klingen auf ihn gerichtet. „Wenn auch nur einer von euch aufmuckt, sterbt ihr!", knurrte ein Ork. Ein widerliches Grinsen huschte über sein Gesicht. „Es ist kalt, wir wollen uns etwas aufwärmen."
Dwaike wehrte sich nach Kräften, doch entkam sie dem Griff ihres Peinigers nicht, der sie mit sich zerrte. „Dwaike!" Ihre Schwester stürzte sich nach vorne, um ihr zu helfen. Doch da griff schon der nächste auch nach ihr. Seine Finger schlossen sich zielsicher um die Kehle des Mädchens.
„Was ist hier los?" Der Anführer der Orks kam nun auf sie zu.
Ira hob bebend den Blick zu ihm. Sie glaubte kaum, dass er Gnade walten lassen möge. Sie umklammerte Gloidas Hände, während Frida einen schützenden Arm um Solda schlang und nach ihrem Sohn griff, auf den noch immer mehrere Klingen gerichtet waren.
„Wir wollen nur etwas Spaß haben!", rief einer der Orks aufgebracht, „Sie werden doch sowieso in den Minen zugrunde gehen. Warum vorher nicht noch die Beute genießen?"
Abschätzig glitt der Blick des Anführers über die beiden Zwillinge, die sich nun zitternd aneinander drückten.
„Ihr seid Huren in eurem Dorf gewesen...", stellte er fest beim Anblick der grellen Bänder in den Haaren der Mädchen, „Also erfüllt eure Arbeit."
Dwaika schrie voller Angst auf. Sofort wurden sie und ihre Schwester von den gröhlenden Orks von der Gruppe weg gezogen.
„Nein!", schrie Frede wutentbrannt. Er machte einen Schritt nach vorne, als er ein harter Kinnhaken des Anführers ihn bewusstlos zu Boden schickte. Sofort warf sich Frida schützend über ihren letzten Sohn, Solda ebenfalls an sich geklammert.
„Dwaika! Dwaike!", rief Ira, doch vor Angst gelähmt konnte sie nur zusehen, wie die beiden Mädchen fort gezogen wurden. Schreiend versuchten die beiden sich zur Wehr zu setzen, doch sie waren zu schwach.
„Wartet!"
Nubes helle Stimme trug kraftvoll über das Geschehen hinweg. Die hoch gewachsene Zwergin erhob sich. Eisige Verachtung lag in ihrem Blick, das blonde Haar wehte im Weind um sie her.
„Lasst die Mädchen gehen!", sagte sie, kein Zittern lag in ihrer Stimme, „Nehmt mich."
Taxierend glitten die Blicke der Entführer über die Zwergin. Widerliche Gier und Verlangen lagen in den Blicken, sodass Ira ganz übel wurde.
„Nube, nein!", zischte Gloida und versuchte nach der Freundin zu greifen. Doch die ging ohne einen letzten Blick auf die Orks zu. Diese packten die beiden Mädchen und schleiften sie zurück zu der Gruppe. „Dwaika, Dwaike!", rief Ira und zog die beiden panisch schluchzenden Zwerginnen an sich.
Nube streifte ihren Mantel ab und warf ihn ihren Freundinnen zu, dann trat sie auf die Orks zu.
Ira bebte am ganzen Körper. Tränen strömten ihr übers Gesicht und sie betete zu Mahal, wie sie noch nie gebetet hatte, dass ein Wunder geschehen möge und er sie aus der Hand ihrer Entführer befreien möge, bevor Nube durch ihr grausames Opfer sterben würde.
Einer der Orks packte Nube und riss sie zu Boden. Kein Laut kam über die Lippen der Zwergin, als die Vergewaltiger den Ring um sie schlossen.
Ira, Gloida und die beiden Zwillinge klammerten sich haltsuchend aneinander, unfähig den Blick von der Gruppe Orks abzuwenden, hinter denen ihre Freundin verschwunden war.
Nubes geschändeter Leichnam wurde einfach zurück gelassen. Nur wenige Stunden waren seit Beginn ihrer unheilvollen Rast verstrichen, als die Gefangenen erneut zusammen gescheucht und weiter gen Osten getrieben wurden.
Wortlos und von Schluchzen geschüttelt drängten die vier verbliebenen Mädchen sich aneinander. Keine von ihnen konnte begreifen, was da eben passiert war. Dwaike und Dwaika kuschelten sich unter Nubes Mantel, während sie Hand in Hand weiterliefen.
„Dort im Norden!", rief plötzlich einer der Orks und deutete zur Seite.
Angestrengt blickte Ira in die gewiesene Richtung und sah tatsächlich eine Bewegung. Da kam etwas auf sie zu. Vielleicht eine Gruppe Krieger? Jemand, der sie befreien konnte?
Gequält dachte sie an die tapfere Nube. War sie nur wenige Stunden vor ihrer Befreiung gestorben?
Doch sogleich schwand ihre Hoffnung wieder, denn ihre Entführer trieben sie nun auf das zu, was sich ihnen da näherte. Sie stolperten weiter. Immer wieder hob Ira den Blick und versuchte, zu erkennen, wer oder was da auf sie zukam.
Und endlich sah sie es. Es war ebenfalls eine Gruppe Orks, doch sie waren kleiner als ihre Entführer. Und auch sie trieben eine Gruppe Gefangener mit sich. Mit einem kurzen Blick erfasste Ira sieben Menschen, von denen eines ein kleines blondes Mädchen war, um dessen Schultern ein heranwachsender junger Mann einen schützenden Arm gelegt hatte.
Schließlich standen die beiden Gruppen voreinander. Die Gefangenen der zweiten Orkgruppe wurden unter Schlägen und Hieben zu den Bewohnern Nebelgrunds getrieben. Ira betrachtete die Gesichter der Neuankömmlinge. In ihren Augen war genau der gleiche Horror und die selbe Angst zu sehen, die auch sie verspürte. Nicht weit von ihr drängte sich das blonde Mädchen an den Jungen, der vermutlich ihr Bruder war. Um den Hals der Blonden lag ein eigentünliches Lederband, an dem rostige Eisennägel befestigt waren. Die Haut des Kindes um dieses Band herum war voller Wunden und Blut. Mit leerem Blick starrte sie vor sich hin. Die Hände des Bruders klammerten sich um ihre Schultern. Wut und Verzweiflung zeichnete sich auf seinen Zügen ab.
„Bauern der Beorninger.", erklang da die knarzige Stimme eines der neuen Orks, der zu dem Anführer ihrer Gruppe sprach. Nun, da die beiden einander gegenüber standen, waren die Unterschiede unschwer zu sehen. Der Anführer der Orks, die Nebelgrund überfallen hatte, war deutlich größer, weniger verkrümmt und muskulöser. Er wirkte auf eine gruselige Art beinahe menschlich. Der andere war kleiner, die Augen ähnelten Schlitzen und Arme und Beine waren krumm gewachsen.
„Habt ihr nur so wenige erbeuten können für die Minen? Was anderes sollten wir von Nebelgebirgsratten wohl kaum erwarten.", dröhnte der Anführer.
Der andere fletschte die Zähne. „Die Beorninger sind große Krieger und sicher gefährlicher als ein Dorf fetter Menschen und Zwerge zu überfallen, wie es die ach so großen Uruk-hai aus Isengart tun."
Uruk-hai... Nannten sich so ihre Entführer? Waren sie keine einfachen Orks?
Der kleine Ork sprach weiter. „Wir müssen auf das Mädchen da achten." Mit einer Klaue wies er auf die Kleine, ganz nahe bei Ira. „Sie ist eine von den Gestaltwandlern. Doch ihre Eltern sterben zu sehen, hat wohl ihren Willen fürs Erste gebrochen."
Schockiert blickte Ira auf die zwei Geschwister. Nun verstand sie auch das Halsband. Würde das Mädchen sich verwandeln, würde sie sich selbst verletzen. Mitleidig ließ sie den Blick über die beiden schweifen. Sie hatten beide Eltern in dem Überfall verloren. Und wie alt war das Mädchen? Sie musste erst ein dutzend Winter zählen, wenn überhaupt. Das Schätzen vom Alter bei Menschen fiel Ira noch immer schwer.
„Keine Sorge.", grunzte der Uruk-hai Anführer, „Wir werden keine Probleme haben, sie zu kontrollieren. Ihr könnt wieder neue Gefangene suchen."
Sein Gegenüber hielt verwirrt inne. „Was soll das heißen?", fragte er, „Wir kommen mit in die Minen! Wir werden unsere Belohnung selbst abholen. So ein Gestaltwandler bringt viel ein! Ich glaube nicht, dass du uns unseren Lohn gibst, wenn wir uns wieder sehen."
„Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe?", fauchte der andere, „Wir übernehmen die Gefangenen ab hier!"
Wütendes Geschrei brach unter den kleineren Orks los.
„Wir trauen euch Uruk-hai sicher nicht unsere wertvolle Beute an!", kreischte deren Anführer.
„Und wir werden sicher nicht euch kleinen Ratten bei uns dulden!", fuhr der Uruk-hai seinen Gegenüber an.
Die gereizte Stimmung zwischen den beiden kochte nun vollends über und griff auf ihre jeweiligen Gruppen über. Laut schrieen die Orks und Uruk-hai sich an. Ein Gerangel entstand, es wurde geschoben und geschubst und Worte in der Orksprache gebrüllt.
Hastig zog Ira Gloida ein wenig von den streitenden Orks weg, die derweil nach den beiden Zwillingen griff. Blicke flogen zwischen den Gefangenen hin und her. War dies ihre Chance?
Da wurde mit einem Mal eine Waffe gezogen. Ein Aufblitzen und einer der Uruk-hai sank tödlich getroffen zu Boden.
„Aufhören!", brüllte der Anführer der Uruk-hai, doch es war zu spät.
Mit wütendem Geschrei warfen die beiden Orkgruppen sich aufeinander. Waffen klirrten aufeinander und innerhalb kürzester Zeit war ein wildes Handgemenge entstanden. Blut spritzte auf und die ersten Orks stürzten bereits getötet zu Boden.
Es herrschte pures Chaos. Mit lautem Rufen versuchte der Uruk-hai Anführer die beiden Gruppen zu trennen.
Gebannt starrte Ira auf den Kampf vor ihr. Da packte eine Hand sie am Kragen und zog sie nach hinten. Diesmal waren es die Zwillinge, die die Gelegenheit erkannt hatten und ihre Freundinnen fort führten. Und sie waren nicht die einzigen. Ganz langsam, um ja nicht die Aufmerksamkeit der kämpfenden Orks auf sich zu lenken, zogen sich die Gefangenen Stück für Stück zurück.
Plötzlich stieß Frida einen leisen Schrei aus. „Frede!"
Iras Blick schoss suchend umher. Da erblickte sie den jungen Lehrling Tarls. Er hatte sich von den anderen abgesondert und nahm einem gefallenen Ork die Waffe aus der Hand. Mit vorsichtigen Schritten näherte er sich dem Kampf, hob seine Klinge und bohrte sie von hinten in den Nacken eines der kleinen Orks.
Schreiend ging dieser zu Boden. Da sprang Jalrek nach vorne, auch er hob eine Waffe vom Boden auf und eilte an Fredes Seite. Der junge Beorninger und andere aus dem Dorf Nebelgrunds warfen sich auf einmal voller Zorn auf ihre Entführer. Ira eilte mit ihren Freundinnen, dem kleinen Mädchen, Frida und anderen Frauen weg von dem Kampf. Da erblickte sie plötzlich Solda, die mit einem hasserfüllten Schrei den Mörder ihres Vaters angriff.
Der Kampf war heftig aber kurz.
Stille lag plötzlich über der verschneiten Flussebene. Nach Atem ringend standen die Gefangenen da und sahen sich ungläubig um. Die Orks waren erschlagen. Erst hatten sie sich selbst angegriffen, dann hatten ihre Gefangenen die Gelegenheit ergriffen.
Nun standen sie da, sahen sich um, versuchten zu begreifen, dass sie nun frei waren.
Neben Ira eilte der junge Beorninger auf seine Schwester zu und zog sie in die Arme. „Es ist alles gut, Jolinda.", sagte er sanft, „Es ist vorbei."
Frida lief auf ihren Sohn zu. „Mach nie wieder so etwas dummes!", rief sie lachend unter Tränen.
Nachdenklich sahen sie sich um.
„Wohin nun?", fragte Jalrek und ließ den Blick über die versammelten Bewohner Nebelgrunds und die Beorninger schweifen, „Wir haben keine Vorräte, unsere Heimat ist zerstört."
Stille folgte. Ein vager Gedanke nahm da in Iras Kopf Gestalt an. „Wir müssen unsere Verwundeten pflegen.", sagte Frida als erstes, „Und dann eine Zuflucht vor dem Krieg suchen."
„Aber wo?", fragte Gloida.
„Der Erebor.", kam es vollkommen unüberlegt aus Iras Mund. Alle drehten sich zu ihr. Sie wusste nicht, warum der einsame Berg das erste und einzige war, woran sie denken konnte. Vielleicht weil sie dort als kleines Kind gelebt hatte, vielleicht weil sie eine Zwergin war oder auch, weil sie mit diesem Ort Tarl verband. Doch dies war eine sichere Zuflucht dessen war sie sicher.
„Der Erebor ist weit weg.", warf Jalrek ein.
„Nicht so weit...", erwiderte Frede nun, „Wir können am Anduin fischen und Vorräte anlegen."
„Und der Fluss ist nicht weit entfernt relativ flach und gut zu überqueren.", warf nun der Bruder der kleinen Jolinda ein.
„Wir können es schaffen!", bekräftigte Ira, „Wir können zum Erebor ziehen und dem Krieg so entkommen."
Ein letzter Blick in die Runde. Alle nickten, manche zögerlich, andere entschlossen. Dann wandten sie sich Richtung Osten, bereit, ihren Weg zum einsamen Berg anzutreten.
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