Ein Zwerg unter Elben
Die Sonne war schon lange untergegangen, als Thrain sich der Stadt der Elben näherte. Haldir, Orophin und Rumil führten ihn, nun nicht mehr mit verbundenen Augen, durch den nächtlichen Wald. Die Herrin Galadriel hatte sich von Thrain verabschiedet und ihn wieder in der Obhut der drei Brüder gelassen.
Sie folgten einem schmalen Pfad, zwischen immer höher wachsenden Bäumen, deren Blätter über ihnen leise wisperten. Wie das leise Murmeln undeutlicher Stimmen klang es.
Schließlich wichen die Bäume beiseite und hier traf der Pfad auf eine gepflasterte Straße. Diese lief entlang einer hohen grünen Mauer, die einen Hügel umschloss. War es denn eine Mauer voll kunstfertiger Verzierung oder viel eher eine dichte Hecke in der helle Blüten wuchsen? Thrain vermochte es nicht zu sagen.
Er legte den Kopf in den Nacken und konnte riesenhafte Bäume sehen, die, machtvollen Säulen gleich, hinter der Hecke empor wuchsen. Und dahinter funkelte ein Sternenmeer am dunklen Nachthimmel.
Das Licht der Sterne spiegelte sich in dem glatten, hellen Stein der Straße wieder, auf der Thrain stand, sodass es schien, als würde sie schwach leuchten.
Haldir wandte sich nach links und die anderen beiden mitsamt Thrain folgten ihm.
Voller Staunen konnte Thrain den Blick nicht von der Stadt zu seiner Rechten abwenden. Hin und wieder spürte er die Hand Orophins an seiner Schulter, der ihn, mit erheitertem Schmunzeln, davon abhielt, von der Straße abzukommen.
Nicht nur die Straße schien zu leuchten, sondern die ganze Stadt schimmerte schwach im nächtlichen Dunkel. Doch war es bei der Straße eindeutig ein Widerschein der Sterne, Caras Galadhon jedoch leuchtete aus sich selbst.
Gigantisch und ehrfurchtsgebietend wie Berge ragten die Bäume der Stadt in die Höhe, reckten ihre mächtigen Äste in den Himmel und das Rauschen ihrer Blätter erfüllte mit ewigem Klang die Nachtluft.
Die Straße machte eine Biegung nach Rechts, überspannte einen Graben und lief plötzlich auf ein hohes, doppelflügeliges Tor aus reinem Silber zu. Thrain hatte nur Augen für die filigranen Verzierungen des Tores, für die unglaublich fein gearbeitete Handwerkskunst, die ihn tatsächlich an so manch eine zwergische Arbeit erinnerte. War dies ein Geschenk der Zwerge an Elben gewesen? Vor langer Zeit noch überreicht, als der Kontakt zwischen den Völkern regelmäßiger und freundlicher gewesen war?
Den kurzen Wortwechsel Haldirs mit den Wachen beachtete er kaum. Da wurden sie auch schon durch gewinkt und Thrain betrat die Stadt Caras Galadhon.
Die hell gepflasterte Straße, der sie zum Tor gefolgt waren, wand sich hier in leichten Kurven zwischen den Bäumen empor und langsam folgte Thrain den drei Elben in die Stadt hinein.
Fasziniert wandte er den Kopf nach rechts und links, er fühlte sich, wie in einem Traum.
Um ihn herum wuchsen die Mallorn-Bäume von Caras Galadhon, so riesig, wie er noch nie Bäume gesehen hatte. Ihre Stämme waren von silbergrauer Farbe und teilweise so breit, dass zwei Dutzend Zwerge sie nicht mit den Armen umfassen konnten. Ihre Blätter waren von äußerst sonderbarer Farbe, ihre Unterseiten schimmerten mattgolden, oben waren sie grün, wie normale Blätter. Das Licht der Sterne schien sich auf ihnen zu spiegeln. Die gewaltigen Wurzeln dieser Baumriesen wanden sich über den Waldboden.
Hoch oben in den Baumwipfeln hatten die Galadrim ihre Häuser errichtet, gebaut aus dem gleichen silbrig weißen Holz wie ihre Bäume. Sie schienen gleichsam zwischen den Ästen zu schweben, prachtvolle Häuser mit Spitzdächern und Bogengängen. Brücken, Plattformen und Gänge verbanden die Bäume miteinander in einem weitläufigen Netz aus Straßen hoch in der Luft. Staunend mit in den Nacken gelegten Kopf sah Thrain zu dem Wunder hoch über ihm auf.
Überall um ihn her war Licht. Tausende Lampen, filigran aus Holz und Kristall gearbeitet, erleuchteten den Weg, dem sie folgten. Auf hohen Stäben standen sie am Straßenrand oder hingen an langen Ketten von den unteren Ästen der Bäume. In den Baumkronen leuchteten und schimmerten die Elbenlichter, fast von den Sternen am Himmel nicht zu unterscheiden.
Wasser plätscherte leise an ihm vorbei, floss in Bächen und Brunnen durch die Stadt, um sich an manchen Stellen zu kleinen Teichen zu vereinen.
Und Musik lag in der Luft. Der Gesang heller Elbenstimmen, vermischt mit dem Klang von Harfen und Flöten, wehte von den Bäumen zu ihm her. Es schien ihm nicht von dieser Welt. So sehr er auch suchte, er konnte die Sänger nicht entdecken, deren Lieder sich mit dem Plätschern des Wassers und dem leisen Raunen des nächtlichen Windes vermischte.
Wie er so den Blick über die filigranen und doch ewigen Bauten der Stadt gleiten ließ, schien es ihm, dass hier die Musik der Elben selbst Gestalt angenommen hatte.
Die Straße, der sie folgten, umrundete manche der Bäume, dann führte sie als Steintreppe, verziert mit wunderschönen Mosaiken, über einige riesige Wurzeln. Sie gingen auf einen Baum zu, der sich wie ein Tunnel vor ihnen öffnete. Brücken spannten sich über die kleinen Wasserläufe und dann betraten sie eine hölzerne Treppe am Fuß eines Mallornbaumes.
Ein Stück in die Höhe führte die Treppe sie, dann folgten sie einem Bogengang, der sich zwischen den Bäumen entlang spannte. Andere Elben kamen ihnen hier entgegen, sahen tuschelnd und voll Neugier auf den fremden Zwerg in ihrer Stadt hinab. Thrain jedoch beachtete ihn nicht, sein Blick war dem Waldboden unter ihm zugewandt. Bewundernd blickte er auf das Netz an Wegen und Straßen, das sich zwischen den Bäumen entlang wand, die kleinen Plätze und Pavillons an den Seen und die Brunnen.
Schließlich führte die Brücke, der sie folgten, wieder zurück zur Straße. Haldir wandte sich einem Mallornbaum zu seiner Linken zu und sagte zu Thrain: „Dort oben ist ein Haus, das für Gäste genutzt werden kann." Er wies auffordernd zur Treppe. Thrain sah nach oben und spürte, wie ihm mulmig wurde. In fast schon schwindelerregender Höhe sah er ein kleines Elbenhaus auf einem einzelnen breiten Ast des Baumes gebaut, bestimmt wunderschön, doch war er nicht dazu gemacht, hoch oben im Baum zu leben.
„Gibt es vielleicht etwas, das näher am Boden ist?", fragte er leise.
Orophin hinter ihm kicherte leise und er sah aus den Augenwinkeln, wie Rumil die Augen verdrehte.
„Verdammter Höhlengräber...", zischte Rumil auf Sindarin und Thrain wollte schon zu einer kalten Erwiderung ansetzen, als er sich darauf besann, dass er doch seine Sindarin Kentnisse geheim halten wollte, fürs Erste.
Haldir seufzte und schien kurz nachzudenken. Dann nickte er und winkte Thrain. „Folge mir."
Die drei Elben führten ihn ein Stück weiter zwischen den Bäumen entlang, bis die Straße schließlich in eine Senke zwischen hinabführte. Hier hatte einer der Mallorns seine Wurzeln in mehreren Bögen über einen Teil der Senke gespannt und bildeten so das Dach eines kleinen Hauses, das die Elben mit viel Kunstfertigkeit hier gebaut hatten.
Thrain wurde sofort leichter ums Herz. Dies war wie für ihn gemacht. „Hier könnt ihr wohnen.", sagte Haldir und deutete zu dem Haus.
„Habt Dank.", verabschiedete sich Thrain von den Elben und neigte den Kopf vor ihnen. Sie erwiderten den Gruß, wandten sich ab und verschwanden lautlos.
Thrain, obwohl unglaublich müde und erschöpft von den Ereignissen der letzten Tage, ging nicht hinein. Mit dem Rücken an die hölzerne Hauswand gelehnt, setzte er sich auf das Gras und sah zum funkelnden Sternenhimmel empor. Welch rätselhaften Weg sein Schicksal ihn wieder einmal geführt hatte, dachte er, während er andächtig dem Gesang der Elben lauschte.
Golden fielen die ersten Strahlen der Sonne durch das Blätterdach des goldenen Waldes. Im Osten brach ein neuer Herbsttag an, nur hier im Reich Lothlorien spürte man kein Zeichen der kalten Jahreszeit. Lediglich der Nebel, der vom Waldboden aufstieg und wie ein dünner Schleier zwischen den Bäumen hing, schimmernd im Licht des Morgens, kündete vom Wandel der Jahreszeit außerhalb der Grenzen dieses friedvollen Reiches. Lange Lichtstrahlen fielen in den Wald, der langsam aus seinem nächtlichen Schlaf erwachte.
Thrain hatte die ganze Nacht auf der kleinen Lichtung gesessen, wo ihn Haldir und die anderen am Vorabend allein gelassen hatten. Schon lange waren die Gesänge der Elben verstummt und Stille war eingekehrt, nur hin und wieder unterbrochen von den Geräuschen des Waldes bei Nacht.
Ganz in Gedanken versunken hatte er ausgeharrt, der Stille gelauscht und die Sterne beobachtet, die über ihm am Himmel ihre Kreise gezogen hatten.
Nun brach der neue Tag an und der Zwerg erhob sich. Zum ersten Mal seit Wochen und schon fast Monaten erfüllte ihn Ruhe. Die ganze Nacht schweigend da zu sitzen und seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, war wohltuend gewesen.
Nun wandte er sich dem kleinen Haus zu, das, ganz untypisch für die Behausungen dieses Reiches, auf dem Waldboden errichtet war.
Leise schwang die Tür aus weißem Holz auf und er betrat einen nach beiden Seiten lang gestreckten Raum. Über ihm bildeten die Wurzeln eines riesenhaften Mallornbaumes das Dach des Hauses. Moos bedeckte diese an einigen Stellen und erweckte so den Eindruck eines grünsilbernen Teppiches, der sich über den Raum spannte. Einige Lampen aus Kristall und Silber hingen von den Wurzeln hinab. Der steinerne ebenfalls mit Moosen und Farnen bewachsene steile Hang der Senke, in die dieses Haus gebaut war, bildete die ihm gegenüberliegende Wand. Zu seiner Linken sprudelte eine Quelle aus der Wand in ein kunstvoll verziertes Steinbecken. Das Wasser folgte einem kleinen Kanal am Boden und verschwand dann unter der Erde.
Eine Kommode und ein Regal aus schlichtem Holz standen neben der Tür. Ebenso waren ein Tisch und ein schlichter Stuhl, sowie Sitzkissen am Boden, vorhanden.
Rechts wurde ein Teil des Raumes von Vorhängen abgetrennt. Vorsichtig schlug Thrain die silbernen, weißen und purpurfarbenen Stoffe beiseite und erblickte dahinter ein in das Holz des Baumes hineingebautes Bett. Einladend war es mit einem weichen Daunenkissen und mehreren dicken Decken ausgestattet. Langsam trat er heran und strich mit der Hand über das herrlich weiche Bettzeug, in Gedanken bei all den Schlaflagern, die er in den letzten Monaten gehabt hatte.
Plötzlich von tiefer Müdigkeit erfüllt, die seine Glieder angenehm schwer machte, zog er seine Stiefel aus und sank erschöpft in die Kissen. So lange hatte er nicht mehr ineinem so weichen Daunenbett gelegen. Kaum hatte er sich zugedeckt, sank er schon in tiefen Schlaf und träumte vom Erebor.
Fast den ganzen Tag verschlief Thrain. Erschöpft von den Erlebnissen der letzten Wochen begannen Körper und Geist endlich zur Ruhe zu kommen. Es war Abend, als er wieder erwachte und erstaunt feststellte, dass Elben hier gewesen waren, denn auf dem Tisch in der Mitte des Raumes hatte man mehrere Laibe Brot, Käse, Schinken, Pasteten, Obst und frisches Gemüse abgelegt, scheinbar still und leise, um ihn nicht zu wecken. Mit einem kleinen Imbiss stillte er seinen Hunger und wusch sich den Schmutz der Reise ab, bevor er sich direkt wieder ins Bett legte. Es schien ihm, als könnte er tagelang nur durchschlafen, so erschöpft war er und so erholsam erschien ihm der Schlaf hier.
Als die ersten Sonnenstrahlen des nächsten Tages in den Wald fielen, erwachte Thrain wieder, sich angenehm wach und erfrischt fühlend. Diesmal fand er neben den Vorräten frische Kleider, tatsächlich in einer passenden Größe. Eine schlichte dunkle Hose und eine elbische Tunika aus silbrigem Stoff, verziert mit blauen Stickereien.
Erfrischt und nach einem kleinen Frühstück trat er aus dem Haus in das helle Morgenlicht. Leiser Gesang und Harfenklänge lagen in der Luft. Der Tau auf den goldenen Blättern Loriens glitzerte und leuchtete in der Sonne wie tausend Diamanten. Tief atmete Thrain die frische Waldluft ein und ging langsam zu der Treppe, die von der Senke, in der sein Haus stand, hinauf führte.
Sacht wisperten der Wind durch die Bäume um ihn her. Staunend ließ Thrain den Blick über seine Umgebung gleiten. Im Licht des neuen Tages erschienen ihm die Bäume von fast weißem Holz zu sein. Ihre schiere Größe und Gewalt faszinierte ihn. Immer hatte er gedacht, dass nur Berge solche Ehrfurcht in ihm hervorrufen könnten. Doch, wenn er den Kopf in den Nacken legte und hoch zu den machtvollen Kronen der Mallornbäume aufblickte, in deren Wipfeln eine ganze Stadt errichtet worden war, in der Luft schwebend, wie aus einer anderen Welt, so überlief ein andächtiger Schauer.
Langsam folgte er der gepflasterten Straße, in deren Steinen er nun tatsächlich ein Mosaik aus verschlungen Linien erkannte. So manche Elben kamen ihm entgegen und ihre verwunderten Blicke folgten ihm noch lange. Leises Flüstern konnte er hören. Aber keiner schien überrascht, ihn hier anzutreffen. Offenbar hatte sich die Botschaft, dass ein Zwerg nun hier auf Einladung Galadriels als Gast weilte, wie ein Lauffeuer durch die Stadt verbreitet.
Doch irritiert waren die Elben dennoch.
„Was macht dieser Zwerg hier?", hörte er sie leise auf Sindarin flüstern, ohne zu wissen, dass er sie wohl verstand.
„Warum lädt die Herrin einen Zwerg ein, hier bei uns zu leben?" „Die Höhlengräber haben doch nie Respekt für unser Volk und unsere Sitten gehabt, warum sollte dieser hier anders sein?" „Am Boden wünscht er zu leben! Unsere Mallornbäume sind ihm wohl zuwider!" „Warum haben wir ihn aufgenommen, warum sollten wir ihn als Gast behandeln! Man hätte ihn direkt wieder fortjagen sollen!"
Ihre gemurmelten Gespräche in Thrains Rücken schwankten zwischen Neugier, Verwunderung und bis hin zu offener Abneigung. Offenbar stellten einige die Entscheidung Galadriels in Frage, aber keiner würde dagegen offen aufbegehren, sondern weiterhin Thrain als Gast behandeln, dem man allerdings mit einer gewissen distanzierten Kälte begegnen würde. Andere wiederrum schienen tatsächlich auf den Zwerg zu sein, der nun in elbischer Kleidung unter den weiten Kronen der Mallornbäume spazieren ging, einen Ausdruck ehrlicher Faszination und Bewunderung in den Augen.
Nie hätte Thrain sich ausgemalt, einen solchen Wald zu betreten. Er kannte den Düsterwald und Thranduils Palast sowie das Elronds Haus, doch dies hier schien ihm elbischer zu sein als alles, was er je gesehen hatte.
Tatsächlich fiel es ihm in all der Bewunderung, die er für Caras Galadhon empfand, nicht übermäßig schwer, die geflüsterten Bemerkungen der Elben um ihn her zu ignorieren. Im Gegenteil, er fühlte eine gewisse Erheiterung in sich aufsteigen, dass die Elben in seiner Nähe sich über ihn unterhielten, ohne die geringste Ahnung zu haben, dass er jedes Wort verstand.
Zum ersten Mal seit Wochen gut gelaunt schlenderte er einen schmalen Weg entlang, erklomm eine Treppe über einige riesige Wurzeln und erreichte eine kleine Anhöhe, von deren Seite ein Bach ein kurzes Stück als Wasserfall hinabstürzte. Oberhalb des Baches war ein Pavillon erbaut, auf den Thrain nun zuging.
Direkt über dem Wasserfall stand er nun und beobachtete das Spiel des Sonnenlichtes im gurgelnden Wasser, auf dem einige wenige der goldgrünen Blätter trieben. So rein und klar war das kühle Nass, dass es ihn an reinste Diamanten in den Adern des Erebor erinnerte. Mit einem Lächeln dachte er an das Funkeln der Diamanten und Juwelen in den Minen seiner Heimat, als sich plötzlich zwei funkelnde Kristallaugen ins Bild seiner Erinnerung schoben.
Voller Schmerz krampfte sich sein Herz zusammen, bohrte sich der Kummer tief in seiner Brust wie ein schartiges Messer.
Ira...
Seine Geliebte, er hatte sie verloren.
Galadriel hatte gesagt, der Schatten auf ihr würde weichen. Es ging ihr gut. War sie noch in Gefangenschaft? Oder war sie entkommen, wie Galadriel angedeutet hatte?
Seine Finger umschlossen die hölzerne Umgrezung des Pavillons so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten, während er an die verzweifelte Jagd auf die Orks dachte, die Ira gefangen genommen hatten.
Es war ihm nicht möglich gewesen, sie wieder zu finden. Ihre Spuren hatte er verloren und war viel zu weit zurück gefallen. Nun würde er seine Ira nie wieder sehen. Er konnte nur rätseln, wo sie mittlerweile war. Wie sollte er sie in der großen Weite Mittelerdes finden?
Mit bitter zusammen gepressten Lippen starrte er auf das kristallklare, munter sprudelnde Bächlein hinab, in dessen Gurgeln und Säuseln sich Iras helles Lachen zu mischen schien.
So schön waren die Monate an ihrer Seite gewesen, viel zu schön, um wahr zu sein. Er hätte sich denken können, dass ihm derartiges Glück nicht auf ewig gegönnt sein würde. Nun würde er mit dem Schmerz leben müssen, sie wohl nie wieder zu sehen, sie nie wieder im Arm zu halten.
Ein tiefes Seufzen entrang sich seiner Kehle. Einen Trost hatte er. Galadriel hatte gesagt, dass es Ira gut erging. Vielleicht war es auch besser so, wenn Ira ihn, den Prinzen im Exil, nicht wieder sehen würde. Sie würde nun irgendwo ein neues Leben anfangen, ohne ihn. Und er, Thrain oder Tarl, er wusste nicht mehr, wem er näher war, würde hier in Lothlorien bleiben, bis sich ihm ein neuer Weg zeigte.
Die Augen von dem Bachlauf abwendend, stieß er sich ab und verließ den Pavillon.
Tief in Gedanken versunken, vor allem über die letzten Monate und die Geschehenisse des ganzen letzten Jahres nachgrübelnd, achtete er kaum, wohin er ging.
Seine Füße trugen ihn zu einer Wendeltreppe, die sich als filigraner Bogengang um einen der Mallornbäume schlang, und langsam begann er den Aufstieg. Das Zusammenspiel von Sonnenlicht und Schatten unter den Blättern zeichnete feine Muster auf das Holz von Baum und Treppe. Schon nahe an der Baumkrone endete die Treppe auf einer Brücke, die sich zum nächsten Baum hinüber schwang.
Kurz verharrte Thrain. So hoch über dem Waldboden war es ihm nicht ganz geheuer. Mehrere Elben wandelten die Brücke entlang und sahen neugierig zu ihm. Vorsichtig lugte Thrain über das Gelände hinab und sah eilig wieder auf die Brücke vor ihm. Ihm war leicht schwummrig. Es war albern. Zusammen mit seinem Vater hatte er schon in Sicherungsnetzen sitzend hoch über dem Abgrund so manchen Minenschachtes gebaumelt und nie war ihm dabei dermaßen komisch geworden.
Doch vor den Elben, die ihn mit seltsam wissend belustigten Blicken bedachten, wollte er sich keine Blöße geben. Nur leicht zitternd griff seine Hand nach dem Gelände und langsam wagte er sich auf die Brücke hinaus.
Trotz weicher Knie schaffte er es relativ flott hinüber zum Ende der Brücke, die auf eine große Plattform führte, welche sich zwischen vier Mallornbäumen aufspannte. Hier fühlte Thrain sich schon deutlich wohler, war diese Plattform doch so groß, dass er nicht die ganze Zeit hinab zum Boden schauen konnte.
Staunend fiel sein Blick auf ein Gebäude, das sich hier mittig auf der Plattform erhob. Geschwungene Spitzdächer, Säulen mit feinster Schnitzerei verziert und Stoffbahnen, anstelle von Wänden, die sich in der Brise bauschten. Elben spazierten hier umher, gingen in leise Diskussion vertieft unter den Bogengängen des Gebäudes entlang, eine Gruppe Musiker spielte an der Harfe, die Melodien schwangen sich schwerelos durch die Lüfte, Blättern ähnlich, mit denen der Wind spielte.
Neugierig, was für einen Ort er hier gefunden hatte, ging Thrain auf das Haus zu und stieg die paar Treppenstufen zum Eingang empor. Deutlich fühlte er die Blicke der Elben in seinem Rücken.
Dann trat er durch den Türbogen ins Innere des Hauses. Staunend blieb er stehen, während er den Anblick aufsog, der sich ihm bot. Ein langer Gang, lag vor ihm, jetzt beleuchtet vom Sonnenlicht, das durch die Dachfenster herein fiel, doch bei Nacht sicher im Licht der unzähligen Laternen schimmernd, die von der Decke hingen. Regale aus weißem Holz reckten sich hier zu allen Seiten in die Höhe, gefüllt mit Büchern, Schriftrollen und Pergamenten. Ihr Geruch vermischte sich mit dem allgegenwärtigen Duft des Waldes.
Ein leises Lachen entfuhr Thrain. Sein Bruder Rhon wäre vor Glück hier ganz beseelt gewesen. Welche Schätze hier wohl lagerten? Er konnte sich kaum ausmalen, welches Wissen hier in Lothlorien gehortet wurde.
Er war nie ein großer Bücherwurm gewesen, mehr zum Kämpfen hatte es ihn immer gezogen und seinen Bruder hatte er belächelt. Balin hatte ihn immer zum Studium der Schriften zwingen müssen. Doch hier, umgeben von diesem Wissensschatz, in diesem lichtdurchfluteten Ort hoch im Baum, konnte er zum ersten Mal die Faszination seines Bruders für das geschriebene Wort nachempfinden.
„Oh was würde Rhon Augen machen...", flüsterte er leise und mit plötzlichem Bedauern, das der Kleine nicht hier bei ihm war.
Langsam ging er die Regale entlang, die Augen unverwandt auf die Buchrücken gerichtet. Vorsichtig streckte er die Hand aus und ließ die Finger über die alten Bücher gleiten. Uralte Werke in bereits rissig werdenden Ledereinbänden, neue Bücher noch ohne Altersflecken und mit leuchtenden Stoffen eingebunden, Bücher klein und groß, schwere Wälzer und kleine schmale Heftchen neben Stapeln loser Pergamente, die ordentlich in verschiedenen Fächern aufgereiht waren, Pergamentrollen, zu Dutzenden übereinander gestapelt, mit bunten Bändern zusammengehalten.
Vollkommen vergessend, dass er ja nicht zeigen wollte, dass er Sindarin sprach und lesen konnte, sog er die Titel in sich auf. Geschichtsschreibung, Abhandlungen über Mittelerde und seine Völker, Erzählungen, Gedichte, Sagen und Mythen, Lieder und Aufsätze, wissenschaftliche Berichte über Astronomie, Heilkunde, Schmiedekunst (hier verharrte er so lange, dass jeder Beobachter sofort gesehen hätte, dass er wirklich lesen konnte, was hier geschrieben war), Architektur und vieles andere.
Es kostete ihn einiges an Beherrschung, nicht einfach ein Buch hervor zu ziehen und sich auf einen der vielen bereit stehenden Sessel oder Diwane sinken zu lassen und mit dem Lesen zu beginnen.
Doch er war sich wieder der irritierten Blicke einiger Elben bewusst, die am ihm vorbei gingen und sich leise murmelnd fragten, was ein ungehobelter Höhlengräber in einer ihrer Bibliotheken suchte.
Weiter ging Thrain, ganz versunken in all die Bücher, bis er schließlich auf erste Schriften in einer ihm vollkommen unbekannten Sprache stieß. Die Runen waren zweifellos elbischer Art, doch verstand er sie nicht. Qenya musste dies sein, die Sprache der Hochelben, die sein kleiner Bruder natürlich fließend beherrschte. Hier strahlten die Bücher ein solches Alter und solche Würde aus, dass er nicht mehr wagte, sie anzurühren.
Noch stiller schien es in diesem Teil der Bibliothek zu sein. Keine geflüsterten Diskussionen über den Inhalt der Schriften war hier zu hören und auch die Musik der Harfen war weit in den Hintergrund gerückt. Nur das Rauschen der Blätter über seinem Kopf war zu hören und kaum Elben waren hier, die in diesen uralten Werken lasen. Aus lang verganener Zeit mussten diese Schriften stammen, denn nur noch wenige Elben, die Quenya sprachen, waren noch in Mittelerde.
Fast erdrückte ihn das schiere Alterder Bücher und die Atmosphäre hier, die ihn stark an einen Tempel erinnerte. Erleichtert war er daher, als er das andere Ende der Bibliothek erreichte, und zwischen den flatternden Vorhängen hindurch nach draußen trat. Tief sog er die kühle Waldluft ein, als das klirrende Geräusch von Waffen an sein Ohr klang.
Suchend sah er sich nach der Quelle der Geräusche um, bis er schließlich nicht weit entfernt auf einer Lichtung zwischen Mallornbäumen einen Übungsplatz ausmachen konnte. Zwischen Zielscheiben, Waffenständern, Übungspuppen und Hindernissen konnte er kämpfende Elben sehen. Ein Grinsen huschte über sein Gesicht. Das war ja spannend!
Rasch war er zur nächsten Treppe gelaufen und ohne groß auf die unheimliche Höhe zu achten, eilte er hinab. Mit weit ausgreifenden Schritten näherte er sich dem Übungsgelände.
Ungefähr ein Dutzend Elben in schlichter Lederkleidung trainierten unter den wachsamen Augen zweier blonder Männer, die sich umwandten, kaum, dass Thrain in der Nähe war. Überrascht blieb er stehen und sah den Brüdern Haldir und Orophin entgegen.
„Tarl...", begrüßte ihn Haldir mit gedehnter Stimme, „Was tust du hier?"
Der Zwerg schlenderte heran. Sein Näherkommen war von den trainierenden Elben bemerkt worden und neugierig ließen sie ihre Waffen sinken.
„Nun, ich dachte, ich seh mir mal das Training hier an.", erwiderte Thrain verschmitzt und verschränkte die Arme vor der Brust. Sein Blick glitt über die Trainingsgruppe aus Männern und Frauen, die ihn mit unverhohlener Neugier und teilweise auch deutlicher Abneigung musterte.
„Ich glaube kaum, dass ein Zwerg etwas mit meinen Trainingsmethoden anfangen kann.", erwiderte Haldir.
„Ach Bruder,", schaltete sich da Orophin ein, „ein Austausch könnte doch durchaus interessant sein. Es ist lange her, dass du dich das letzte Mal mit einem Zwerg ausgetauscht hast."
Ein seltsames Gefühl zog sich in Thrains Magengegend zusammen. Sprach Orophin etwa von seinem Vater? Er erinnerte sich an die Begegnung mit Haldir als er noch ein Kind gewesen war und glücklicherweise hatte der Elb ihn bisher nicht erkannt.
Haldir schüttelte unwirsch den Kopf und wandte sich der Gruppe zu, die scheinbar seine Lehrlinge waren und still die Unterhaltung verfolgten. „Macht mit euren Übungen weiter!", rief er und etwas widerwillig folgten sie seiner Aufforderung.
Nach einander wandten sie sich ab, bis zuletzt nur noch eine dunkelhaarige Elbin Thrain noch einmal neugierig musterte und sich schließlich auch wieder ihrem Training widmete.
Eine Weile beobachtete Thrain die Elben. Er spürte etwas Wehmut in sich aufsteigen. Wieder zu trainieren mit einem Gegner, der ihm gewachsen wäre, wäre ein Wohltat.
„Ich könnte mich einfach unter die anderen Rekruten mischen...", schlug er arglos vor und wie er geahnt hatte, wandte Haldir sich sofort mit scharfem Blick wieder ihm zu.
„Das ist eine gute Idee!", stimmte Orophin zu, doch Haldir brachte seinen Bruder mit einer knappen Geste zum Schweigen.
Kurz musterte der Elb den Zwerg. „Wollt ihr mich vorher testen?", fragte Thrain herausfordernd, „Oder habt ihr Angst, nicht mithalten zu können."
„Komm mit!", knurrte Haldir und schwang sich über den Zaun, der den Übungsplatz umgrenzte. Offenbar hatten Thrains Worte Wirkung gezeigt.
„Beiseite!", rief er den Rekruten zu, die sofort ihr Training unterbrachen und sich rasch zurückzogen. Haldir griff nach zwei Übungsschwertern und warf eines Thrain zu, der es lässig aus der Luft auffing.
„Mach dich kampfbereit!", rief der blonde Elb und Thrain stellte sich breitbeinig hin. Ein Grinsen glitt über sein Gesicht. Das versprach interessant zu werden.
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