Die Straße der Schmuggler
Vollkommen erstarrt blickte Thrain auf den Toten zu seinen Füßen. Faris gebrochener Blick war anklagend auf ihn gerichtet.
Thrains Verstand hatte aufgehört zu arbeiten, sein Kopf war wie leer gefegt. Seine Hände begannen zu zittern, während er auf den toten Körper seines Opfers hinab sah. Zäh tropfte das Blut Faris' von seiner Axtklinge.
Mit einem Mal von Ekel erfüllt, ließ er die Waffe fallen und machte einen Schritt zurück. Fassungslos sah er auf seine Hände, dann wieder auf Faris. Was hatte er nur getan?
Er konnte einfach nicht fassen, was eben passiert war. Der Kampfrausch war mit einem Mal verschwunden, es fühlte sich an, als hätte man ihn in eiskaltes Wasser geworfen. Angestrengt schnappte er nach Luft, sein Herz raste und die Knie waren ihm weich.
Er hatte nicht gesehen, dass es Faris war! Er hatte ihn nicht erkannt! Er war vollkommen außer Kontrolle gewesen, hatte sich komplett seiner Kampfeslust ergeben, hatte nicht darauf geachtet, was er tat! Wie schon bei Arnfast hatte er sich seinen Gefühlen ergeben, sich nicht mehr kontrolliert.
Ihm wurde übel, er konnte die Augen nicht von Faris abwenden. Unkontrolliert wich er einige weitere Schritte zurück, als ihn plötzlich jemand an der Schulter packte.
„Tarl!", es war Aveon, der neben ihm auftauchte. Irritiert sah der Mensch auf ihn hinab. „Was hast du?", fragte er, doch Thrain war nicht in der Lage, ihm eine Antwort zu geben. Noch immer starrte er auf Faris' Leiche.
„Das war doch sicher nicht das erste Mal, dass du getötet hast?", fragte Aveon. Er wartete keine Antwort ab, sondern drehte Thrain herum. „Komm mit!", sagte er und führte den Zwerg zur Ladefläche des Fuhrwerks, wo die anderen bereits damit beschäftigt waren, die besten Kupferstücke unter sich aufzuteilen.
Thrain stand da, während die anderen Kisten aufrissen, darin wühlten und die Ware, die den größten Profit versprachen, hervorzogen und in Säcken verschwinden ließen. Ihr Gelächter und die aufgedrehten Rufe gellten unangenehm in seinen Ohren. Wie von einem Nebel umgeben starrte er auf das verwüstete Nachtlager der Händler. Vier Tote lagen am Boden, die Gliedmaßen verrenkt, der gebrochene Blick zum Nachthimmel gerichtet und Blut tränkte ihre Kleidung und die Erde unter ihnen. Die anderen hatten es geschafft, rechtzeitig die Flucht zu ergreifen. Wo sie wohl waren?
„Hier Tarl!", das war Karios Stimme. Der Junge drückte ihm einen Sack in die Hand, in dem es verdächtig klapperte. Die dunklen Augen Karios leuchteten voll Aufregung, die Wangen waren gerötet, seine Kleidung blutverschmiert. Er lachte im Freudentaumel, als er sich wieder von dem Zwerg abwandte.
„Los! Wir müssen hier weg!", zischte Marton und sprang von der Ladefläche des Karrens.
Die Schmuggler warfen sich die Säcke mit ihrer Beute über die Schulter und eilten auf den Schatten der Bäume zu.
Mühevoll und noch immer von tiefem Entsetzen erfüllt, wandte Thrain sich ab, hob den Sack in die Höhe und stolperte ihnen hinterher.
Marton führte sie in raschem Tempo durch den Wald. Sie eilten nordwärts, zurück zu ihrem Lager, wo Elestim wachte und auf ihre Rückkehr wartete.
Thrain stolperte neben seinen Gefährten durch die Dunkelheit. Obwohl er theoretisch besser sehen konnte, als die anderen, nahm er nichts von seiner Umgebung war. Äste schlugen ihm ins Gesicht, er rempelte gegen Baumstämme, seine Füße verfingen sich in Wurzeln, sodass er mehrmals fast stürzte, hätte Harlock nicht geistesgegenwärtig zugepackt und den Zwerg wieder hochgezogen.
Seine Gedanken rasten. Immer wieder sah er den toten Faris vor sich. Faris, mit durchschnittener Kehle, den er in blindem Kampfrausch erschlagen hatte. Es wäre ihm ein leichtes gewesen, den Händler bewusstlos zu schlagen. Doch nichts hatte er mehr richtig wahrgenommen, nur all die Wut, die durch ihn hindurch geflossen war.
Was hatte er nur getan?
Er sah Faris vor sich, auf der Straße des Dorfes stehen, im Gespräch mit anderen vertieft. Deutlich erinnerte er sich, wie er so manches mal mit einigen Zwergen des Dorfes im Wirtshaus gesessen hatte. Faris war oft dabei gewesen. Gemeinsam hatten sie Karten gespielt, Bier getrunken, Pfeife geraucht und Geschichten ausgetauscht.
Nur wenige Wochen nach seiner Ankunft hatte der Zwerg ihm die einzelnen Mädchen Mhilrams vorgestellt. Seine Stimme klang Thrain so deutlich in den Ohren, als stünde er eben neben ihm.
Er hatte Faris nie sonderlich gemocht. Die Art, wie Faris Ira und die anderen Mädchen behandelt hatte, gerade, wenn er etwas zu viel getrunken hatte, war Thrain immer unangenehm gewesen. Der Abend, an dem Faris Nube bedrängt hatte, war ihm gut im Gedächtnis geblieben. Damals hatte er den Zwerg bewusstlos geschlagen und vor die Tür getragen.
Die Erinnerungen an Faris in Nebelgrund verschwommen, wechselten sich ab mit dem Bild des Toten, das nun wohl unauslöschlich in Thrains Gedächtnis gebrannt war.
Trotz seiner Fehler hatte Faris es nicht verdient, auf diese Art zu sterben. Getötet in einem nächtlichen Überfall, ermordet für die Ware, die er nach Rohan transportierte. Thrain war übel, er fühlte sich schmutzig.
Die Nacht war weit voran geschritten, der Morgen wurde bereits durch einen schmalen Streifen helleren Himmels im Osten angekündigt, als Marton sie anhalten ließ.
Erschöpft dank der durchwachten Nacht ließen die Schmuggler sich zu Boden sinken. Sie entzündeten kein Feuer, da sowieso bald die Sonne aufgehen würde. Arlock erbot sich, die Wache zu übernehmen, während der Rest sich im Schutz des Dickichts einen Schlafplatz suchte.
Auch Thrain suchte sich einen Platz unter den tief hängenden Zweigen einer Fichte. Doch während um ihn herum bald das leise Schnarchen der erschöpften Männer erklang, blieb er mit offenen Augen liegen und starrte ins Leere. Um ihn herum veränderte sich die Welt von nächtlicher Dunkelheit über das Zwielicht der Dämmerung und schließlich hellem Tageslicht, doch er nahm es nicht wahr.
Stumpf sah er gen Himmel, von Grauen erfüllt über das, was er getan hatte.
Spät am nächsten Abend erreichten sie endlich wieder das Lager, wo Elestim sie voll freudiger Erwartung empfing.
„Eine wahrhaft erfolgreiche Unternehmung!", rief Marton überschwänglich, als die Beute auf dem Tisch ausgebreitet und begutachtet wurde. Eine Stimmung voller Zufriedenheit hatte die Gruppe erfasst, als alle endlich wieder warm und trocken in der Höhle beisammen saßen. Während sie fort gewesen waren, hatte Nedric Elestim einen Besuch abgestattet und neben einigen weiteren Vorräten für den Winter eine Flasche Schnaps mitgebracht, die nun die Runde machte.
Lachend rissen die Schmuggler Witze, erzählten Elestim voller Stolz von dem geglückten Raub.
Nur Thrain hielt sich zurück. Still saß er auf seinem Hocker und füllte sich mit grimmigem Blick einen großen Becher mit Schnaps. Das Bild von Faris totem Körper wollte ihm nicht aus dem Kopf gehen. Er fühlte sich schmutzig. Mit einer knappen Bewegung stürzte er das brennende Getränk hinunter und streckte sofort mit fordernder Geste die Hand nach der Flasche aus.
Keiner fragte, was mit ihm war. Zu sehr genoßen sie alle den neuerlichen Triumph über Arnohd.
Missmutig starrte Thrain auf die Tischplatte. Doch bald stellte er fest, dass, egal wie viel er trinken würde, die Erinnerung an den Mord an Faris würde nicht weg gehen. Es war geschehen. Und es würde ihm nichts bringen, nun darüber zu klagen.
Nur wenige Tage später ließ Marton die erbeutete Ware in die Transportkörbe und Säcke der Schmuggler packen. Er wollte gen Süden aufbrechen, um die Beute weiter zu transportieren.
Diesmal sollte Arlock zurück bleiben. Alle anderen würden Marton begleiten, da sie mittlerweile so viel Kupfer angesammelt hatten, dass sie jeden einzelnen brauchten. Thrain, so hatte Marton entschieden, sollte auf jeden Fall mitkommen, denn der Anführer der Bande hatte den Zwerg beim Überfall auf die Karawane kämpfen sehen und war von dessen Fähigkeiten sehr beeindruckt. Thrain sollte für den Fall ungeplanter Begegnungen an ihrer Seite sein.
Und so brachen sie an einem kalten, sonnigen Herbstmorgen auf. Der Monat Afdehar*, Oktober in der Sprache der Menschen, neigte sich bereits seinem Ende.
Als sie vor die Tür traten, erblickten sie einen verschneiten Berghang. Eine dünne weiße Decke hatte sich über die Umgebung gebreitet. Knirschen begleitete jeden ihrer Schritte. Raureif überzog wie Glas die wenigen Pflanzen, die aus dem Schnee heraus ragten. Im Licht der aufgehenden Sonne funkelte und glitzerte alles um sie her.
Gewickelt in schwere Mäntel aus Wolle und Flachs über der schlichten Kleidung einfacher Bauern machten sie sich an den Abstieg. Die Waffen, die sie bei sich trugen, waren gut unter den Mänteln versteckt, sodass sie erstmal den Eindruck harmloser Reisender erweckten. Doch die Tragekörbe, die sie schleppten, waren nicht mit der letzten Ernte des Jahres oder mit Erzeugnissen ihrer Viehherden gefüllt, sondern mit dem Diebesgut aus Nebelgrund.
Festen Schrittes durchbrach Marton die unberührte Schneedecke, als er sie den Trampelpfad hinab ins Tal führte. Kurz warf Thrain einen Blick zurück, wo Aveon, kaum erkennbar gegen den dunklen Felsen, seinen Wachposten bezog.
Schweigend stiegen sie den Berghang hinab, ihr Atem bildete kleine Wölkchen in der Luft, während die Sonne langsam den Himmel emporkletterte. Deutlich hatte sie an Kraft verloren, der Winter würde nun bald kommen.
Nach und nach wurde die Schneedecke dünner. Erste Nadelbäume tauchten nun um sie herum auf, die mit jedem Stück, das sie sich dem Tal näherten, höher wurden. Schließlich verschwand der Schnee ganz und wich dem bloßen Waldboden. Die ersten Nachtfröste hatten die Erde hart werden lassen.
Hoch ragten nun die Tannen um sie her auf, trotzen als einzige dem immer kälter werdenden Wetter. Dunkel war es unter ihren weiten Ästen. Das Licht der Herbstsonne drang kaum bis zum Waldboden vor. Eine unheimliche Stille lag über dem Wald. Thrain konnte einige wenige Tierspuren ausmachen, doch sie sahen keines. Es schien, als wären sie die einzigen Lebewesen.
Schließlich erreichten sie den Fuß des Berges, wo nun auch Laubbäume sich in den Wald mischten. Nur noch wenige Blätter trugen sie, das meiste ihrer bunten Last war bereits zu Boden gefallen und zerfiel nun zu brauner Erde. Kahl reckten die Bäume ihre Zweige in den blauen Himmel. Ein kalter Wind fuhr über den Wald und einige weitere Blätter segelten sanft hinab. Hell stand die Sonne nun am Himmel, ihr Licht ließ den herbstlichen Wald in einem letzten Glanz erstrahlen, bevor er in den langen Schlaf sank, den Yavanna regelmäßig ihren Kindern gewährte, um zur Ruhe zu kommen und neue Kraft zu tanken.
Hin und wieder erklang der Ruf eines Vogels, der sich auf den Winter vorbereitete. Hoch über ihnen zogen große Vogelschwärme gen Süden.
Wie einige Tage zuvor folgten sie dem Trampelpfad in Richtung der großen Straße am Rand des Nebelgebirges. Thrain hatte zu Marton aufgeschlossen. Hoch aufgerichtet lief er neben dem Anführer her, eine Hand unter dem Mantel verborgen auf dem Griff seiner Axt liegend. Weitere Gedanken an Faris und den Überfall verbat er sich. Er konnte das Geschehene nicht rückgängig machen. Also hatte er beschlossen, nicht länger damit zu hadern. Er war nun einer der Schmuggler, mit allen Folgen, die diese Tatsache mit sich brachte.
Sie näherten sich eben der Straße, als Elestim einen leisen Pfiff ausstieß, das abgesprochene Signal einer Warnung. Sofort verharrten sie alle.
Dann konnte Thrain hören, was Elestim alarmiert hatte. Pferdehufe... Das Geräusch von Hufgeklapper auf der Straße. Es kam von Süden und näherte sich rasch!
„Deckung!", zischte Marton. Doch keiner der Männer brauchte diesen Befehl. Trotz ihrer Kampfkraft waren sie einer Gruppe Reiter deutlich unterlegen. Rasch suchten sie im Unterholz Schutz.
Gut verborgen durch eine Hecke lag Thrain bäuchlings auf dem Boden, von allen Schmugglern war er der Straße am nähesten. Die Geräusche kamen immer näher, leises Klingen von Glöckchen mischte sich unter das Hufgetrappel. Von Neugier gepackt robbte er vorwärts, bis er schließlich einen Blick auf die Straße erhaschen konnte. Wachsam blieb seine Hand auf der Axt liegen.
Da erblickte er Gestalten, Reiter, die sich in raschem Tempo von Süden her ihnen näherten. Kaum wagte er zu atmen, als er erkannte, wer da auf ihn zukam.
Es waren Elben! Deutlich erkannte er ihre die schlichten und zugleich eleganten Rüstungen, die unter grauen Mänteln hervor blitzten. Das Fell ihrer Rösser schimmerte golden in der Sonne, leicht flogen die Hufe über das Pflasterstein der Straße. Ein stetes Klingeln von Glöckchen am Zaumzeug der Pferde begleitete die Krieger.
Angespannt duckte Thrain sich ins Dickicht, betete zu Mahal, dass die Elben ihn nicht erspähten. Viel zu nah war er an der Straße! Doch durch irgendeinen ihm gesonnenen Glücksfall ritten die elbischen Krieger einfach an ihm vorbei und folgten der Straße entlang weiter nach Norden.
Erleichtert stieß Thrain die Luft aus. Sie blieben liegen, bis jegliches Hufgeräusch lange verklungen war.
Sie querten die Straße und liefen weiter gen Osten, wo sich der Wald schließlich mehr und mehr lichtete und sie gegen Abend auf die weite baumlose Ebene des Anduintals hinaus traten.
Am nächsten Tag führte Marton sie weiter in Richtung des Flusses. Ein scharfer Wind fuhr über die baumlose Ebene und Thrain zog sich seine Hapuze tief ins Gesicht. Kurz vor ihrem Aufbruch hatte Arlock bei den Männern die Glatzen nachrasiert. Nach all den Wochen, die er nun schon bei den Schmugglern verbrachte, hatte Thrain sich immer noch nicht an das Gefühl des haarlosen Kopfes gewöhnt.
Die Sonne kletterte am wolkenlosen Himmel empor und lies die Temperaturen ein wenig steigen. Große Zugvögelschwärme flogen über sie hinweg. Das hohe Gras des Anduintals raschelte um sie her im Wind, braun war es nun geworden nach dem langen Sommer und dem Herbst. Bald würde hier Schnee liegen und die Landschaft in eine leere weiße Ebene verwandeln.
Einzelne Tiere stoben davon, wenn die Gruppe sich ihnen näherte. Enten und andere Wasservögel flogen empor, ein Hase eilte hakenschlagend davon oder manch ein Dachs suchte Schutz im Dickicht. Der Boden wurde morastiger, als sie sich dem breiten Strom näherten. Hoch wuchs hier das Sumpfgras, deutlich überragte es Thrain an manchen Stellen.
Marton folgte einem kleinen Trampelpfad, fast nicht erkennbar, wenn man nicht wusste, wo er lang führte.
Schließlich erreichten sie den Anduin. Breit und träge wälzte er sich durch sein Bett. Hier war er nicht mehr in einzelne Wasserläufe und Flüsschen verzweigt wie er es weiter nördlich in der Gegend der Schwertelfelder gewesen war. Die Rufe einiger weniger Vögel, die den Winter hier verbringen würden, mischten sich in das gemächliche Rauschen des Flusses.
Sie wandten sich hier nach Süden und folgten dem Verlauf des Flusses. Der Pfad hielt sich nahe am Ufer, gut verborgen durch das hohe Gras und die gelegentlich hier wachsenden Weidenbäume, deren Zweige sich tief über das Wasser beugten.
Mehrere Tage lang wanderten sie so nach Süden, während sich die Landschaft um sie her langsam veränderte. Der Grund wurde weniger morastig und das Gras kürzer. Mehr Bäume wuchsen nun um sie her, allerdings nur auf der westlichen Seite des Flusses. Das östliche Ufer dagegen wurde zunehmend karger und braun.
Der Weg führte sie über eine kleine Anhöhe, von der aus sie einen guten Überblick über die Umgebung hatten. Sie standen inmitten von Grasland, ein Meer aus kurzem Gras unterbrochen von kleinen Waldinseln. Zu ihrer Rechten erhoben sich die Nebelberge. Thrains Auge wurde unweigerlich von drei markanten Gipfeln angezogen, die noch ein Stück südlich von ihnen lagen. Noch nie zuvor hatte er sie gesehen, doch wusste er instinktiv um welche Berge es sich handelte, Zirakzigil, Barazinbar und Bundushatur, die Berge von Khazad-dum. Das Bild Balins, seines lieben Vetters, blitzte vor seinem inneren Auge auf. So lang her schien es ihm schon, dass Balin fortgezogen war und so viel Zeit war vergangen, seit sie das letzte Mal Nachricht von ihm erhalten hatten. Wie ging es ihm wohl? Thrains Auge verweilten lange nachdenklich auf den drei Gipfeln, während er sich voll Sehnsucht wünschte, wieder unter Zwergen zu sein. Doch was hätte Balin schon für einen geflohenen Prinzen, einen Verbrecher, Schmuggler und Mörder übrig, selbst wenn sie verwandt waren?
Seufzend wandte er sich ab. Die östliche Uferlandschaft war karg und öde, bis auf den dunklen Saum des südlichen Düsterwaldes der sich im Hintergrund erhob.
„Wir haben unser Ziel bald erreicht.", verkündete Marton und deutete nach Süden. Die Augen des Zwerges folgten seiner Geste, doch er erkannte kein Lager oder Dorf, wohin ihr Weg sie führen würde. Weit und leer erstreckte sich die Landschaft vor ihnen, bis auf seltsamen goldenen Schimmer, der sich über ein größeres Waldgebiet am Fuß der Nebelberge gelegt hatte, fiel ihm nichts weiter auf.
Als sie den Hügel wieder hinab stiegen, schloss Thrain zu Marton auf.
„Wo treffen wir die anderen?", fragte er. Doch der Mensch schüttelte den Kopf. „Wir treffen niemanden. Das ist zu gefährlich.", erwiderte er und Thrain sah ihn erstaunt an. Er war all die Zeit davon ausgegangen, dass sie sich auf dem Weg zu einem Treffen mit anderen Schmugglern befanden, die ihnen die Ware abkaufen würden.
„Entlang der Schmuggelroute in den Süden gibt es mehrere Verstecke, die als Zwischenlager genutzt werden. Wir suchen das nächstgelegene auf, verstecken dort die Ware und finden wohl auch die Ausbeute unserer letzten Lieferung.", erklärte Marton und Thrain nickte verstehend.
Es dauerte nur wenige Stunden, bis Marton sie an eine alte, knorrige Weide heran führte. Wachsam warfen die Menschen Blicke über die Schulter. Doch sie waren allein, niemand außer ihnen war hier.
Nach kurzer Zeit war eine Falltür freigelegt, verborgen unter Erde und verschlungenem Wurzelwerk. Kario stemmte die Tür auf und Thrain beugte sich neugierig vornüber. Sie blickte in einen kleinen unterirdischen Raum. Elestim ließ sich nach unten gleiten und klatschte freudig in die Hände.
„Ah... Es scheint, die Geschäfte liefen gut!", rief er aus, seine Stimme unter ihnen klang etwas gedämpft.
Sie hörten ihn kramen und da reichte er schon eine Kiste hinauf. Thrain nahm sie entgegen, er erkannte das eingebrannte Symbol eines glatzköpfigen Mannes auf dem Holz. Vorsichtig stellte er die Kiste ab, deren Inhalt seltsam schepperte. Während er und Kario die Truhe öffneten, ließen Marton und Arlock die transportierte Beute zu Elestim hinab.
Der Deckel der Kiste löste sich ohne weiteren Widerstand und Thrain klappte fassungslos der Unterkiefer herab. Mehrere Flaschen standen in der Truhe, gefüllt mit bernsteinfarbener Flüssigkeit. Kario zog eine der Flaschen heraus und grinste breit. „Der gute Rum aus Umbar...", erklärte er mit äußerst zufriedener Miene.
Marton gesellte sich zu ihnen und begutachtete die Flaschen. Ohne viel Federlesens entkorkte er eine Flasche und setzte sie an die Lippen. Er nahm einen tiefen Zug und reichte das Getränk an seinen Bruder weiter. „Gutes Zeug.", sagte er.
„Das ist alles?", fragte Thrain, er konnte es nicht fassen, „Rum und Schnaps? Dafür rauben und morden wir?"
Marton lachte laut auf. „Oh Tarl, jetzt fang mir nicht mit irgendwelcher Moral an. Trink lieber was!" Er hielt dem Zwerg die Flasche hin, der abwehrend die Hände hob.
„Es ist auch nicht alles, was wir bekommen.", erklang hinter ihm Elestims Stimme. Thrain wandte sich um, in der Hand des jungen Mannes lag ein einfacher Beutel, aus dem dieser nun Münzen zog.
Kurz sah er Thrain an, dann schüttelte er jedoch den Kopf. „Bei der letzten Lieferung warst du nicht beteiligt, Tarl, tut mir leid. Du bekommst beim nächsten Mal deinen Anteil. Etwas trinken darfst du aber jetzt schon.", sagte er grinsend.
Lachend scharten sich die Schmuggler um die Falltür und reichten den Rum von Hand zu Hand.
Kopfschüttelnd trat Thrain zur Seite, noch nie hatte er sich so wenig Teil dieser Gruppe gefühlt. Ohne, dass er darauf achtete, trugen seine Füße ihn zum Flussufer. Langsam hob er den Blick und starrte ins Wasser.
Ein Fremder sah ihm entgegen. Hochgewachsen für einen Zwerg mit der muskulösen Statur eines durchtrainierten Kriegers. Die blauen Augen voller Kälte und Bitterkeit. Im Licht der Herbstsonne schimmerte die Glatze. Das schwarze Baarthaar war schon lange nicht mehr zu Zöpfen geflochten worden. Die Haarschließe der Krieger vom Erebor war vor Wochen abgelegt worden. Einfache, löchrige Kleidung trug der Zwerg, Mantel, Hose und Wams abgewetzt und voller Flicken.
Thrain, der Prinz und Thronerbe des Erebor war verschwunden. Tarl, der Schmied und Schmuggler sah ihm entgegen und mit einem Mal realisierte Thrain, dass er sich selbst micht mehr wieder erkannte.
Hinter sich hörte er das Lachen der Schmuggler. Umbar... Nach Umbar wurde also ihre Beute transportiert, in das Land der Piraten und Söldner, die ihre Nachbarn mit Krieg und Verderben überzogen, ohne Rücksicht auf das Leid, das sie anrichteten. Dorthin brachte er also nun das Kupfer, das von ehrlichen Männern und Frauen wie Frede und seiner Familie aus den Bergen bei Nebelgrund geholt wurde. Und wofür? Für Schnaps und Gold...
Es widerte ihn an, was aus ihm geworden war.
Schallend lautes Gelächter erfüllte die Höhle der Schmuggler. Ohne die schwere Last ihrer Kupferbeute waren sie schnell voran gekommen und hatten nach wenigen Tagen wieder das Lager erreicht.
Mehrere Flaschen des neuen Rums aus Umbar standen nun auf dem Tisch. Dazu gab es Wildbret, das Arlock und Marton auf dem Heimweg erlegt haben, sowie einen Gemüseeintopf. Im Vergleich dazu, was sie in den letzten Wochen zu essen gehabt hatten, war es ein wahres Festmahl.
Sogar Nedric, Ottar und Vigrot waren aus dem Dorf gekommen, um mit ihnen ihren Erfolg zu feiern. Fröhlich ließen die Männer den Alkohol herum gehen und genossen in ausgelassener Stimmung den Abend.
„Bei der Menge an Beute, die wir dieses Mal gebracht haben, können wir bei unserem nächsten Besuch am Versteck sicher mit noch mehr Lohn rechnen!", verkündete Marton grinsend, als er den drei Dörflern ihren Anteil auszahlte.
Kario schwenkte brüllend vor Lachen über irgendeinen Witz Aveons seinen Becher und rutschte von seinem Stuhl. Unsanft schlug er auf dem Höhlenboden auf, doch anstatt ich wieder aufzurichten, langte er bloß nach seinem Teller und holte sein Essen zu sich nach unten.
„Ihr solltet in den nächsten Wochen besser nichts von euch sehen lassen.", brummte Ottar, „Arnohd ist fuchsteufelswild ob des Überfalls. Er will die Gegend absuchen lassen."
Nedric ruckte mit dem Kopf zu Thrain rüber. „Deine kleine Ira war ganz aufgelöst, als sie von dem Vorfall auf der Handelsstraße hörte.", verkündete er, ohne sich darüber Gedanken zu machen, dass die Erwähnung Iras für Thrain vielleicht unangenehm war.
Der Zwerg, der bisher still in seiner Ecke gesessen hatte, knirschte mit den Zähnen. Er wollte nicht an Ira denken, wollte nicht darüber nachdenken, was sie sagen würde, wüsste sie, welche Rolle er dabei gespielt hatte. Rasch kippte er einen weiteren Becher des scharfen Rums hinunter. Doch er nahm nichts von der feurigen Süße des Getränks wahr, schal lag er ihm auf der Zunge, schmeckte nach Schuld und Tod.
Neben ihm setzte Haron eine Flasche Rum an und trank in gierigen Zügen, bis er gegen die Höhlenwand sackte und ein glückliches Rülpsen von sich gab.
„Allerdings wird das wohl nicht allzu ausgiebig ausfallen.", nahm Nedric nun den Gesprächsfaden wieder auf und wandte sich schulterzuckend von Thrain ab, „Es wurden vermehrt Aktivitäten von Orks in der Umgebung beobachtet, Frede und einige andere haben dafür gestimmt, dass man neben der Suche nach den Räubern auch den Schutz des Dorfes nicht vernachlässigen darf."
„Kluger Mann...", rief Elestim, „Sollen sie uns in Ruhe lassen."
„Wir haben gerüstete Elben auf der Straße gesehen.", warf Thrain ein, der tatsächlich bei der Erwähnung der Orks hellhörig geworden war.
Nedric winkte ab, „Die scheren sich keinen Deut um uns. Irgendwo in Mittelerde herrscht Krieg. Ein dunkler Herrscher, ein paar seltsame Reiter und Orks, man hört Gerüchte. Doch was wollen die schon von einem einfachen Dorf."
Marton nickte zustimmend. „Sie werden uns in Ruhe lassen. Sollen die hochwohlgeborenen Könige und Fürsten sich mit ihrem Krieg die Zeit vertreiben und unsere erfolgreichen Geschäfte nicht stören.", fügte er hinzu und hob seinen Kelch. „Auf Faris Karawane und das Kupfer, das er uns freundlicherweise überließ."
Lachend stießen die Schmuggler an. Thrain sah angewidert auf seine Gefährten. Nein, er wollte nicht zu ihnen gehören. Es störte ihn nicht, dass sie tranken und feierten. Er hatte größere Trinkgelage und Feierlichkeiten unter Zwergen erlebt und seinen eigenen Vetter Dwalin schon besoffen unterm Tisch zurückgelassen.
Doch diese respektlose Art den Männern gegenüber, die man für den eigenen Vorteil ermordet hatte, machte ihn sprachlos und erfüllte ihn mit maßlosem Grauen.
Er konnte nicht länger mit diesen Leuten an einem Tisch sitzen und er verfluchte den Tag, an dem er Nedric kennen gelernt hatte.
Abrupt erhob er sich. „Tarl!", sagte Aveon mit deutlichem Lallen, „Wohin gehst du?"
„Schlafen.", erwiderte Thrain kurz angebunden, nickte den anderen zu und verließ dann den Raum. Wenig später lag er auf seiner Schlafstelle ausgestreckt und starrte die Höhlenwand über ihm an, während aus dem vorderen Teil der Höhle der Lärm der Siegesfeier zu ihm hinüber drang.
*Ambossmond
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