Die Herrin des Waldes
Winter 3018/19
Es war Nacht. Hell und klar funkelten die Sterne am dunklen Himmel.
Ihr Licht beschien eine Lichtung inmitten eines Waldes. Das Wispern grünsilberner Blätter lag in der Luft. Hoch aufragend wie die Pfeiler einer gewaltigen Halle waren die Bäume, die die Lichtung umrandeten. Silbern schimmerten ihre Stämme, leuchtend im Sternenschein. Wie machtvolle Wächter standen sie da, ihr Reich und seine Bewohner schon lange beschützend.
Kleine weiße und goldene Blumen bedeckten die Wiese. Wie gefallene Sterne wiegten sie ihre Köpfe in der sanften Brise. Ihr süßer Duft betörte die Sinne.
Langsam schritt Thrain über die Wiese, über die in Wellen der Wind lief. Es schien, als würde er im Nachthimmel wandeln, zwischen leuchtenden Sternen umgeben von den uralten Pfeilern der Welt.
Da wurde er plötzlich einer Gestalt gewahr, ob sie vorher schon da gewesen war, konnte er nicht sagen. Heller leuchtete sie als jeder Stern und jede Blume. Das lange goldene Haar der Frau floss über ihren Rücken, strahlender und kostbarer als jeder Schatz unter der Erde. Reinweiß wie der Schnee war ihr Gewand, das vom Wind bewegt, ihren Körper umspielte. Hoch gewachsen war sie, selbst einem jungen Baum ähnelnd.
Ihr Blick richtete sich auf Thrain, alt waren diese Augen, alt und voll Weisheit. Das Licht der Sterne schien sich darin zu spiegeln. Offen lag plötzlich sein ganzer Geist vor ihr, tief ins Innerste seines Wesens vermochte sie zu blicken.
Eine Hand hob sich ihm entgegen, leuchtete dort ein weiterer Stern an ihrem Finger?
„Willkommen Thrain vom Erebor, Prinz und Sohn des Königs...", hallte eine dunkle Frauenstimme plötzlich um ihn her.
Die Frau vor ihm sagte nichts, doch ein weiches Lächeln umspielte ihre Züge.
„Schicksal führt dich hierher, am Vorabend des Krieges, Thronfolger. Vielen Pfaden folgtest du auf deinen Wanderungen, doch den eigenen Weg hast du verloren."
Mit einem Mal tauchte der einsame Berg vor Thrains Augen auf. Der Erebor erhob sich hinter der Ebene von Thal, groß und prächtig, das mächtigste Königreich der Zwerge Mittelerdes. Laut hallend rief das Horn des Berges.
Der König war zurückgekehrt.
Nach Atem ringend riss Thrain die Augen auf.
Er fühlte, dass er auf Holz lag. Schwach tastete er um sich, während er verwirrt hin und her blickte.
Irritiert sah er sich von Blättern und Zweigen umgeben, die sanft im Licht eines neu aufziehenden Tages wisperten. Scheinbar befand er sich mitten in der Krone eines mächtigen Baumes. Der Untergrund auf dem er geschlafen hatte, war eine breite, hölzerne Plattform, die zwischen die dicksten Äste des Baumes gebaut worden war.
Langsam kehrte seine Erinnerung zurück. Er war durch den Schnee gelaufen, ziellos und voller Kummer. Ira... Der bloße Gedanke zerschnitt ihm das Herz. Irgendwann waren Bäume um ihn herum gewachsen und wie durch Magie war der Winter fort gewesen. Er entsann sich der Blätter, des Mooses und der Farnpflanzen um ihn herum und der drei Elben, denen er begegnet war.
Plötzlich alarmiert setzte er sich in eine aufrechte Position, als eine Stimme hinter ihm erklang.
„Du bist also wach, na endlich."
Thrain drehte den Kopf und sah sich dem gleichen blonden Elben gegenüber, der ihn mit dem Pfeil bedroht hatte. Der Krieger saß im Schneidersitz vor ihm, einer seiner beiden Gefährten ein Stück dahinter, in den Wald hinaus spähend.
„Wo bin ich?", forderte Thrain zu wissen.
Der Elb schnalzte ungnädig mit der Zunge und kam dem Zwerg ein Stück näher.
„Ich stelle hier die Fragen.", sagte er kühl und musterte Thrain misstrauisch.
Ruhig erwiderte der Zwerg den Blick des Elben. Dieser fragte schließlich: „Wie ist dein Name? Was suchst du hier in unserem Land?"
Angesichts der Tatsache, dass sein Gegenüber bewaffnet war, zumindest einer seiner beiden Begleiter auch anwesend war und Thrain feststellte, dass man ihm seine Waffen entwendet hatte, entschloss er sich, zu antworten: „Mein Name ist Tarl. Ich bin Schmied und verfolgte eine Bande Orks, die meine Freunde gefangen genommen hatte. Doch ich verlor ihre Spur vor Tagen."
Ihm gefiel es nicht, ausgefragt zu werden. „Wo sind meine Waffen?", verlangte er zu wissen, „Und wer seid ihr, dass ihr es wagt, mich festzuhalten?"
Mit aller Seelenruhe erwiderte der Blonde, „Du hast die Grenze des goldenen Waldes von Lothlorien erreicht, das Reich der Herrin Galadriel und des Herrn Celeborn. Kein Fremder dringt ohne unsere Erlaubnis in dieses Reich ein, sei er Ork, Mensch oder Zwerg."
„Und ihr seid wohl der Lakai eurer Herrin?", knurrte Thrain spitz.
Mit einer plötzlichen Bewegung beugte sich der Elb über ihn und eine Messerklinge drückte sich an Thrains Hals.
„Ich empfehle dir, mehr Respekt zu zeigen, Tarl.", fauchte er leise und mit deutlicher Drohung in der Stimme, „Spätestens, wenn du vor meine Herrin trittst. Mein Name, Herr Zwerg, ist Haldir, dies hier ist mein Bruder Orophin und Rúmil, unser jüngster Bruder, ist eben auf Jagd. Wir bewachen die Grenze dieses Landes."
„Hört zu,", erwiderte Thrain, „ich habe nicht vor, mich hier lange aufzuhalten. Gebt mir meine Waffen zurück und ich werde wieder meiner Wege gehen."
Haldir setzte sich wieder hin und blickte auf Thrains Ausrüstung.
„Wenn du wünschst die Orks zu verfolgen, so lass dir gesagt sein, dass wir vor wenigen Tagen eine große Bande Orks nach Südosten ziehen sahen. Sie überquerten den großen Strom nördlich unserer Lande. Längst sind sie außerhalb unserer und deiner Reichweite.", erwiderte er.
Mit einem leisen Stöhnen vergrub Thrain das Gesicht in den Händen. Es tut mir so leid, Ira, dachte er voll Unglück und Kummer. Er hatte sie endgültig und unwiderbringlich verloren.
„Aber dich gehen zu lassen, liegt nicht in meiner Entscheidung.", fuhr Haldir fort, „Wir haben Befehl, Fremde nicht weiter gehen zu lassen. Mit Zwergen hatten wir seit langer Zeit hier keinen Kontakt mehr, nicht mehr seit den dunklen Tagen der großen Kriege..."
Sein Blick wanderte voll Misstrauen über Thrains abgerissene Gestalt.
„Wir werden dich vor unsere Herrin Galadriel führen. Sie solle entscheiden, was mit dir zu geschehen hat.", schloss Haldir und erhob sich.
„Ich habe nicht vor, mich wie ein Gefangener vorführen zu lassen!", erboste sich Thrain und stand ebenfalls auf, bereit zu kämpfen. Doch plötzlich erschien der dritte Bruder wie aus dem Nichts hinter ihm und kräftige Hände packten Thrains Schultern. Wütend versuchte Thrain sich zu wehren.
Haldir baute sich vor ihm auf, eine Augenbinde in der Hand.
„Du bist uns unterlegen, Tarl, und unbewaffnet.", stellte er kalt fest, „Jeder Fremde, der Lothlorien betritt, wird mit verbundenen Augen durch unser Land geführt. So will es unser Gesetz. Die Wahl obliegt dir, ob du dies auch noch mit gefesselten Händen tun willst."
Zornig funkelte Thrain den überheblichen Elben an. Lange schwiegen sie und starrten einander in die Augen. Dann, mit zornigem Grollen, ergab sich Thrain in sein Schicksal.
Haldir band ihm eine schwere Stoffbinde über die Augen. „Orophin wird dich führen.", erklärte er mit gelangweilter Stimme, „Rumil nimmt deine Ausrüstung."
„Wie soll ich bitte so von diesem Baum runter kommen?", beschwerte sich Thrain mürrisch, „Sicher nicht lasse ich mich tragen. Und wer garantiert mir, dass euer Bruder mich nicht gegen den nächstbesten Baum laufen lässt?"
Eine deutlich sanftere und etwas höhere Stimme schaltete sich da ein. „Ich werde euch nicht stolpern lassen, Herr Zwerg. Sicher und ruhig sollt ihr von mir geführt werden."
Eine weiche Hand senkte sich auf seine Schulter und drehte Thrain mit sanftem, aber bestimmtem Druck herum.
„Zwei Schritte nach vorne, da beginnt die Strickleiter.", erklang Orophins melodische Stimme leise neben seinem Ohr, „Lass mich erklären, wie du hinunter kommst."
Tatsächlich gelang dem geduldigen Elben das Kunststück, Thrain mit seinen Anweisungen die Leiter hinab zum Waldboden zu dirigieren.
Leise raschelte der Untergrund zu Thrains Füßen, als er den Boden betrat. Leise hörte er, wie die drei Brüder neben ihm aufkamen, dann senkte sich Orophins Hand erneut auf seine Schulter. Leicht wurde er nach vorne geschoben, als die Elben sich in Bewegung setzten.
Seines Sehsinnes beraubt blieb Thrain nichts anderes übrig, als sich auf Orophins Führung zu verlassen. Anfangs verspannt rechnete er ständig damit, unsanft mit einem Baum zu kollidieren, auszurutschen oder über eine Wurzel zu stolpern. Doch nicht mal Zweige streiften ihn im Gesicht. Wie er versprochen hatte, führte der Elb ihn ohne Fehl. Thrains Argwohn ließ nach und er vertraute schließlich Orophins Führung.
Es schien ihm, als wären seine anderen Sinne deutlich geschärfter, nun, da er nichts mehr sehen konnte.
Tief atmete er ein, schmeckte den Wald um sich her, der so voller Leben war, trotz des Winters. Tatsächlich schien der Winter hier keinerlei Macht zu haben. Welch Zauber machte dies möglich? Welche Macht herrschte über diesen Wald, dass sie ewiges Leben hier ermöglichte und dem tiefen Schlaf des Winters Einhalt gebieten konnte?
Der dunkle Geruch von Erde war allgegenwärtig. Doch er mischte sich auch mit dem Duft von Holz, jungen Baumstämmen und uralten Riesen des Waldes, die ihre Zweige gen Himmel reckten. Das harzige Aroma stieg Thrain in die Nase. Man konnte den frischen Duft ihrer grünen Blätter förmlich schmecken, der sich lieblich in der Luft ausbreitete. Nach feuchtem Moss und dem Wasser munter plätschernder Bäche roch es und hin und wieder mischte sich die lieblich süße Note von Blumen dazwischen.
Sanft raschelte der Wind durch die Blätter, fast liebkosend bewegte er Äste und Zweige hin und her. Leise knarzte das Holz bei seiner Bewegung. Hin und wieder näherte sich das flüsternde Plätschern kleiner Bachläufe. Thrain meinte, das Keckern von Tieren zu hören, die im Dickicht verschwanden. Vogelrufe hallten durch den Wald, als wäre es schönster Frühling.
Die Stimme Rumils riss Thrain aus den wunderbaren Sinneseindrücken.
„Wir hätten den Zwerg einfach wieder fortschicken sollen.", murrte der Elb. Er sprach Sindarin, nicht wissend, dass Thrain jedes Wort verstand. „Warum machen wir uns die Mühe und bringen ihn zur Herrin? Er wird die Ehre nicht zu schätzen wissen und vermutlich eh nur seiner Weg ziehen!", fuhr Rumil genervt fort.
Thrains Mundwinkel zuckten amüsiert. Wie groß war die Versuchung, Rumil auf Sindarin eine passende Antwort zu geben. Immerhin beherrschte er die Sprache fließend, auch wenn er einen recht harten Akzent hatte, ein Zugeständnis an die Sprache seines Vaters.
„Es ist der Wunsch der Herrin Galadriel, dass Fremde zu ihr geführt werden.", beschied Haldir seinen jüngeren Bruder, „Und auch wenn wir alle besseres zu tun haben, als einen zwergischen Trampel durch unseren Wald zu führen, so ist es ihr Befehl."
Thrain biss sich mühsam auf die Zunge, blieb aber still. Eine Weile sollte er die Tatsache, dass er Sindarin sprach, noch für sich behalten.
Es kehrte wieder Ruhe ein, während sie weiter durch den Wald schritten.
Plötzlich fiel Sonnenlicht auf sie hinab. Scheinbar waren die Bäume zurückgewichen und sie entweder am Rande des Waldes oder auf einer Lichtung.
„Meine Herrin!", erklang da Haldirs überraschte Stimme neben Thrain.
„Nehmt dem Zwerg die Augenbinde ab. Ich wünsche mit ihm zu sprechen.", antwortete eine dunkle Frauenstimme. Leise sprach sie, doch solche Autorität und Macht lag in ihren Worten, dass es Thrain schauderte.
Binnen Augenblicken wurde er von dem Verband befreit, der ihm die Sicht nahm. Geblendet blinzelte er im hellen Tageslicht.
Wie schon vermutet stand er am Rande einer Lichtung. Im hellen Sonnenlicht leuchtete das wunderbar weiche grüne Gras, das sich zu seinen Füßen in der Brise wellte. Kleine weiße und goldene Blumen wuchsen hier. Bei Tag erschienen sie Thrain wie kleine Diamanten und Edelsteine, die aus der Erde heraus gewachsen waren.
Hohe Bäume mit silbernen Stämmen umstellten die Lichtung, ihre silbergrünen Blätter und wiegten sich wispernd im Wind. Selbst mit seinen durch das zwergische Blut abgestumpften elbischen Sinnen konnte er das Leben und die Kraft spüren, die den Bäumen inne wohnte. Es fühlte sich an, als wäre er von einem unsichtbaren Pulsieren grüner, silberner und goldener Farbe umgeben. Die Magie, die über diesem Ort lag, hinterließ ein Kribbeln auf Thrains Haut.
Viele Waldlichtungen hatte er in seinem Leben gesehen und doch schien es nun, als würde er zum ersten Mal eine Lichtung richtig sehen können. Als hätte man einen Schleier vor seinen Augen weg gezogen. Alles wirkte klarer, frischer und lebendiger.
An der Seite der Lichtung erhob sich ein baumloser, gras- und blumenbedeckter Hügel, so hoch, dass man von oben aus sicher über die Bäume hinweg gucken konnte.
Doch das wahre Wunder dieser Lichtung, das alles andere in den Schatten stellte, stand am Fuße dieser Erhebung.
Eine Frau stand dort. Ein silbergrauer Mantel fiel über ihre Schultern bis hinab zu ihren bloßen Füßen. Darunter strahlte der schneeweiße Stoff eines Kleides hervor, so hell, dass Thrain kaum hinsehen konnte. Ihr goldenes Haar floss in eleganten Flechten über ihren Rücken und um ihre Schläfen wand sich ein Kranz aus eben jenen goldgelben Blüten, die zu ihren Füßen wuchsen. Ihr leuchtender Blick fiel auf den Zwerg und mit einem Mal fühlte Thrain sich nackt und wehrlos. Ihm wurde klar, dass er mit all seiner Kampfkunst keinerlei Chance gegen die Macht dieser Elbenfürstin hatte.
Mit einem leichten Winken gebot Galadriel, Herrin des goldenen Waldes Lothlorien, Thrain näher zu treten.
Dieser zögerte, plötzlich befangen. Doch da spürte er schon den bestimmten Druck Orophins in seinem Rücken und langsam ging er auf die Elbin zu.
Schließlich blieb er vor ihr stehen und instinktiv sank er in eine tiefe Verbeugung.
„Begleite mich.", sagte Galadriel sanft. Wieder aufschauend sah Thrain, wie sie sich dem Hügel zuwandte und langsam begann, diesen zu besteigen.
Schweigend folgte Thrain ihr, während sie ihn hoch zum Gipfel dieses Hügels führte, weg von den drei Elben, die ihn hergeführt hatten.
Wie er vermutet hatte, konnte er von hier oben über große Teile des Waldes blicken. Doch anstatt die Aussicht zu bewundern, wandte er sich der Elbin zu, die mit ihrem wissenden Blick auf ihn hinab sah.
„Weit gewandert bist du, Thrain, Thorins Sohn.", sagte sie leise, „Auf verschlungenen Pfaden hat dich dein Schicksal hier her nach Lothlorien geführt."
Schockiert sah Thrain sie an. Woher kannte sie seinen wahren Namen? Nie hatte er diese Frau gesehen, nie waren er oder seine Familie bis in dieses abgelegene Elbenreich gereist. Auch kamen Elben, die den Erebor besuchten, meist aus dem Düsterwald. Er selbst erkannte ja kaum mehr den Prinzen, der er einst gewesen war, wenn er sein eigenes Spiegelbild betrachtete.
„Woher...?", fragte er stockend, „Woher wisst ihr meinen Namen, Herrin?"
Galadriel lächelte warm und ihre Augen funkelte amüsiert.
„Manche der Weisen vermögen bis auf das Herz zu schauen. Erscheinung und Aussehen mag viele täuschen, Thrain. Doch ich erblicke dein Herz und das ist noch immer das eines Prinzen und großen Mannes.", erwiderte sie.
Zittrig holte Thrain Luft. Ihre Worte trafen ihn tief, rissen nur leicht verheilte Wunden auf. Ein großer Mann... Lange war es her, dass er sich das letzte Mal so bezeichnet hätte. Prinz und Thronfolger, dessen war nicht mehr würdig. Zu einem Verbrecher und Schmuggler war er geworden, ohne Ziel, ohne Heimat. Mit einem Mal um Beherrschung ringend, presste er die Kiefer aufeinander. Er sah den Erebor vor sich, seine Familie, den Arkenstein und die Rabenkrone seines Vaters.
„Ihr irrt euch.", sagte er leise mit einer Stimme, die er fast nicht wieder erkannte. Plötzlicher Schmerz verengte seine Kehle, „Ich bin Tarl, ein einfacher Zwerg ohne Heimat. Thrain gehört einem anderen Leben an."
Galadriel legte eine Hand unter sein Kinn und drehte sanft seinen Kopf herum, zwang ihn, zu ihr zu schauen.
„Tarl ist die Maske, die dir zur Gewohnheit wurde, um andere zu täuschen und auch, um dich vor dir selbst zu verstecken.", antwortete sie schlicht.
Schweigen kehrte ein. Zitternd erwiderte Thrain ihren Blick. Noch nie hatte er sich so hilflos und ausgeliefert gefühlt. Die Augen der Elbin leuchteten förmlich durch ihn hindurch, kein Gedanke, kein Gefühl blieb ihrem wissenden Blick verborgen. Klein und nackt stand er vor ihr. Und er schämte sich so sehr für sich selbst. Die Güte, die sie ausstrahlte, verstand er nicht.
Da sah er mit einem Mal erneut die Rabenkrone vor sich. In der Dunkelheit funkelnd lag sie auf einem Grabmal, dem Grab seines Vaters. Doch mit einem Mal verhüllten Flammen das Bild, leckten Feuerzungen über das Metall, zerstörten die Krone. Keine Krone mehr... Kein Thron, den es zu besteigen galt... Er war frei.
Am ganzen Körper bebend wandte er schließlich den Kopf ab, er konnte den Blick ihrer Augen nicht mehr ertragen. Fest schloss er die eigenen Augen, wie um die Bilder, die vor seinem Geist entstanden waren, zu verdrängen.
Blinzelnd öffnete er sie wieder und sah hinaus auf den Wald, der sich um sie her ausbreitete. Lange kämpfte er um seine Beherrschung, spürte das Toben der Gefühle in sich, Angst, Trauer, Zorn, Einsamkeit, Scham... Sein Blick glitt über die Bäume vor ihm, ohne sie richtig zu sehen, während er konzentriert ein und aus atmete.
Schließlich, vor allem, um das Thema zu wechseln und so auf andere Gedanken zu kommen, fragte er, mittlerweile fast wieder Herr seiner eigenen Stimme: „Bin ich nun Gefangener der Elben?"
Galadriel lachte leise, jedoch lag eine Spur von Trauer in diesem Geräusch.
„Ist das Misstrauen zwischen unseren Völkern immer noch so groß? Vertraust du dem Volk, dessen Blut auch in deinen Adern fließt, so wenig?", fragte sie und sah auf ihn hinab.
Thrain zog die Augenbrauen in die Höhe. „Ihr lasst Fremde mit verbunden Augen wie Gefangene durch dieses Land führen.", erwiderte er mit leisem Vorwurf.
Die Elbin seufzte und nickte. „Eine Vorsichtsmaßnahme... Und ja, auch wir sollten wieder lernen, zu vertrauen. Aber sei dir gewiss, Thrain, einen Gefangenen hätten Haldir und seine Brüder nicht so sicher geleitet."
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, Thrain, du bist kein Gefangener. Es steht dir frei, zu gehen, wo auch immer dein Herz dich hin führt.", sagte sie schließlich.
Wohin sein Herz ihn führte...
Thrains Blick wanderte wieder hinüber zu der Aussicht, die sich vor ihnen erstreckte und zu der Welt außerhalb der Grenzen Lothloriens, die unter dem weiß-grauen Herbstnebel verborgen lag. Wohin sollte er gehen? Welches Ziel hatte er überhaupt noch? Er war der großen, weiten Welt überdrüssig geworden. Vor einem Jahr hätte ihn die Fremde noch gelockt, da wäre er jetzt freudig nach Süden aufgebrochen, hätte Rohan besucht und wäre bis an die südlichen Meeresküsten Gondors gewandert. Aber all dies hatte keinen Reiz mehr für ihn. Verloren und orientierungslos fühlte er sich, stand dort auf dem Hügel und wusste nicht, in welche Richtung er seinen Blick wenden sollte.
Eines jedoch gab es, was ihm noch Antrieb verleihen könnte. Ira... Sein Herz verkrampfte sich vor Sorge um sie. Doch wo war sie? Laut Haldir war die Orkmeute nach Südosten gezogen und hatte bereits den Anduin überquert. Weit weg von ihm waren sie nun, außer seiner Reichweite. Keinen Hinweis hatte er, wohin sie sich nach der Flussüberquerung gewendet hatten. Überall konnten sie nun sein. Würde er ihre Fährte überhaupt aufnehmen können? Gequält schloss er die Augen. Er hatte Ira verloren, Ira und die anderen. Kein Waldläufer war er, der noch nach Tagen und Wochen oder gar Monaten Spuren auffinden konnte. Irgendwo im weiten Mittelerde war seine Ira nun und er wusste nicht, wie er sie jemals wieder finden sollte. Er hatte versagt.
„Sorgen quälen dich.", sagte Galadriel leise, „Sorgen, um die Frau, die du liebst, und um deine Freunde."
Wortlos nickte Thrain. Sollte er wider aller Hoffnung aufbrechen und versuchen, die Spur der Orks in dem aufziehenden Winter wieder zu finden?
Eine sanfte Hand berührte ihn da an der Schulter. Langsam hob er den Blick und sah in Galadriels ernstes Gesicht.
„Ich sehe keinen Schatten auf Iras Pfad.", sagte sie leise.
Erstaunt starrte der Zwerg die Elbin an. „Wisst ihr, wo sie ist?", fragte er flüsternd. Vielleicht konnte er Ira doch noch finden!
Doch Galadriel schüttelte den Kopf. „Das vermag selbst ich nicht zu sagen. Ich fühle nur, dass sie bereits weit weg von den Grenzen dieses Reiches ist und, dass der Schatten, der auf ihr lag, nicht von Dauer ist.", erwiderte sie.
Thrain nickte. Eine seltsam widersprüchliche Mischung an Gefühlen erfüllte ihn. Das Herz sank ihm, bei dem Gedanken, dass er Ira wohl nie wieder sehen würde, wenn selbst Galadriel ihm keinen Hinweis geben konnte. Doch gleichzeitig fühlte er sich erleichtert, denn Ira war in keiner Gefahr, vielleicht war sie ja entkommen?
Wieder schwiegen sie.
Dann brach Galadriel die Stille.
„Wohin wirst du dich also nun wenden, Thrain, Thorins Sohn?", fragte sie ihn.
Thrain hob die Schultern. „Ich weiß es nicht.", erwiderte er wahrheitsgemäß, „Alle Orientierung habe ich verloren."
„Dann bleibe hier in Lothlorien, als Gast der Elben.", sagte Galadriel und überrascht blinzelnd erwiderte Thrain ihren Blick. „Winter zieht auf und so manchem müdem Wanderer hat Lothlorien nicht nur Ruhe sondern auch Erholung und Heilung von Schmerz geschenkt. Bleib bei uns Thrain und vergiss all den Schmerz und das Unglück. Hier kann dein Herz wieder Frieden finden, bis du deinen Weg erneut klar vor dir siehst."
Und mit einem Mal schien es Thrain bereits, als würde etwas Ruhe in ihm einkehren und er nickte. Müde war er des Wanderns und Umherziehens geworden. Hier würde er ausruhen können und sich wieder besinnen.
Langsam nickte er. „Habt Dank Herrin.", nahm er das Angebot an.
Sanft legte Galadriel eine Hand an seinen Rücken und drehte ihn herum, sodass er in eine andere Richtung als bisher blickte. Dort erhob sich, noch ein Stück entfernt, ein grüner Hügel aus dem Wald und auf ihm thronte eine Stadt aus Bäumen.
„Caras Galadhon.", verkündete Galadriel, "Dort sollst du bei uns wohnen und Kraft schöpfen nach langen Entbehrungen."
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