Die Gemeinschaft des Ringes
Die Tage gingen ins Land und bald war Thrain wieder kräftig genug, um aus der Pflege Galadriels entlassen zu werden. Er bezog wieder seine kleine Hütte am Rande von Caras Galadhon und nahm sein Schmiedehandwerk wieder auf.
Fürs Erste blieb er den Kämpfen an der Grenze und auch den Trainingseinheiten der Elben fern, denn sein Körper war noch nicht völlig genesen. Vorsichtig widmete er sich einfachen Übungen, die er mehrmals täglich durchführte, um sich langsam wieder zu stärken. Er wusste, dass es nach einer schweren Verletzung wichtig war, nach und nach wieder mit dem Training zu beginnen. Dies war eine der ersten Lektionen bei den Steinbärten gewesen.
Langweilig wurde ihm jedoch nicht. Wenn er nicht seine Übungen machte oder kleine Schmiedearbeiten erledigte, gingen seine Gedanken auf Wanderschaft.
Die Bilder, die er in Galadriels Spiegel gesehen hatte, standen ihm dabei lebhaft vor Augen. Jedes Mal, wenn er daran dachte, stieg eine seltsame Mischung aus Gefühlen in ihm auf. Da war tiefe Liebe und Dankbarkeit, wenn er an seine Familie dachte, Sehnsucht, vermisste er sie doch alle so sehr, aber auch Unsicherheit und Verbitterung. Einen tiefen Graben hatte er zwischen ihnen geschlagen. Das Verhältnis zu seinen Eltern und Geschwistern war zerrüttet. Und wenn er ganz ehrlich zu sich war, in den stillen Abendstunden, wenn er vor seinem Haus auf der Wiese saß, ganz für sich allein, so hatte er riesige Angst vor der Heimkehr.
Wie würden sie reagieren? Was würde sein Vater sagen? Er sehnte sich die Vergebung Thorins herbei! Was würde er nicht für ein Gespräch mit ihm geben! So viel gab es, was er ihm berichten wollte, so viel, was in den letzten Monaten passiert war! Doch, würde Thorin ihn überhaupt noch als Sohn willkommen heißen?
Und seine Mutter... Wie schön es wäre, von ihr wieder in den Arm genommen zu werden, ihrer warmen Stimme zu lauschen, wenn sie ihm Ratschläge gab. Aber würde sie ihm überhaupt verzeihen? Ihm, dem treulosen Sohn, der zu einem Verbrecher und Mörder geworden war?
Er war seinen Eltern kein guter Sohn gewesen. Seine Geschwister waren da viel bessere Kinder. Das Herz zog sich schmerzhaft zusammen, als er darüber nachgrübelte, wie sie über ihn denken mussten. Frerin war nun an seine Stelle getreten und Thrain konnte nur erahnen, was das mit seinem Bruder gemacht hatte.
Thrain hatte Heimweh. Nachts träumte er vom einsamen Berg, sah seine Geschwister und Eltern vor sich. Doch unglaubliche Angst und schlechtes Gewissen quälten ihn, sodass er sich Gedanken über eine Heimkehr verbot.
Es war eben Abend geworden und Thrain hatte sich mit einem einfachen Mahl zu Tisch gesetzt, als er vor der Tür Stimmen hörte.
„Tarl!" „Bist du zuhause?"
Jemand klopfte an seine Tür und der Zwerg erhob sich, um sie zu öffnen.
Lenya und Orophin standen vor dem Haus und sahen ihn an.
„Lenya! Orophin!", rief Thrain aus, „Wie schön, euch beide zu sehen! Was verschafft mir die Ehre?"
„Dürfen wir reinkommen?", fragte Orophin und sofort trat Thrain beiseite, um beide einzulassen.
„Bitte, setzte euch.", sagte er und wies zum Tisch, „Wollt ihr etwas essen?"
„Danke nein.", erwiderte Lenya und ließ sich grazil auf einen der Stühle sinken, „Wir werden auch nicht sehr lange bleiben können."
Mit hochgezogenen Brauen setzte Thrain sich zu den beiden und zog seinen Teller mit gegrilltem Käse und Speck zu sich heran.
„Warum das?", fragte er.
„Wir brechen heute Nacht wieder zur Grenze auf.", erklärte Lenya, „Ich werde an die Nordgrenze geschickt, Orophin nach Westen. Seine beiden Brüder sind schon dort."
„Ah...", machte Thrain verstehend und senkte den Blick. Nicht zum ersten Mal war er sich der Wunde in seinem Gesicht schmerzlich bewusst. Sie waren hier, um sich zu verabschieden. Genervt strich er sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Noch waren die Haare bei weitem nicht lang genug, um wieder zu einem Zopf nach hinten gefasst zu werden.
„Wann werdet ihr wieder hier sein?", fragte er.
Orophin zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht.", sagte er, „Die Kämpfe nehmen wieder zu. Ich glaube, man will so viele Krieger wie möglich an den Grenzen haben. Es kann sein, dass wir für einige Zeit gar nicht zurück dürfen."
Ohne sich dessen bewusst zu sein, hob Thrain die Hand und tastete über die wulstige Narbe an seiner Wange und Nasenrücken. Die Wunde war verhältnismäßig gut verheilt und würde sich wohl noch weiter zurückbilden. Doch sie würde immer bleiben und im Moment hielt sie ihn vom Kämpfen ab.
„Ich würde gerne mit euch gehen und kämpfen.", brummte er missmutig.
Sanft legte Lenya eine Hand auf seinen Unterarm. „Du bist noch immer verwundet, Tarl.", meinte sie warmherzig, „Erhole dich weiter und komme zu Kräften. Dann wirst du bestimmt bald nachkommen können."
Sie schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, doch so wirklich leichter wurde es Thrain dadurch nicht ums Herz.
„Warum die Westgrenze?", fragte er Orophin, um sich von seinen trüben Gedanken, dass er noch nicht kämpfen konnte, abzulenken.
Der Elb blickte mit einem Mal besorgt. „Seltsame Dinge wurden am Rande des Nebelgebirges beobachtet.", antwortete er, „Doch mittlerweile werden wir von fast allen Seiten angegriffen. Da wundert es mich nicht, dass nun auch die Posten im Westen verstärkt werden."
„Was ist mit den Truppen aus Imladris?", hakte Thrain weiter nach, „Hat Haldir Nachricht bekommen."
Orophin nickte, „Tatsächlich werden Elben von dort aufbrechen, unter der Führung von Arrian, der Verlobten meines Bruders. Sie werden sich unserem Kampf anschließen."
Lenya fröstelte und schlang die Arme um sich.
Beide Männer sahen zu ihr hinüber. Die Elbin presste unglücklich die Lippen aufeinander. „Dunkelheit liegt über Mittelerde und fast überall herrscht Krieg. Ich weiß nicht, wie lange wir hier noch sicher sein werden oder ob auch Caras Galadhon brennen wird.", sagte sie fast flüsternd. Sie sah zu ihnen, die Augen voller Angst. „Ich wurde hier geboren, ich kenne keine andere Heimat. Selbst, wenn wir diesen Krieg überleben, wird danach nichts mehr so sein, wie vorher. Die Länder und Städte, die wir kennen, werden zerstört sein, Freunde und Verwandte werden nicht mehr sein und so vieles wird verschwinden, was schön und gut war..."
Ihre Stimme verklang und Schweigen kehrte ein. Dann sprach Lenya leise: „Ich habe Angst."
Nachdem nun auch die letzten seiner Freunde an die Grenzen gezogen waren, um ihre Heimat zu verteidigen, kehrte bei Thrain wieder die Langeweile ein.
Es gab nicht viel, was er tun konnte. Den Tag vertrieb er sich mit seinen Kampfübungen, um wieder fit zu werden, einfachen Schmiedearbeiten, langen Spaziergängen in Caras Galadhon und Besuchen in der Bibliothek, wo er nach neuer Lektüre stöberte.
Und er hielt die Ohren offen, nach jeder Neuigkeit, die er von der Grenze hörte. Gerüchte machten in Caras Galadhon die Runde. Gerüchte vom Krieg im Süden und Norden Mittelerdes, Erzählungen von schweren Kämpfen an der Grenze und Geflüster von seltsamen Geschehnissen an der Westgrenze. Man hatte ein geheimnisvolles Geschöpf dort des Nachts gesehen, aber nie fangen können, eine Gruppe Fremder war von den Wachen aufgegriffen worden, die nun als Gäste in Lorien weilten.
Das weckte Neugier in Thrain, der bisher der einzige Fremde im Elbenreich gewesen war. Wer waren diese Leute, die man auf Galadriels Geheiß über die Grenze gelassen hatte? Er vermutete, dass er sie früher oder später sehen würde. Vielleicht erfuhr er dann auch, was es mit ihnen auf sich hatte.
Seiner Routine folgend verbrachte Thrain ruhige Tage in Caras Galadhon und wartete. Worauf er wartete, das wusste er selbst nicht so recht.
Es war der Morgen eines klaren Wintertages, als Thrain zu einem langen Spaziergang durch die Elbenstadt aufbrach. Das Licht der Sonne fiel klar und rein durch das Blätterdach und ließ die weißen Stämme der Mallornbäume leuchten. Kühl war es am Morgen, sodass Thrain sich einen wärmenden Mantel umlegte, als er sein Haus verließ.
In Gedanken versunken folgte er einer der Straßen durch die Stadt, mit halbem Ohr lauschte er den Gesängen, die nun seit einigen Tagen ununterbrochen in der Luft lagen. Nur wenig verstand er vom Text, es schienen Trauergesänge zu sein. Es verwunderte ihn kaum, schließlich war auch hier in Lothlorien nun der Krieg angekommen und so manche Elben waren an der Grenze bereits gefallen.
Gemütlich schlendernd verließ er den Bereich, in dem die meisten Elben ihre Häuser errichtet hatte und näherte sich den Gärten. Die Musik wurde leiser, bis sie nur ein schwaches Geräusch aus der Ferne zu sein schien. Hier rauschte der Wind in den Bäumen, säuselte in den Blättern, die raschelnd in der Brise tanzten. Murmelnd und gluckernd wanden sich kleine Bäche um die Wurzeln der mächtigen Mallorns und begleiteten die Wege, die von der Stadt weg führten.
Weiße und goldene Blumen schmückten die Wiesen zu Füßen der Bäume, zusammen mit vielen anderen Pflanzen, die die Elben hier hegten und pflegten. Wohlig seufzend ließ Thrain sich auf einer Bank nieder und schloss für einen Moment die Augen, während er sich ganz in den Geräuschen des Waldes verlor.
„Pippin! Lauf nicht zu weit weg!"
Thrain riss die Augen auf und drehte suchend den Kopf hin und her.
„Es ist okay, Boromir. Hier kann ihnen nichts passieren.", ertönte nun eine andere Stimme.
Die Rufe kamen von links. Rasch erhob Thrain sich. Er hatte wenig Lust, sich unterhalten zu müssen. Direkt hinter der Bank wuchs dichtes Gebüsch mit kleinen rötlichen Blüten. Kurzerhand suchte der Zwerg dahinter Schutz und spähte zwischen den kleinen Zweigen hindurch in die Richtung, aus der die Stimmen gekommen waren.
Und kaum, dass er verborgen war, tauchte eine Gruppe auf dem Weg auf und kam auf ihn zugelaufen.
Mit angehaltenem Atem beobachtete Thrain sie. Es war eine bunt gemischte Truppe, die sich ihm da näherte.
Vorne weg liefen zwei junge Männer in bunter Kleidung mit dunklem gelocktem Haar. Staunend sahen sie sich um, verschlangen ihre faszinierende Umgebung schier mit Blick. Nur mit größter Anstrengung schienen sie sich davon abhalten zu können, den Weg zu verlassen, um den Wald um sie her zu erkunden. Sie waren klein, stellte Thrain verwundert fest, kleiner als er selbst. Da erblickte er ihre nackten, beharrten Füße. Hobbits! Das waren Hobbits, so wie Bilbo Beutlin, der Held der Schlacht der fünf Heere, der Meisterdieb und Freund seiner Eltern.
Hinter den beiden Hobbits lief ein braunhaariger Mann in der Kleidung eines Edelmannes, sein noch etwas misstrauischer Blick folgte den zwei vor ihm und seine Finger spielten nervös mit einem Signalhorn, das er um die Hüfte trug.
Ihm folgte ein weiterer Mensch mit schwarzem Haar, in deutlich weniger elegante und bereits mehrfach geflickte Gewandung gekleidet. Ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen, während er seinen Gefährten folgte. Er strahlte eine unbewusste Autorität aus und sofort wusste Thrain, dass dieser Mann der Anführer der Gruppe war.
Zu seinen Seiten liefen zwei weitere Hobbits, sich leise unterhaltend. Der blonde der beiden, sah sich immer wieder mit offen stehendem Mund um, deutete auf dieses und jenes und machte seinen schwarzhaarigen Gefährten begeistert auf verschiedenes aufmerksam.
Den Abschluss der Gruppe machten ein blonder Elb in der grünen Kleidung, die Thrain von den Elben des Düsterwaldes kannte, und... Gimli!
Fast wäre Thrain ein Laut der Überraschung entfahren, als er seinen Freund und ehemaligen Mentor da den Weg entlang kommen sah.
Täuschte er sich etwa? War das ein Trugbild?
Doch nein! Jeder Zweifel war ausgeschlossen.
Dieser rothaarige Zwerg, der seinen Blick überwältigt umher schweifen ließ und mit dem Elben neben ihm diskutierte, war Gimli.
Etwas eiskaltes schien sich in Thrains Magen auszuleeren. Sie hatten einander das letzte Mal gesehen, als er noch im Erebor geweilt hatte, nur wenige Tage vor dem verhängnisvollen Streit mit seinem Vater.
Keinen Abschied hatte es gegeben, keine erklärenden Worte. Von einem Moment auf den nächsten war er verschwunden aus dem Leben seiner Familie und seiner Freunde. Was sie sich gedacht haben mochten?
Und... Was würde Gimli jetzt sagen, wenn er ihn hier sehen würde? Seiner Heimat den Rücken gekehrt, so sehr verändert mittlerweile, dass er sich selbst zeitweise nicht wieder erkannt hatte, während in Mittelerde ein Krieg tobte und er sich hier versteckt hielt. Scham überkam Thrain, dessen Blick wie gebannt auf dem Freund lag.
Mittlerweile waren die zwei ersten Hobbits schon an ihm vorbei gelaufen und die beiden Menschen waren nun nahe bei ihm.
Es wäre besser, wenn er sich ihnen nicht zu erkennen gab, dachte Thrain. Sobald die Gruppe vorbei war, konnte er zurück zu seinem Haus gehen und einer Begegnung mit Gimli aus dem Weg gehen. Sich reichlich unwohl fühlend verlagerte er sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen und plötzlich knackte ein Zweig unter seinen Stiefeln.
Die Köpfe der beiden Menschen und des Elben wirbelten herum. „Wer da!", rief der schwarzhaarige Mann und er fixierte das Gebüsch, in dem Thrain sich verborgen hielt. Für einen wahnwitzigen Moment überlegte Thrain, einfach stehen zu bleiben.
„Da steht ein Zwerg.", mischte sich der Elb ein.
Mit einem leisen Seufzer trat Thrain aus dem Gebüsch hervor und ging auf den Weg zu, die staunenden und fragenden Blicke aller aus der Gruppe auf ihn gerichtet. Er vermied es, zu Gimli zu sehen.
Nun würde sich zeigen, was über ein Jahr Maskerade als Tarl, der fahrende Zwerg, gebracht hatten.
„Wer seid ihr?", fragte der blonde Hobbit mit überraschend scharfer Stimme. Schützend hatte er sich vor seinen schwarzhaarigen Begleiter geschoben. Die beiden anderen Hobbits wirkten eher neugierig als misstrauisch. Zu Elb und Zwerg sah Thrain gar nicht hinüber. Sein Blick ruhte auf den beiden Menschen, die ihn mit einer Mischung aus Verwunderung und einer Vorsicht ansahen, die aus mehreren Monaten des Krieges entstanden war.
„Ihr müsst in der Gunst der Herrin stehen, wenn ihr im goldenen Wald weilt.", richtete nun der schwarzhaarige Mann, den Thrain als den Anführer vermutet hatte, „Wir wussten nicht, dass ein weiterer Zwerg in Lothlorien lebt."
Mit vor der Brust verschränkten Armen blieb Thrain vor der Gruppe stehen.
„Mein Name ist Tarl.", erwiderte er ruhig, „Die Herrin Galadriel erlaubte mir, mich in dieser Stadt von meiner langen Reise auszuruhen."
„Habt ihr auf euren Reisen diese Wunde erlitten?", fragte einer der beiden Hobbits, die eben noch so eilig vor der Gruppe hergelaufen waren.
„Pippin!", zischte seine Begleitung leise, offenbar besorgt, dass sein Freund eine ungehörige Frage gestellt hatte.
„Nein.", antwortete Thrain an den jungen Hobbit namens Pippin gewandt, „Diese Wunde erhielt ich vor wenigen Wochen bei der Verteidigung Lothloriens gegen Orks, die versuchten die Grenze des goldenen Waldes zu überschreiten."
„Wenn ihr die Elben im Kampf gegen die Dunkelheit unterstützt, so kämpfen wir für die gleiche Sache, mein Freund.", richtete nun der zweite Mensch das Wort an ihn.
Zustimmend neigte Thrain den Kopf, erwiderte jedoch nichts.
„Woher kommt ihr?", fragte nun der schwarzhaarige Hobbit, der sich hinter seinem Freund wieder hervor geschoben hatte. Mit wachem Blick musterte er den Zwerg.
Kurz überlegte Thrain, dann erwiderte er: „Ich habe keine Heimat. Ständig auf Reisen bin ich und halte mich selten länger als ein paar Monate an einem Ort auf."
Ein kurzer Moment des Schweigens kam auf. Dann ergriff der schwarzhaarige Mensch wieder das Wort.
„Das Urteil der Herrin ist für mich genug. Es ist uns eine Ehre, eure Bekanntschaft zu machen, Tarl. Verzeiht uns unsere vielen Fragen, es ist überraschend, hier einen Zwerg anzutreffen. Doch, da wir euren Namen wissen, sollt ihr auch unsere erfahren. Ich bin Aragorn, Arathorns Sohn, dies ist Boromir aus Gondor, Frodo und Sam, sowie Merry und Pippin. Unser Elb ist Legolas, Thranduils Sohn, aus dem Waldlandreich und Gimli, Gloins Sohn, vom Erebor, vielleicht seid ihr ja einander schon begegnet, falls euch eure Reisen auch zum einsamen Berg führten."
Langsam sah Thrain zu Legolas und Gimli hinüber. Der Elb musterte ihn mit höflichem Interesse. Dies war also Thranduils Sohn. Seit der Schlacht der fünf Heere hieß es, hatte der Prinz seine Heimat nicht mehr besucht, sondern war durch Mittelerde gezogen, um im Auftrag seines Vaters die Dunedain zu unterstützen.
Dann fiel Thrains Blick auf Gimli, der ihn mit einer Neigung des Kopfes grüßte. Doch ein nachdenklicher und verwirrter Ausdruck lag in den Augen des Zwerges. Er schien angestrengt zu überlegen.
„Kennen wir einander?", fragte Gimli nun tatsächlich.
Rasch wandte Thrain den Kopf ab, sein Magen verkrampfte sich. „Nein,", erwiderte er, „wir sind uns nie zuvor begegnet."
„Wollt ihr ein Stück mit uns gehen?", bat Boromir nun an. „Oh ja!", rief der Hobbit namens Merry begeistert, „Ihr könnt uns von eure Reisen erzählen!"
„Ich bin sicher, dass Herr Tarl einiges unschönes erlebt hat, weswegen Frau Galadriel ihn hier aufnahm!", fuhr Sam entrüstet dazwischen, „Er wird davon euch bestimmt nicht erzählen wollen!"
Thrain lächelte, amüsiert über die vier Hobbits, dann sah er zu Boromir. „Ich muss euer freundliches Angebot leider ausschlagen.", erwiderte er und verneigte sich zum Abschied, „Ich habe einiges zu tun und werde mich daher empfehlen. Es freut mich, eure Bekanntschaft gemacht zu haben."
Damit wandte er sich ab und ging flotten Schrittes davon.
Den Rest des Tages verbrachte Thrain in seinem Haus, tief in Gedanken versunken. Nie hätte er gedacht, hier Gimli zu begegnen.
Sein altes Leben hatte ihn mit voller Wucht eingeholt und Bilder von früher wirbelten durch seinen Kopf. Er sah Gimli, Jari und Skafid vor sich, wie sie gemeinsam trainierten oder durch die Umgebung des Erebor streiften. Seine Geschwister, seine Eltern, die altbekannten Hallen, der Geruch des Berges und des Gesteins, das wunderbar vertraute Gefühl des Felsens unter seinen Fingern. Wieder hörte er die Fanfare des Erebor über die Ebene schallen, sah die bunten Wimpel von Thal, erblickte vor seinem inneren Auge den riesenhaften Thronsaal seiner Vorväter und stand in seinem alten Zimmer, wo die Doppelaxt, die sein Vater ihm geschmiedet hatte, in ihrer Ecke Staub ansetzte. Oder wurde sie regelmäßig von der guten Minna abgestaubt?
Er wusste nicht, was er tun sollte.
Am liebsten würde er noch in dieser Nacht seine Sachen packen und heimlich fortgehen. Wohin er sich wenden würde, war eigentlich egal. Er vermutete, dass in Rohan man einem fähigen Krieger sicher kein Dach überm Kopf verweigern würde. Das Land konnte jeden Mann brauchen, der in der Lage war zu kämpfen.
Außerdem war der Winter schon bald voran geschritten. Die Schneeschmelze hatte im Flußtal bereits eingesetzt, so weit südlich wie sie hier schon waren. Nur noch wenige Wochen würden vergehen, eh der Frühling im Land Einzug hielt. Es wäre eine gute Zeit, um wieder auf Reise zu sein.
Bei dem Gedanken, dass zu dieser Zeit im Jahr Gringorns Familie wohl sich auf die ersten Feldarbeiten des Jahres vorbereitete, wurde ihm ganz schwer ums Herz. Wie sehr er die Familie vermisste! Wie es der kleinen Jolinda wohl erging? Unglücklich vergrub Thrain das Gesicht in den Händen.
Auch in Nebelgrund hätte man sich nun auf den bevorstehenden Frühling vorbereitet, doch... Der Krieg hatte dort jegliches Leben zerstört. Erneut sah er die Ruinen des Dorfes vor sich. Langsam tastete seine Hand zu der Brusttasche, wo er noch immer Fredes Zopf als unglaubliche Kostbarkeit hütete. Seine Gedanken wanderten zu Ira und er betete zu Mahal, dass es ihr gut ging und sie durch irgendein Wunder dem Krieg entkommen war.
Es war bereits früher Abend, als er kurz vor das Haus ging. Noch immer wusste er nicht, was er tun sollte. So viel war an diesem Tag passiert.
Noch nie hatte es sich falscher angehört, den Namen Tarl zu nutzen. Mehr und mehr wurde Tarl zu einer leeren Hülle. Ja, Tarl war ein Teil von ihm, doch eben nur ein Teil. Er blickte nach oben zum Abendhimmel. Eigentlich, dachte er sich, war er des Versteckspielens müde. Seit über einem Jahr lief er vor sich selbst davon. Auch jetzt wollte er wieder fortlaufen. Sich wieder in Tarl, den einsamen, reisenden Zwerg ohne Heimat flüchten, Verbitterung und Einsamkeit versuchte er erneut als Schutzschild zu nutzen.
Doch er war eben nicht nur Tarl, der Schmied und einfache Zwerg. Er war Thrain, Sohn Thorins und Lyranns, Prinz des Erebor und er konnte dies zunehmend nicht mehr leugnen.
„Herr Tarl!"
Eine Stimme scholl über seine Lichtung und Thrain drehte verwundert den Kopf. Da standen tatsächlich die zwei jungen Hobbits Merry und Pippin an der oberen Stufe der Treppe, die hinab in die Senke führte, wo sein Haus stand.
Eilig kamen die zwei die Treppe hinabgestiegen.
„Was macht ihr beide hier?", fragte Thrain die zwei und richtete sich zu seiner vollen, für Zwerge durchaus beeindruckenden, Größe auf. Aber die zwei Hobbits ließen sich davon nicht beeindrucken.
„Wir haben uns gefragt, ob ihr...", begann Merry, dann verließ ihn jedoch kurz der Mut. Er sammelte sich, bevor er wieder ansetzte: „Nun, ihr seid doch sicherlich in dem ein oder anderen Kampf gewesen..."
„Könnt ihr uns unterrichten?", fragte Pippin geradeheraus. Er zog einen langen Dolch hervor und hielt ihn Thrain hin. „Diese hier haben wir von Aragorn bekommen. Doch wirklich nutzen können wir sie nicht. Boromir unterrichtete uns schon auf unserer Reise, aber wir haben gehofft, ob ihr uns etwas beibringen könnt."
Wortlos nahm Thrain dem jungen Mann den Dolch ab und musterte ihn kritisch. Es war eine alte Waffe, die aber noch immer scharf und in gutem Zustand war. Wo der Mensch sie wohl her hatte? Prüfend blickte er auf die beiden hinab. Eigentlich stand ihm nicht der Sinn danach, als Unterhaltung von Merry und Pippin herzuhalten.
Eben wollte er mit einer ablehnenden Bemerkung Pippin das Schwert zurückgeben, als Merry sagte: „Wir haben eigentlich auf dieser Abenteuerreise nichts zu suchen. Wir sind keine Krieger, die hierfür viel besser geeignet wären. Elrond wollte uns nach Hause schicken, zurück ins Auenland. Aber... Wir wollten unsere Freunde nicht im Stich lassen, Sam und Frodo. Und, damit wir ihnen irgendwie helfen können, müssen wir kämpfen lernen."
„Na gut...", meinte Thrain mit einem Seufzen.
Er gab Pippin den Dolch zurück und leitete die beiden an, wie sie ihren Stand verbessern konnten und ihre Waffen richtig hielten.
Dann arbeitete er sich mit ihnen durch erste, einfache Übungen durch. Tatsächlich schienen sie schon ein paar grundlegende Dinge zu wissen, offensichtlich hatte Boromir wirklich mit ihnen trainiert.
Schon bald war der Zwerg in seine Erklärungen vertieft. In sehr langsamen Tempo demonstrierte er Abwehrbewegungen und Angriffe.
„Ach, Hallo!", rief Pippin da plötzlich und winkte zum Rand der Lichtung. Thrain und Merry wandten sich um und dort standen Legolas und Gimli.
Sofort wurde Thrain merkwürdig ums Herz, als er Gimlis nachdenklichen Blick sah.
„Wie lange schaut ihr schon zu?", lachte Merry. „Noch nicht so lange.", erwiderte Legolas mit einem Schmunzeln und lehnte sich gegen einen benachbarten Baumstamm.
„Nun,", sagte Thrain, „wir sollten unsere Übungen beenden. Ihr braucht eine Pause."
„Aber wir sind noch nicht müde!", rief Pippin.
Thrain jedoch schüttelte den Kopf. Er wollte so schnell wie möglich, Gimlis Blick entkommen. „Ihr solltet mit eure Gefährten zurück zu eurem Lager gehen. Es ist schon fast Nacht.", entgegnete er mit unbeirrbarer Stimme.
Er neigte kurz den Kopf vor den enttäuschten Hobbits, dann drehte er sich um und ging zurück zu seinem Haus.
Doch er hatte die Tür noch nicht erreicht, als Gimlis Stimme über die Lichtung hallte.
„Thrain!"
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