Der Prozess
Herbst 3018
Man hatte ihn eingesperrt. Als er wieder zu sich gekommen war, hatte Thrain sich in einem kleinen Raum wieder gefunden, dessen Tür verschlossen war. Der Blick durch ein Fenster hatte ihm offenbart, dass er sich scheinbar in dem Lagerhaus für Kupfer befand, das sich nahe des Dorfrandes direkt am Fluss befand und wo die zum Handel freigegebene Kupferware lagerte.
Auf sein Türklopfen hin hatte ihm eine grummelige Männerstimme kurz gebunden Auskunft gegeben, dass er hier zu warten hatte, bis über sein Schicksal entschieden werden würde.
Das war nun vier Tage her. Die Stunden krochen quälend langsam dahin, während Thrain an die Zimmerdecke starrte und über das Vergangene nachgrübelte.
Draußen ging die Sonne auf und unter, seine Wachen sprachen kein Wort mit ihm, wenn sie ihm Essen brachten oder den Eimer holten, den er für seine Notdurft nutzen konnte. Thrain vermutete, dass er der erste Gefangene war, den es in diesem friedlichen Dorf je gegeben hatte. Denn hin und wieder sah er bekannte Gesichter unter seinen Bewachern, offenbar wechselten sich die Dorfbewohner damit ab, sicher zu stellen, dass er nicht entkam.
In der Einsamkeit seines Gefängnisses hatte Thrain genug Gelegenheit, über das, was passiert war, nachzudenken.
Er hatte Ira gesehen, an Arnfasts Seite. Sie hatte scheinbar tatsächlich mit ihm reden wollen, doch Arnfast...
Gequält schloss Thrain die Augen, als er an die plötzliche Mordlust dachte, die in ihm aufgeflammt war. Nur verschwommen erinnerte er sich daran, wie er sich auf den jungen Mann gestürzt hatte und ihn verprügelt hatte. Arnfast hatte dem voll ausgebildeten Krieger nichts entgegen zu setzen gehabt. Vage meinte er sich an Blut zu erinnern, viel Blut, dass das Gesicht des Menschen bedeckt hatte, während er in seinem Rausch weiter auf ihn eingedroschen hatte.
Daran konnte er sich nur zu gut erinnern, die Wut, den Zorn und den unbändigen Wunsch, zu töten. Blanker Horror erfüllte ihn, wenn er daran dachte. Er hatte jegliche Kontrolle über sich verloren. Noch nie war ihm derartiges passiert. Das erste Mal in seinem Leben hatte er Gefallen an Gewalt gefunden, hatte er wirklich töten wollen, nicht, um sich oder seine Heimat zu verteidigen, nein, einfach, um Leid zuzufügen...
Lebte Arnfast noch?
Er wusste es nicht. Niemand hatte ihm etwas gesagt und er fürchtete das Schlimmste. War er wegen Mordes eingesperrt? War er nun wirklich ein Mörder, wie Frede es noch vor kurzem halb im Scherz gefragt hatte?
Er stöhnte leise. In was für eine Situation hatte er sich nun gebracht! Wie hatte ihm dieser Kontrollverlust überhaupt passieren können? Nun war alle Hoffnung, wieder an Iras Seite sein zu können, zerstört. Allgemein wusste er nicht, was die Zukunft ihm bringen würde. Er war dazu verdammt, abzuwarten und darauf zu hoffen, dass Arnfast seinen Angriff überlebt hatte. Sein Schicksal lag nun in der Hand des Bürgermeisters. Wie würde Arnohd entscheiden?
Stimmen an der Tür ließen ihn aufhorchen und er drehte den Kopf. Das Klirren eines Schlüsselbundes erklang, dann das Klacken eines entriegelten Schlosses. Die Tür öffnete sich und Frede trat ein. Überrascht erhob Thrain sich.
„Bist du dir sicher?", fragte jemand im Flur und der rothaarige Zwerg nickte, dem anderen noch zugewandt. „Ja, mir passiert nichts. Ich klopfe dann.", erwiderte er, schloss die Tür wieder und drehte sich zu Thrain um.
„Tarl.", sagte er schlicht, seine Stimme hatte viel von ihrer sonstigen Wärme verloren. Der scharfe Blick seiner Augen schmerzte Thrain, als er seinem Freund entgegen sah.
„Frede!", begrüßte er ihn und machte einen Schritt auf den Zwerg zu. „Was ist passiert? Ist Arnfast...? Ich wollte nicht, dass so etwas passiert!", sprudelte es mit einem Mal nur so aus ihm heraus. Deutlich war der verzweifelte Ton in seiner Stimme zu hören.
„Arnfast lebt.", erwiderte Frede knapp und ein gewaltiger Stein fiel Thrain vom Herzen. „Mahal sei Dank!", rief er aus. Seine schlimmste Befürchtung bewahrheitete sich nicht.
Nachdenklich sah er seinen Freund an. „Warum bist du hier?", fragte er.
Frede verschränkte die Arme vor der Brust und musterte ihn. „Um dir zu sagen, dass in wenigen Tagen dein Prozess stattfinden wird.", antwortete er.
„Mein Prozess...", murmelte Thrain. Er wandte sich ab und sah aus dem Fenster. So war er nun also ein Verbrecher...
„Wessen bin ich angeklagt?", fragte er, den Blick auf die schnell dahin fließenden Wasser der Nebel gerichtet. Er konnte seinem Freund nicht in die Augen sehen.
„Du bist des heimtückischen Angriffes auf einen Dorfbewohner ohne Provokation und mit dem Wunsch des Mordes angeklagt.", erwiderte dieser.
Thrain lachte trocken auf. „Ohne Provokation...", murmelte er, „Arnfast hat mich seit meiner Ankunft ständig provoziert. Das weißt du, du warst dabei!" Jetzt drehte er sich doch wieder Frede zu.
„Ja, das weiß ich. Aber keine Provokation rechtfertigt das, was ich sah. Wie mein Freund, vollkommen entstellt vor Mordlust, eine ihm gegenüber wehrlose Person fast zu Tode prügelt.", sagte Frede und der Schock über diesen Anblick war ihm auch jetzt noch deutlich anzusehen.
Thrain seufzte und sank auf sein Lager. Mit beiden Händen fuhr er sich übers Gesicht. „Ich hatte vollkommen die Kontrolle über mich verloren.", flüsterte er, „Da war nur noch Wut. Wer weiß, was passiert wäre, wenn mich nicht jemand offensichtlich bewusstlos geschlagen hätte."
„Das war ich.", brummte Frede, „Du hättest Arnfast getötet, wenn ich nicht dazwischen gegangen wäre."
Lange Zeit sprachen die beiden Männer kein Wort.
„Ira...?", fragte Thrain schließlich leise.
„Ich sprach mit ihr.", erwiderte Frede, „Sie ist geschockt und ich glaube nicht, dass sie dich sehen will."
Wie Pfeile bohrten sich diese Worte in Thrains Herz und er schloss voller Schmerz die Augen. Er hatte sie verloren. Seine Ira, seine Geliebte...
„Danke...", flüsterte er, „Danke, dass du gekommen bist." Er sah zu Frede auf, dessen Mund sich das erste Mal zu einem schwachen Lächeln verzog.
„Du bist mein Freund, Tarl.", erwiderte er und musterte den jungen Mann forschend. „Auch wenn ich nie gedacht hätte, welche Abgründe in meinem Freund schlummern."
Dieser presste die Lippen fest aufeinander. „Nie wieder wird mir derartiges passieren.", schwor er.
Langsam stand er wieder auf und trat vor Frede. „Danke Frede, für alles. Ihr habt mich warm willkommen geheißen, als ich in dieses Dorf kam. Du warst und bist ein wunderbarer Freund, auf den ich mich immer verlassen kann und ich bin froh, dich und deine Familie zu kennen.", sagte er fest, „Möge Mahal über dich wachen, mein Freund."
Frede klopfte ihm sanft auf die Schulter. „Und über dich, Tarl.", erwiderte er.
Mit einem knappen Lächeln für Thrain klopfte er an der Tür, dass die Wachen ihn heraus ließen.
Einige weitere Tage verstrichen und Thrain verlor jegliches Zeitgefühl. Draußen färbten sich die ersten Blätter golden. Nun war wirklich der Herbst da.
Irgendwann öffnete sich erneut die Tür zu seiner Zelle, waren drei Tage seit Fredes Besuch vergangen, fünf, oder gar eine ganze Woche? Jalrek und Skolvith standen vor ihm, zusammen mit vier Zwergen, sie musterten ihn ernst.
„Es ist Zeit.", sagte Jalrek und trat mit einem Strick in der Hand nach vorne.
Die Hände zusammengebunden trat Thrain aus dem Lagerhaus heraus, geführt von Jalrek und umgeben von den wachsam drein blickenden Zwergen.
Das Dorf war vollkommen ausgestorben, niemand war auf den Straßen zu sehen. Seine Bewacher führten ihn durch Nebelgrund. Sie kamen vorbei an dem Wirtshaus, wo er bei seiner Ankunft eingekehrt war, nur zu lebhaft konnte er sich an den Regen und die Begegnung mit Ira auf der Straße erinnern. Schmerzvoll schnitt ihm die Erinnerung ins Herz. Nicht weit davon entfernt stand das nun neu errichtete Haus des Bürgermeisters und Thrain meinte bei dem Anblick noch die Hitze des verheerenden Feuers auf der Haut zu spüren. Sie überschritten die Brücke und kamen in den Bereich der Zwerge, wo sie bald seine Schmiede erreichten. Von plötzlicher Traurigkeit erfüllt dachte Thrain an die vielen Tage, die er dort an der Esse gemeinsam mit Fredi verbracht hatte. Eine Katze fiel ihm ins Auge, Musmasum, die an der Tür saß und sich offensichtlich wunderte, dass er sie nicht wie sonst herein ließ, damit sie ihm eine Weile bei der Arbeit zuschauen konnte, wie einst ihre Mutter. Weiter die Straße ging es entlang, wo schließlich Mhilrams Haus in Sichtweite kam. Eine eisige Faust schien sich um Thrains Herz zu schließen. Wie gerne würde er die Zeit zurück drehen und wieder bei seiner Ira sein! Würde es eine Möglichkeit geben, all dies hinter sich zu lassen und wieder hier zu leben, als wäre nichts geschehen?
Als sie das Dorf verließen, wurde ihm klar, wohin sie ihn brachten. Auf den Uferwiesen, wo noch vor wenigen Tagen ausgelassen das Einbringen der Ernte gefeiert wurde, hatte man einen Podest errichtet, wo Arnohd stand und Thrain kühl entgegen blickte. Das gesamte Dorf schien hier versammelt.
Thrains Blicke flogen hin und her. So viele bekannte Gesicht erblickte er, während er durch das Spalier der Dorfbewohner vor das Podest geführt wurde. Kalt und abweisend waren ihre Gesichter, voller Zorn über das, was er getan hatte. Er verstand es nicht. Ja, er war zu weit gegangen, aber Arnfast war im gesamten Dorf nicht sonderlich beliebt gewesen, verstand ihn denn niemand? Thrain erblickte Frede bei seiner Familie, der ihm knapp zunickte. Auch Mhilram sah er bei ihren Mädchen, doch Ira war nicht unter ihnen. So sehr er auch suchte, er konnte die blonde Zwergin nicht entdecken. Wo war sie?
„Tarl!", richtete Arnohd da mit lauter Stimme das Wort an ihn. Stille kehrte ein und alle Blicke richteten sich auf den Bürgermeister. „Du bist angeklagt, meinen Sohn Arnfast heimtückisch mit dem Wunsch zu töten angegriffen zu haben! Bevor wir dich dazu anhören werden, sollen die Zeugen vortreten!"
Nicht weit entfernt von Thrain erhob sich Skolvith und trat vor die versammelte Menge.
„Bewohner Nebelgrunds!", begann er, „Ihr alle kennt mich, mein Name ist Skolvith, Sohn Skolras. Ich bin vor euch getreten, um zu berichten, was sich beim Erntefest abspielte. Wie immer zu diesem Fest schenkte ich mein Bier frei für die Feiernden aus. Nahe meines kleinen Standes saß Arnfast mit einigen Freunden zu Tisch, die Zwergin Ira war bei ihnen. Tarl kam spät zu dem Fest, ich beobachtete, wie er auf die Gruppe um Arnfast zuging und Ira ansprach. Wie wir alle wissen, war sie die Geliebte des Schmiedes, auch wenn beide nie öffentlich ihre Beziehung kundgetan haben. Tarl sprach Ira an und es kam scheinbar zu einem kurzen Wortwechsel zwischen Arnfast und Tarl. Ohne Vorwarnung stürzte der Zwerg sich da wie von Sinnen auf Arnfast. Dieser hatte keine Chance und wurde zu Boden geworfen, wo Tarl weiterhin auf ihn einprügelte, obwohl er schon lange keine Gegenwehr bekam. Innerhalb kürzester Zeit war Arnfast schwer verwundet und Tarl hätte sicher auch weiterhin auf ihn eingeschlagen, wenn Frede ihn nicht bewusstlos geschlagen hätte."
Unruhiges Murmeln ging durch die Versammlung und Thrain konnte die entsetzten Blick förmlich in seinem Rücken spüren, die sich wie glühende Speere in ihn bohrten. Hoch aufgerichtet stand er da und sah stur geradeaus, während Skolvith auf seinen Platz zurück ging und weitere Zeugen aufstanden und berichteten. Seine Verzweiflung und Wut wuchs, während mehr und mehr die Geschichte Skolviths wiederholten. Die Beweislast war erdrückend, doch keiner erwähnte Arnfasts unverschämte Äußerungen gegenüber Thrain
Zum Schluss trat ein Mensch vor, den Thrain nur wenig zu Gesicht bekommen hatte, und berichtete von Arnfasts Zustand. „Arnfast erlitt bei dem Angriff durch Tarl eine schwere Gehirnerschütterung, vier Rippen wurden gebrochen und mehrere Platzwunden. Noch in der selben Nacht reagierte sein Körper mit einem starken Fieber. Über drei Tage kämpfte Arnfast in Fieberträumen gefangen um sein Überleben und ich war nicht sicher, ob ich ihn retten könnte. Manwe selbst sollten wir danken, dass Arnfast vor vier Tagen erwachte. Noch immer ist er sehr schwach und ich habe ihm weitere Bettruhe verordnet. Er kam mit dem Leben davon, doch der Zwerg hätte ihn ohne weiteres getötet, wäre man nicht eingeschritten!"
Verbittert presste Thrain die Lippen zusammen. Leider konnte er diese Aussage nicht abstreiten. Doch ein kleiner Teil von ihm vermutete, dass Arnfast gerade sich schwächer und kränker darstellte, als er in Wirklichkeit war.
„Tarl!", rief Arnohd da und er trat ein paar Schritt nach vorne. „Was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?"
Thrain atmete tief durch und schickte ein kurzes Stoßgebet zu Mahal, dass dieser ihm beistehen und die richtigen Worte senden würde. Doch war er der Unterstützung des Valar überhaupt würdig? Er hatte Arnfast fast umgebracht, würde da Mahal sich nicht eher von ihm abwenden?
„Streitest du ab, meinen Sohn angegriffen zu haben?"
„Nein.", sagte Thrain mit fester Stimme.
„Du stimmst also den Aussagen der Zeugen zu, Arnfast grundlos attackiert und ihn an den Rand des Todes geprügelt zu haben?"
„Bürgermeister, es stimmt, ich habe euren Sohn angegriffen. Es war ein Fehler, den ich nie hätte machen dürfen und ich hoffe, die Valar mögen ihn mir verzeihen! Ich verlor die Kontrolle und es ist allein Frede zu verdanken, dass schlimmeres verhindert werden konnte. Doch nicht grundlos griff ich euren Sohn an! Schon am Abend meiner Ankunft war ich das Ziel von Arnfasts Spott. All die Monate diente ich eurem Sohn als Zeitvertreib, mich zu reizen und zu verhöhnen gefiel ihm! Ja, ich hätte ihn nie so angreifen sollen, doch wenn euer Sohn es sich erlaubt, andere wie Dreck zu behandeln, muss er in die Schranken gewiesen werden!", rief Thrain.
Arnohd schwieg einen Moment und tatsächlich konnte Thrain hinter sich leises Gemurmel der Zustimmung hören.
„Gibt es einen, der eure Behauptungen bezeugen kann?", fragte der Bürgermeister.
„Ja, das kann ich!", erklang da die Stimme Fredes und tiefe Dankbarkeit für seinen Freund erfüllte Thrain, als der rothaarige Minenarbeiter vortrat und begann, zu sprechen. „Es ist wahr, was Tarl berichtet. Wir alle wissen, dass Arnfast gern andere verspottet und demonstriert, dass er zu den Mächtigen des Dorfes gehört. Respekt, Anstand, diese Worte sind ihm fremd. Kaum einer tritt ihm entgegen, alle lassen ihn gewähren, wie ein kleines, quengelndes Kind. Doch ist es nicht nur zu verständlich, dass ein Mann, der immer und immer wieder verhöhnt wird, sich irgendwann beginnt, zu wehren?"
Ein wenig Zuversicht kehrte in Thrain zurück und dankbar lächelte er Frede zu. Vielleicht würde ja doch alles gut werden.
Arnohd sah lange schweigend auf ihn herab. Nun würde er seine Entscheidung fällen, nun würde sich Thrains Schicksal entscheiden.
„Es mag sein, Frede, dass es verständlich ist. Aber wenn heute ein derartiger Angriff nachvollziehbar ist, was verzeihen wir dann vielleicht schon morgen? Unser Dorf lebte immer in Frieden, bis dieser Mann ins Dorf kam!" Mit ausgestrecktem Finger zeigte er auf Thrain, den ein äußerst ungutes Gefühl beschlich. „Und ich werde niemanden in meinem Dorf dulden, der bewiesen hat, dass er vollkommen unbeherrscht Menschen oder Zwerge angreift!"
Arnohd blickte auf Thrain hinab. „Tarl!", donnert er, „Ihr seid aus dem Dorf Nebelgrund verbannt! Nie wieder werdet ihr diese Siedlung betreten, keinem der Bewohner wird erlaubt sein, mit euch zu sprechen! Ihr werdet das Dorf bis Sonnenuntergang verlassen haben, sonst droht euch der Tod!"
Fassungslos starrte Thrain den Bürgermeister an. „Und welche Strafe erhält euer Sohn?", fragte er mit wachsendem Zorn, „Wird ihm weiter gewährt, andere zu verhöhnen und sie zu behandeln, wie ihm gefällt?"
Doch Arnohd ignorierte ihn.
„Habt ihr so schnell vergessen?", brüllte Thrain nun, als der Mann sich von ihm abwandte. Aus den Augenwinkeln sah er, wie die Ersten bereits die Wiesen verließen und zum Dorf zurück gingen. „Ich habe euch das Leben gerettet, Arnohd! Beinahe wäre ich selbst daran gestorben, als ich euch aus eurem brennenden Haus zog! Ich, nicht euer Sohn! Als Nebelgrund angegriffen wurde, kämpfte ich an vorderster Front für euch! Habt ihr all das vergessen?"
Doch keiner antwortete ihm. Alles schien um ihn herum zu zerfallen. In Thrains Ohren dröhnte es, während er ohnmächtig zusah, wie der Bürgermeister von dannen ging. Er sah sich um. Menschen und Zwerge zogen sich zurück, verließen ihn. In manchen Augen schien er Mitgefühl und gar Verständnis zu erkennen, doch genug andere sahen voller Genugtuung auf ihn, den Verbannten und verurteilten Verbrecher.
„Ihr könnt das doch nicht gut heißen!", rief er zornig. Doch keiner antwortete ihm. Er erblickte Fredes Familie. Frida hatte voller Kummer die Lippen aufeinander gepresst, das Gesicht kalkweiß. Fredi redete erregt auf seinen Vater ein. „Frede!", rief Thrain und ging auf sie zu. Doch voller Entsetzen sah er, wie sein Freund seine Familie mit sich zog, fort von ihm. Kurz begegneten ihre Blicke einander und er sah den Schmerz in Fredes Augen, als er ihm stumm Lebewohl wünschte.
Allein blieb Thrain zurück, aufgewühlt und verzweifelt.
„Ira...", flüsterte er und begann zu rennen. An dem Haus Mhilrams angekommen, rüttelte er an der Tür, fand sie aber verschlossen vor. „Ira! Ira!", brüllte er verzweifelt und trommelte mit der Faust auf das Holz ein. Sie musste mit ihm reden! Er konnte nicht einfach so gehen!
Doch niemand antwortete. Über ihm wurden Fensterläden zugeschlagen. Man grenzte ihn aus, wies ihn ab. Niemand kam. Ira wollte ihn nicht sehen, nicht mit ihm sprechen.
Thrain meinte, sein Herz müsse stehen bleiben. Seine Kehle war zugeschnürt und die schmerzvolle Erkenntnis fraß sich stetig in ihn hinein. Er würde sie nie wieder sehen. Alles, was zwischen ihm und Ira gewesen war, war zerstört. Er hatte alles kaputt gemacht. Darin war er gut. Erst hatte er seine Familie verlassen und nun hatte er Ira von sich getrieben.
Die Verzweiflung und der Kummer drohten ihn zu überwältigen. Taumelnd ging er zu seiner Schmiede, konnte fast nicht erkennen, wohin er ging. In der Schmiede packte er seine Sachen mit wenigen Handgriffen zusammen, unfähig zu denken, erfüllt von Schmerz und Wut.
Er trat auf die Straße und wollte nur noch eines: Das Dorf so schnell wie möglich verlassen. Niemanden nahm er wahr, als er die Straße entlang eilte. Er erblickte die blonde Zwergin nicht, die stumm schluchzend am Fenster stand und ihm mit ihren Blicken folgte, zu verwirrt, um ihm zu folgen.
Nebelgrund hinter sich lassend, folgte Thrain dem Pfad in die Berge, den er schon damals genommen hatte, als er im Frühjahr noch geplant hatte, weiter zu ziehen. Hätte er das nur getan! Warum war er nur damals umgedreht!
Er stolperte vorwärts, sah kaum, wo er hin ging. Ein lautes Maunzen hinter ihm war endlich in der Lage, ihn aus seinen Gedanken zu reißen.
Thrain drehte den Kopf und erblickte Musmasum. Die kleine Katze war ihm hinter her gelaufen und kam nun mit hoch gerecktem Schwanz auf ihn zu.
„Hau ab.", knurrte Thrain. Er wollte die Katze nicht bei sich haben, zu sehr erinnerte sie ihn an glückliche Tage im Dorf. Doch beharrlich, wie schon Biest, rieb sie sich an seinem Bein und sah aus ihren großen Augen zu ihm auf, in fröhlicher Erwartung, gestreichelt zu werden.
„Verzieh dich!", brüllte Thrain plötzlich. Verstand sie nicht, dass er nun ein Verbrecher war? Verschreckt sprang Musmasum zurück, ihr Blick verwirrt und panisch. Drohend machte Thrain einen Schritt zurück. „Lauf zurück! Ich bin verbannt und du hast nichts hier bei mir zu suchen!", rief der Zwerg.
Tatsächlich drehte das Kätzchen um und rannte davon.
Mit einem verzweifelten Seufzen ließ Thrain sich auf einen Felsblock fallen und schloss die Augen. Wie hatte es nur so weit kommen können?
„Ich dachte mir, dass du noch nicht weit weg bist.", hörte er plötzlich eine Stimme zu seiner Linken.
Langsam hob Thrain den Kopf und erblickte Nedric da stehen. Der Mann lächelte schief. „Hast du nun also gesehen, wie rücksichtslos Arnohd und sein Sohn über das Dorf meinen zu herrschen?", fragte er.
Der Zwerg vergrub das Gesicht in den Händen. Ja, Nedric hatte immer wieder davon gesprochen, dass Arnohd sich über alles hinweg setzte, wenn es ihm passte.
„Es tut mir leid, dass es nun so für dich geendet ist, Tarl.", sagte Nedric leise, „Ich weiß, du hast deine Ira geliebt und Arnfast hat sie dir nun genommen. Wer weiß, vermutlich deckt Arnohd seinen Sohn lediglich. Ich könnte verstehen, wenn du zornig bist."
Tatsächlich wallte tiefe Wut in Thrain auf, als Nedric dies sagte. Würde Arnfast nun tatsächlich, da er weg war, Ira nachstellen? Und würde sie ihn gewähren lassen?
„Wohin wirst du nun gehen? Es wird Winter werden, du kannst nicht während des Winters umher ziehen.", fuhr Nedric fort.
„Ich weiß es nicht.", brummte Thrain, mühsam die erneute Wut beherrschend.
„Komm mit mir!", sagte Nedric und klopfte ihm auf den Rücken, „Ich weiß, wohin du gehen kannst."
Ohne weiteres zu sagen, ging Nedric weiter den Bergpfad entlang. Stumm sah Thrain zu ihm, aufgewühlt und ratlos, was er tun sollte. Seine Ira... Er hatte sie verloren und nun würde Arnfast ohne Zweifel sie sich nehmen... Er war wieder heimatlos, wo sollte er sich hin wenden?
Er hatte keine Antwort auf diese Frage und so stand er schließlich auf, schulterte sein Gepäck und folgte Nedric, Nebelgrund hinter sich lassend.
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