Der große Strom
Sanft glitten die elbischen Boote durchs Wasser. Schon mit nur gelegentlichem Paddelschlag wurden sie von den Gefährten auf Kurs gehalten. Mühelos durchschnitten sie die leichten Wellen des Flusses, der sie nun gen Süden trug. Kaum ein Geräusch war zu hören, außer dem leisen Plätschern des Wassers, das gegen die Boote schwappte.
Die Gemeinschaft sprach kein Wort. Jeder von ihnen war noch erfüllt von dem Eindruck des Elbenreiches. Hin und wieder hallte ein Vogelruf übers Wasser oder raschelten die Blätter der Bäume am Ufer.
Gimli durchbrach schließlich als erster die Stille. Im Flüsterton erzählte er Legolas etwas. Die genauen Worte konnte Thrain nicht verstehen, zumal er auch nicht lauschen wollte. Doch bald schon verstummte sein Waffenbruder wieder und sehnsüchtig warf Gimli einen Blick zurück, die Augen voll Trauer.
Mit langsamen Bewegungen tauchte Thrain das Ruderblatt wieder und wieder in das Wasser. Er saß im Bug des Bootes, das er mit Boromir und Pippin teilte. Boromir im Heck musste kaum lenken, es schien, als würden die Boote mehr auf die Gedanken der Gefährten reagieren als auf die Paddelschläge. Pippin hockte schweigend zwischen ihnen, tatsächlich ungewöhnlich für den jüngsten der Hobbits.
Gemächlich glitt das Flussufer an ihnen vorbei. Hin und wieder beugte einer der Bäume seine Zweige über den Fluss, manchmal tauchten die Äste beinahe ins Wasser. Die silbernen Stämme der Mallornbäume leuchteten den Gefährten entgegen, doch je länger sie fuhren, desto seltener erblickte Thrain einen Mallorn. Auch schienen die Bäume des Waldes um sie her immer kleiner zu werden.
Ein Schauer überkam Thrain und er wusste, dass sie eben die Grenze Lothloriens passiert hatten. Das Elbenreich lag nun hinter ihnen und vor ihnen der lange, beschwerliche Weg nach Mordor.
Es war beinahe Abend, als sie den Rand des Waldes erreichten. Hier vereinigten sich mehrere Seitenarme des Anduin zu einem breiten Strom, der die letzten Bäume hinter sich ließ. Vor ihnen öffnete sich eine weite Schlucht, die der Fluss im Verlauf von Jahrtausenden gegraben hatte.
Kurz bevor sie die letzten Bäume erreicht hatten, ließ Aragorn sie zum Ufer steuern, wo sie die Boote behutsam an Land zogen und ein Lager für die Nacht errichteten. Sam und Gimli brachten rasch ein Feuer in Gang, auf dem der Hobbit mit Hilfe Boromirs eine Mahlzeit zubereitete.
„Wie lange werden wir auf dem Fluss unterwegs sein?", fragte Pippin schließlich.
„Einige Tage...", erwiderte Aragorn, während das Abendessen herum gereicht wurde, „Wir werden so lange wie möglich den Schutz des Andui nutzen. Das heißt, dass wir bis zu den Raurosfällen am Wachposten von Amon Hen fahren werden."
Boromir hob interessiert den Kopf. „Das führt uns an den Argonath vorbei!", stellte er erfreut fest.
„Die Argonath?", hakte Frodo nach.
„Die Argonath haben die alte nördliche Grenze Gondors markiert.", erklärte Aragorn, „Es sind Statuen Isildurs und Anarions."
Später am Abend erbot sich Thrain, die erste Wache zu übernehmen. Während alle anderen schliefen, setzte er sich ans Feuer. Vorsichtig zog er Gna aus seinem Gepäck hervor und fuhr ehrfürchtig über das Schwert.
Welch eine Ehre es allein war, Gna in Händen halten zu dürfen! Ewig hätte er das Schwert betrachten mögen. Seine Gedanken kreisten um Galadriels Worte. Doch noch immer verstand er nicht, was sie ihm gesagt hatte. Genau genommen fühlte er sich noch nicht einmal würdig, Gna überhaupt in Händen zu halten. Seine Augen glitten über die Gravur, fuhren den leichten Schwung der Klinge entlang. Er würde dieses Schwert aufbewahren, bis er einen Zwerg fand, dem er Gna überreichen konnte.
Ein leises Platschen riss ihn aus seinen Gedanken. Thrain riss den Kopf in die Höhe, doch konnte er nur noch einen Schatten sehen, der am gegenüberliegenden Ufer zwischen den Bäumen verschwand.
Sie brachen bei Sonnenaufgang des nächsten Tages auf. Die Welt lag noch im Zwielicht der Dämmerung, als die Gefährten ihr Lager abbrachen und die Boote ins Wasser schoben. Kalt war die winterliche Morgenluft auf dem Fluss und ein kühler Wind fegte über den Anduin hinweg.
Schnell hatten sie auch die letzten Bäume hinter sich gelassen und gelangten auf eine weite, braune Ebene, durch die der Fluss träge hindurch floss.
Schweigend fuhren sie weiter, während zu ihren Seiten die Ufer immer weiter empor ragten, bis sie schließlich in einem tiefen Tal waren, das der Anduin gegraben hatte. Kaum Leben schien hier zu sein. Wenige Pflanzen hingen über die Steilhänge hinab in Richtung Tal und nur selten flog ein vereinzelter Vogel über sie hinweg. Am häufigsten sah man noch unter ihnen einen Fisch durchs Wasser zischen. Doch ansonsten gab kein Laut über irgendein Leben hier am Fluss Auskunft.
Unbehaglich rutschte Thrain im Boot hin und her. Schnell war er steif und verkrampft von der ungewohnten Position.
Die Mittagsstunde näherte sich eben, als die ersten Regentropfen vom Himmel fielen. Waren es erst nur wenige Tröpfchen, kaum mehr als ein kühles Spritzen, so wurden es doch rasch immer mehr. Mit einem Murren zog Thrain den Mantel fester um sich. Er und Gimli tauschten einen kurzen unerfreuten Blick über das Wasser hinweg, dann tauchte Thrain erneut das Paddel in den Fluss. Immerhin hatte er die Bewegung des Ruderns, um sich warm zu halten, im Gegensatz zu den Hobbits, die sich mit unglücklichen Gesichtern zusammen kauerten.
Aus dem Regen wurde bald ein Regenguss. Prasselnd ging das Wasser auf sie nieder, durchweichte innerhalb kürzester Zeit selbst die Elbenmäntel aus Lothlorien und begann, die Boote zu füllen. Thrain blinzelte und wischte sich zum wiederholten Male das Wasser aus den Augen. Doch selbst so konnte er kaum etwas erkennen. Wie ein grauer Vorhang ging der Regen vor ihm nieder und nahm ihm die Sicht. Besorgt blickte er nach hinten auf Pippin, der mittlerweile richtig bebte vor Kälte. Ein scharfer Wind kam nun auch noch auf und peitschte ihnen das Wasser entgegen.
„Aragorn!", rief Thrain über das Rauschen des Unwetters hinweg, „Wir müssen Schutz suchen!"
Schemenhaft konnte er den Dunedain erkennen, der sein Boot verlangsamte, sodass die anderen aufschließen konnten. Dicht an dicht fuhren die drei Boote nun, aus Angst, einander zu verlieren.
„Die Boote werden bald volllaufen, wenn das so weiter geht!", sagte Sam mit deutlicher Sorge in der Stimme.
„Wir brauchen irgendeinen Unterschlupf.", bestätigte Boromir, „Legolas kannst du etwas erkennen?"
Der blonde Elb sah sich angestrengt um und nach einem Moment des Schweigens deutete er plötzlich nach vorne. „Dort! Dort ist eine kleine Höhle. Sie müsste ausreichen für uns.", rief er.
Mit neuem Mut tauchten sie die Paddel ins Wasser und legten sich ins Zeug, um dem grässlichen Wetter so schnell wie möglich zu entkommen. Endlich ragte die Felswand vor ihnen auf und nun konnte auch Thrain den Einschnitt im Stein erkennen. Nacheinander fuhren die Boote hinein. Aragorn sprang an Land und zog das erste Boot auf den felsigen Untergrund, dann half er Frodo und Sam. Auch Legolas hüpfte leichtfüßig an Land, während Gimli mit deutlich weniger Eleganz ausstieg. Zum Schluss hievten Boromir und Thrain ihr Boot an Land.
Tropfnass und schlotternd standen die neun Gefährten beisammen und blickten nach draußen, wo der Regen in dichten Schleiern vom Himmel fiel.
„Ihr solltet eure nassen Sachen ablegen, bevor ihr krank werdet, empfindlich wie ihr seid.", durchbrach die Stimme des Elben die Stille.
Es dauerte einen Moment, bis Thrain klar wurde, dass Legolas damit auch ihn und Gimli meinte. Kurz warf er einen Blick zu dem Blonden empor. Aus Sicht des Elben mussten sie alle, selbst die beiden Zwerge, fragil und schnell kränkelnd wirken. Doch er folgte dem Ratschlag und legte, genau wie die Hobbits und die zwei Menschen, den klatschnassen Mantel, sowie die oberste Kleidungsschicht ab.
„Dort ist Treibholz!", rief Aragorn und deutete auf ein paar Haufen Äste, die nahe der Boote am Ufer lagen.
Gimli stapfte hinüber und sah prüfend auf das Holz hinab. „Das wird mehr Rauch als Feuer produzieren.", brummte er, sammelte aber einige Stück auf.
Wenig später drängte sich die Gemeinschaft um ein tatsächlich stark qualmendes Lagerfeuer. Doch niemanden störte das. Sie alle streckten die Hände nach den wärmenden Flammen aus und selbst Legolas schien die Wärme zu genießen. Die Mäntel, Decken und so manche Kleidungsstücke hatte man auf dem Höhlenboden zum Trocknen ausgebreitet. Draußen rauschte noch immer der Regen. Es würde sicher noch den Rest des Tages so weiter regnen, sodass sie erst am nächsten Morgen wohl wieder aufbrechen würden.
„Kann jemand eine schöne Geschichte erzählen? Streicher, du vielleicht? Mehr als warten können wir ja im Moment kaum tun.", fragte Pippin und sah sich neugierig um. Die anderen tauschten Blicke.
Aragorn lächelte, „Mir wird bestimmt etwas Gutes einfallen, um euch allen die Zeit etwas kurzweiliger zu gestalten."
Der Dunedain kramte in seiner Weste nach Pfeife und Tabak, doch musste sehr schnell feststellen, dass auch der Tabak vollkommen durchweicht war. Mit einem Seufzen legte er die Sachen wieder beiseite, setzte sich etwas bequemer hin und begann dann, zu erzählen:
„Ich werde euch die Geschichte meiner Ahnherrin Firiel, Königin von Arthedain, erzählen. Es ist eine Erzählung von Krieg und dunklen Tagen, doch auch von Hoffnung, selbst in noch so aussichtslosen Zeiten."
Firiel war eine Prinzessin Gondors, Tochter des Königs Ondohers und Schwester der beiden Edelmänner Artamir und Faramir. Sie wurde geboren in einer Zeit wachsender Unruhe, als das Volk der Wagenfahrer Gondor immer mehr bedrängten.
Gondor war in diesen Tagen nicht das einzige Königreich der Menschen, denn damals herrschten die Nachkommen Elendils auch im Norden Mittelerdes, dort, wo heute das Auenland, Bree, der alte Wald, die Wetterspitze und die Hügelgräberhöhen liegen. Arnor hieß dieses Königreich, von dem zu Firiels Zeiten jedoch nur noch das Reich Arthedain übrig geblieben war.
Arthedain wurde beherrscht von einem König namens Arvedui, Sohn Araphants, ein entfernter Verwandter von Firiels Vater. Als Firiel gerade erst zu einer jungen Frau heran gereift war, verheiratete man sie an Arvedui, dem sie in den Norden folgte, in ein Land, das ihr gänzlich unbekannt war.
Einsam war sie dort, die unantastbare Königin eines ihr fremden Volkes an der Seite eines ihr fremden Ehemannes. Sie lebte in der Stadt Fornost, die heute Totendeich genannt wird. Eine wahre Festung war diese, umgeben von einer trutzigen Doppelmauer und hoch oben auf einem Felsen thronte die Zitadelle des Königs.
Lange Zeit war der Sohn Firiels und Arveduis, Aranarth, die einzige Freude der jungen Herrscherin.
Gebannt lauschten alle der Stimme des Waldläufers, der mit leisen, eindringlichen Worten von der Frau erzählte, von der er in langer Linie abstammte. Sie sahen die mächtige Stadt Fornost vor sich, am Fuße der schneebedeckten nördlichen Höhen, die dunkle Zitadelle, die junge Firiel und den unnahbaren König Arvedui.
Aragorn erzählte von den Tagen des letzten Friedens in Arthedain, wie Firiels Sohn aufwuchs, von dem unglücklichen Schicksal der Prinzessin Sirina und den ersten Herausforderungen, denen sich Firiel als Königin gegenüber sah.
Das Volk verehrte seine Königin glühend. Die Jahre zogen ins Land und während Aranarth zu einem großen Krieger wurde, fand auch Firiel ihren Platz als Königin. Das Leben in Fornost hätte friedlich sein können, doch das Schicksal wollte es nicht so. Der Hexenkönig von Angmar war erwacht und er überzog Arthedain mit Krieg. Die tapferen Soldaten Arveduis suchten ihr Land zu verteidigen, doch sie fielen immer weiter zurück und schließlich stand der Feind vor den Toren Fornosts.
Die Sonne war bereits untergegangen, als Aragorn von den letzten Schlachten um Arthedain erzählte, von elbischen Städten und großen Heerscharen, die sich dem Hexenkönig entgegen stellten, von Brüdern, die Seite an Seite standen und von einer Königin, die bereit war, ihr Leben für ihr Volk zu opfern.
Der Krieg war vorbei, doch kein Reich existierte mehr, über dass meine Vorfahren hätten herrschen können. Doch Mut schöpften sie, denn trotz aller Dunkelheit hatten sie überlebt. Der König nahm den Titel Stammesführer der Dunedain an und mein Volk schwor, dass kein Feind ungestraft durch ihre Lande ziehen durfte. Seit dem wachen die Dunedain des Nordens über ihr altes Königreich, als Waldläufer, immer die Hoffnung nährend, dass der Schatten eines Tages für immer weichen wird.
Die Gefährten schliefen schon. Leises Schnarchen erfüllte die Höhle, vermischte sich mit dem Plätschern des Flusses. Thrain jedoch drehte sich noch ruhelos hin und her. Heute fiel es ihm äußerst schwer, einzuschlafen. Schließlich richtete er sich auf und strich sich das länger werdende Haar aus dem Gesicht.
Nicht weit entfernt erkannte er Aragorn, der die erste Wache der Nacht übernommen hatte.
Mit einem Seufzen stand er auf. Wenn er nicht schlafen konnte, konnte er dem Dunedain immerhin anbieten, die Wache zu übernehmen.
Er ging zu Aragorn hinüber, der den Kopf drehte und ihm entgegen blickte.
„Thrain.", begrüßte er den Zwerg und rückte ein Stück zur Seite.
„Aragorn.", erwiderte Thrain und setzte sich neben ihn.
„Leg dich ruhig hin.", bot er an, „Ich kann im Moment sowieso nicht schlafen."
Aragorn jedoch schüttelte den Kopf. „Zu viele Dinge gehen mir durch den Kopf.", erwiderte er, „Auch ich könnte keine Ruhe finden."
„Machst du dir Sorgen wegen unseres Auftrages?", fragte Thrain, doch erneut schüttelte der Waldläufer den Kopf.
„Tatsächlich ist es nicht das, was mich im Moment beschäftigt. Auch, wenn meine Gedanken oft um unser Ziel kreisen und wie wir dort am besten hin gelangen.", sagte er. Einen Moment blickte Aragorn schweigend ins Feuer. „Nein, die Geschichte, die ich den Hobbits erzählte, ließ mich erneut über meine Familie und den Weg, der vor mir selbst liegt, nachdenken."
„Firiel ist deine Vorfahrin. Du stammst in direkter Linie nicht nur von den Dunedain ab, die Arnor beherrschten, sondern auch von den Königen Gondors.", stellte Thrain fest. Er erinnerte sich der Politikstunden, die ihm Balin erteilt hatte, und die für ihn als Zwergling unglaublich langweilig gewesen waren. „Als Nachfahre Elendils bist du der rechtmäßige Erbe des Throns von Gondor. Nicht nur als letzter Nachfahre der Könige Arnors, sondern auch durch deine Verbindung mit dem Königshaus von Gondor, durch Firiel."
Er sah zu dem Mensch neben ihm und es schien ihm, als würde er den Mann zum ersten Mal wirklich sehen. Da saß nicht ein einfacher Waldläufer in abgerissener Kleidung vor ihm, sondern ein Nachfahre von Königen, ein Mann mit der Macht Königreiche zu vereinen.
Aragorn nickte langsam und ein langes Seufzen kam ihm über die Lippen.
„Ich wollte dieses Schicksal nie.", flüsterte er.
Ein bitteres Lächeln glitt über Thrains Gesicht. Oh, er verstand Aragorn zu gut. Auch auf den Menschen neben ihm wartete eine Aufgabe, um die er nie gebeten hatte, etwas, in das er hinein geboren worden war.
„Das Problem ist, dass man nicht gefragt wird, sondern durch die eigene Geburt der Weg schon festgelegt wurde, ob man das will oder nicht.", erwiderte er mit einem verständnisvollen Nicken.
Die Blicke der beiden Männer trafen sich.
„All die Erwartungen...", fuhr Thrain fort, „Es kann einen unter sich begraben, bis man meint ersticken zu müssen."
„Deswegen hast du den Erebor verlassen.", stellte Aragorn fest und der Zwerg nickte ruhig. Er blickte ins Feuer. „Ich konnte es nicht. Ich wollte es nicht mehr.", sagte er.
„Ich kann gut verstehen, wie du dich fühlst. Auch ich habe damit viel gehadert.", erwiderte Aragorn, „Doch mein Weg liegt nun vor mir und ich werde mich den Aufgaben stellen, die er birgt."
Thrain sah ihn an. „Dann wirst du nach Minas Tirith gehen?", fragte er.
Aragorn schüttelte den Kopf. „Frodo braucht mich. Ich kann ihn nicht allein lassen.", sagte er mit einem kurzen Blick zu den Halblingen, die sich schlafend aneinander kuschelten, um sich gegenseitig zu wärmen.
„Aber, sobald diese Aufgabe erfüllt ist, wird mich mein Weg nach Minas Tirith führen.", schloss der Dunedain.
„Und das obwohl du nicht aus freien Stücken dein Schicksal wählen konntest?", fragte Thrain.
Aragorn lächelte. „Ich wähle es aus freien Stücken.", erwiderte er. Sacht legte er eine Hand auf Thrains Schulter und dessen Blick fiel auf den uralten Ring an Aragorns Finger, in Gestalt zweier gekrönter Schlangen.
„Es ist unsere Verantwortung Thrain, zu entscheiden, ob wir das Schicksal, das man uns in die Wiege legte, annehmen, oder, ob wir in den Schatten sinken und unser Volk mit uns.", sagte er eindringlich.
Der Regen war über Nacht versiegt und so ließen die Gefährten am nächsten Morgen ihre Boote zu Wasser, gerade, als die Sonne die ersten Strahlen über die Steilklippen des östlichen Ufers schickte.
Ein frischer Duft von Regen lag in der kalten Luft. Fest in ihre Mäntel geschlungen saßen sie in den Booten und steuerten sie schweigend auf den Fluss hinaus und weiter gen Süden.
Thrain war tief in Gedanken versunken. Mit gerunzelter Stirn sah er vor sich auf das Wasser, das in leichten Wellen gegen den Bug schwappte. Doch er sah es gar nicht richtig. Das Gespräch mit Aragorn ließ ihn nicht los. Er konnte Aragorn sehr gut verstehen und war äußerst dankbar, jemanden gefunden zu haben, der ihn nicht verurteilte. Der Waldläufer allerdings hatte seine Entscheidung getroffen, er würde das Schicksal, das ihm durch seine Geburt zuteil geworden war, annehmen. Ob er eines Tages wirklich gekrönt werden sollte, als König von Gondor?
Thrain blickte zu Aragorn hinüber. Tatsächlich konnte er ihn sich gut als Herrscher vorstellen. Aragorn war nicht nur der Thronerbe von Gondor und Arnor, er war auch noch der geborene Anführer und ein großer Krieger, gerecht, weise und willensstark. Der Zwerg zweifelte nicht einen Moment daran, dass Aragorn die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Doch was war mit ihm? Er war der Thronerbe des Erebor. Nun, da gab es immer noch Frerin... Thrain schüttelte leicht den Kopf. Nein, Frerin war ein guter Mann, ein vorbildlicher Prinz und viel besserer Sohn als er selbst es war, aber er war nicht der Thronfolger und er war dazu auch nicht geschaffen. Im Gegensatz zu ihm... Stimmte das?
„Was schüttelst du den Kopf?", unterbrach Pippin da von hinten seinen Gedankengang.
Thrain drehte sich etwas herum, sodass er den jungen Hobbit, den er, wie alle anderen der Gemeinschaft, sehr ins Herz geschlossen hatte, sehen konnte. „Ach, mir ist nur etwas im Kopf geblieben, was Aragorn gestern sagte.", erwiderte er mit einem schwachen Lächeln.
Sein Blick fiel auf Boromir. Auch dieser sah nachdenklich aus. Seine Augen waren auf Aragorns Rücken vor ihnen gerichtet, eine Dunkelheit und Traurigkeit lag darin, die Thrain irritierte. Einen Moment lang sah er den Krieger an, der seinen Blick jedoch nicht bemerkte. Was Boromir wohl beschäftigte?
Er wandte sich ab und widmete sich wieder dem Fluss vor ihm und seinen eigenen Gedanken.
Die Stunden vergingen und die Sonne zog langsam über den Himmel, während die Gemeinschaft schweigend weiter dem Anduin folgte. Das Wasser wurde stetig schneller, sodass aus dem gemächlichen Fahren der Boote ein deutlicher flotteres Dahinschnellen wurde.
Sie mussten die Paddel nun weniger zum Antreiben als viel mehr zum Steuern und Bremsen einsetzen, während die Boote nur so dahin zischten. Wasser spritzte auf und Wellen ließen die elbischen Gefährte hin und her wanken. Mit sorgenvollem Blick sahen die Hobbits sich um, während alle anderen bemüht waren, die Boote unter Kontrolle zu halten. Sam klammerte sich mit käseweißem Gesicht am Holz fest. Das Rauschen des Flusses wurde lauter und wilder, während es in wilder Fahrt immer weiter ging. Platschend schlug das Wasser gegen die Planken und schwappte über den Bootsrand, die Insassen immer wieder in einen Sprühnebel hüllend.
„Stromschnellen!", rief Aragorn vom vordersten Boot her, „Stromschnellen voraus!"
„Rudert!", rief Boromir laut, „Ihr müsst weiter rudern, sonst verliert ihr die Kontrolle!"
Thrain beugte sich nach zur Seite. An Legolas und Gimli vorbei, die im mittleren der Boote saßen, konnte er die Stelle sehen, auf die Aragorn wies. Wild schwappte hier das Wasser über unruhigen Grund. Sprudel und Wellen wechselten sich ab, zwischen Steinen, die drohend empor ragten.
Pfeilschnell schossen die Boote auf die Hindernisse zu. Das Paddel wurde Thrain fast aus der Hand gerissen, als er es in das Wasser tauchte. „Nach rechts!", brüllte Boromir hinter ihm, als sie auf einen Stein zuschnellten. Haarscharf schrabbte das Boot an dem Fels vorbei. Wasser schwappte, eine Welle brach über den Bootsrand und durchweichte Thrains Mantel. Pippin schrie ängstlich auf.
Eine weitere Welle hob das Boot an, mit einem Platschen fiel es zurück aufs Wasser. Da war schon der nächste Stein. Mit großer Mühe steuerten sie daran vorbei.
Thrain achtete kaum auf die anderen Boote. Zu sehr musste er sich darauf konzentrieren, in stetigem Schlag weiter zu paddeln. Boromir brüllte Anweisungen, sie vermischten sich mit dem Rauschen und Plätschern des Wassers und den Rufen ihrer Gefährten.
Da ertönte ein lauter Knall und Thrain riss den Kopf in die Höhe.
Vor ihnen prallte das Boot, in dem Legolas, Merry und Gimli saßen gegen einen Felsen. Unnachgiebig drückte das Wasser dagegen und bevor auch nur einer der beiden Insassen reagieren konnten, kenterte das Boot.
„Legolas! Gimli! Merry!", brüllte Aragorn, doch er war bereits an der Stelle vorbei, konnte nicht helfen, so sehr er auch versuchte, seine wilde Fahrt abzubremsen.
Da tauchte auch schon Legolas Kopf aus den Fluten auf. Neben ihm erschien Merry. Zusammen mit dem Boot wurden beide weiter getrieben.
„Gimli!", rief der Elb, er stemmte sich gegen die Wassermassen. Doch vergeblich. Zu stark war der Fluss, der ihn unerbittlich weiter schob, hinüber zu Aragorn, der bereits die Hand nach Merry ausstreckte, um zu helfen.
Thrain starrte auf die Stelle, wo Gimli verschwunden war und noch immer nicht auftauchte. Er musste nicht überlegen. Ohne zu zögern, warf er sich ins Wasser. Boromirs und Pippins Aufschrei beachtete er nicht.
Das Wasser ergriff ihn mit unglaublicher Kraft. Eiskalt schlossen sich die Wogen um ihn. Mit einem Japsen durchstieß er die Wasseroberfläche. „Gimli!", rief er. Das Boot mit Boromir und Pippin schoss davon, außer Reichweite. Und ihn drückten die Stromschnellen unbarmherzig weiter.
Er tauchte unter und da sah er ihn! Gimli, den seine Rüstung unter Wasser zog, der nicht gegen die Fluten ankam.
Mit einem kraftvollen Schwimmzug näherte er sich dem Zwerg, streckte die Hand aus und ergriff den Kragen Gimlis.
Da wurde er von der gleichen Strömung, die auch seinen Freund unter Wasser hielt, gepackt und voller Wucht gegen den Felsen geschleudert. Sterne tanzten vor seinen Augen, die Luft wurde aus seinen Lungen gepresst. Wild um sich rudernd schluckte er Wasser, doch er wagte es nicht, Gimli los zu lassen. Die Augen weit aufgerissen sah er sich um, versuchte sich zu orientieren. Doch da war nur grünbraunes Wasser und Luftblasen und Fels um ihn her. Er wusste nicht, wo oben oder unten war. Panik erfüllte ihn, während er versuchte gegen den Fluss anzukämpfen, der ihn weiter nach unten drückte.
Da erblickte er Gimli, der ihn voller Angst anstarrte und ebenso sich mühte, an die Wasseroberfläche zu gelangen. Thrains Lungen brannten. Er brauchte Luft! Jetzt! Ihm wurde schwindlig und er merkte schon, wie Gimlis Bewegungen neben ihm schwächer wurden.
Nein, er durfte nicht aufgeben! Er musste kämpfen!
Da, mit einem Mal fanden seine Füße Grund, wunderbar fester Stein, der sich unter seinen Stiefeln befand. Mit einem Stoß der Verzweiflung drückte er sich und Gimli weg und er fühlte, wie ein anderer Sog sie mit sich zog, weg von dem Stein.
Und da stieß sein Kopf durch die Wasseroberfläche und wunderbar kalte, klare Luft strömte in seine Lungen. Er zerrte Gimli in die Höhe, der japsend und keuchend neben ihm auftauchte. Noch immer nach Luft ringend klammerten die beiden sich aneinander, während der Fluss sie weitertrieb, auf die anderen zu, wo sich Hände nach ihnen ausstreckten und ihre Gefährten nach ihnen riefen.
Kaum bekam Thrain mit, wie man nach ihm und Gimli griff und die Boote zum Ufer steuerte. Am ganzen Leib zitternd klammerte er sich an das Holz, als er dann endlich Boden unter den Füßen spürte. Er streckte eine Hand nach Gimli aus und beide wankten an Land, wo sie im seichten Wasser zusammen brachen.
Nach Atem ringend lagen sie nebeneinander, während die anderen die Boote ans Ufer zogen.
Thrain drehte sich herum und sah Gimli an. „Bist du verletzt?", fragte er. Doch sein Freund schüttelte den Kopf. „Du hast mir mein Leben gerettet.", erwiderte Gimli. Thrain lächelte, „Das hättest du auch für mich getan.", winkte er ab.
Eine unglaubliche Erleichterung durchflutete ihn und ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Er lachte auf und Gimli lächelte erst verhalten, dann begannen sie beide befreit zu lachen.
Bạn đang đọc truyện trên: Truyen247.Pro