Auf Adlers Schwingen
Schweigend standen Thrain, Aragorn, Legolas und Gimli um den gefallenen Boromir herum. Keiner konnte so recht begreifen, was geschehen war.
Trauernd betrachtete Thrain die Züge des Toten. Vor seinem inneren Auge spielten sich noch immer die Szenen des Kampfes mit den riesigen Orks ab, sah er Frodo verschwinden und hörte er Boromirs im Sterben geflüsterte Worte. Sein Herz schmerzte bei dem Verlust des Freundes.
„Sie werden nach im Ausschau halten auf dem weißen Turm.", durchbrach Aragorn die Stille, „Doch wird er nicht kommen. Nie wieder wird das Horn Boromirs über die Ebene des Pelennor hallen, um seine Heimkehr zu verkünden."
„Wir sollten ihm ein Begräbnis bereiten.", sagte Thrain, „Eines, das einem Sohn Gondors würdig ist."
Die anderen nickten und so trugen sie Boromir zurück zu den Booten, wo sie ihn zusammen mit den Waffen seiner getöteten Gegner in eines hinein legten. Thrain legte das gespaltene Horn neben den Leichnam und Aragorn faltete die Hände des Toten um seinen Schwertgriff.
Sachte schoben sie das Boot vom Ufer ins Wasser, wo es von den Fluten des Anduin rasch nach Süden getragen wurde. Schweigend verfolgten sie das kleine Gefährt, wie es immer schneller auf den Rauros Wasserfall zuschoss und schließlich verschwand.
Legolas trat auf das letzte Boot zu. „Wir müssen uns beeilen, wollen wir Frodo und Sam noch einholen.", sagte er.
Doch Aragorn schüttelte den Kopf, die Miene noch immer voller Kummer über den Tod Boromirs. „Der Ring ist nicht mehr in unserer Reichweite.", erklärte er, „Frodo und Sam werden einen Weg auch ohne uns finden."
„Dann ist dies also das Ende der Gemeinschaft?", fragte Gimli ungläubig, „Haben wir versagt? Wohin sollen wir uns dann wenden?"
Nachdenklich blickte Thrain auf das Wasser des Anduin. Wohin sollten sie sich wenden? Frodo war fort, er würde ihm nicht weiter folgen. Wohin nun?
Der Anblick des Erebor, wie er ihn eben noch auf der Bergspitze erblickt hatte, stieg wieder in ihm auf. Belagert, von Feinden umringt sah er erneut die Zwerge vor sich, wie sie um ihr Überleben kämpften. Sein Volk, seine Familie...
Und mit einem Mal war sein Weg klar.
Viel zu lange war er fort gewesen. Weg waren all die Ängste, all die Zweifel, ob seine Familie ihn akzeptieren würde. Dort war sein Platz, er gehörte zu seinem Volk. Enormes Heimweh stieg mit einem Mal in Thrain auf. Sie brauchten ihn. Er würde nach Norden reisen, der Prinz unter dem Berge würde heimkehren.
„Ich werde nach Norden reisen.", verkündete er plötzlich.
Die anderen drei sahen zu ihm.
„Ich habe den Erebor gesehen.", fuhr Thrain fort und blickte zu Gimli, „Ich habe all das Leid gesehen, das unserem Bolk widerfährt. Meine Familie braucht mich dort, mein Volk braucht mich. Viel zu lange war ich weg..."
Er streckte eine Hand aus und packte Gimlis Arm. „Komm mit mir, Gimli!", sagte er, „Lass uns gemeinsam kämpfen und unsere Heimat verteidigen!"
Gimli lächelte und legte seine Hand auf Thrains Schulter.
„Du glaubst gar nicht, wie glücklich es mich macht, zu hören, dass du heimkehren wirst, Thrain.", sagte er, „Doch ich habe in Imladris einen Eid geschworen, der Gemeinschaft treu zu bleiben."
Sein Blick wanderte nun zu Aragorn, der Thrain mit einem Lächeln ansah.
„Wir werden Merry und Pippin nicht Folter und Tod überlassen.", sagte der Waldläufer, „Wohin uns unser Weg dann führen wird, kann ich nicht sagen, vermutlich weiter nach Süden. Doch, wenn der Erebor fällt, ist auch der Ringträger in Gefahr."
Thrain grinste. „Ihr werdet die Orks, die unsere Freunde gefangen genommen haben, nicht entkommen lassen.", erwiderte er und Aragorn nickte.
Er neigte den Kopf vor Thrain. „Halte den einsamen Berg mein Freund. Wir werden das Gleiche im Süden tun.", sprach er zum Abschied.
Nach einander verabschiedete Thrain sich von seinen Gefährten. Gimli zog ihn in eine ruppige Umarmung. „Ich bin dankbar, dass wir uns so wieder begegnet sind, Gimli.", sagte Thrain leise, sein Freund nickte und erwiderte: „Möge Mahal mit dir sein, Thrain."
Sein Gepäck warf er in das verbliebene Boot, dann schob er es ins Wasser und schwang sich hinein.
Zu einem letzten Gruß hob er die Hand und blickte zu seinen Freunden zurück, die nun im Wald verschwanden, drei graue Gestalten zwischen den Bäumen.
Kraftvoll tauchte Thrain das Paddel ins Wasser und steuerte das Boot zum östlichen Ufer. Nach Hause... Zum Erebor...
Am östlichen Ufer des Anduin sah er schnell, wo Frodo und Sam ihr Boot an Land gezogen und notdürftig im Gebüsch verborgen hatten. Mit einem schwachen Lächeln stieg er aus und sammelte seine Ausrüstung ein. Rasch hatte er seine Waffen, das Reisebündel und den elbischen Umhang angelegt, die Handgriffe, die ihn für einen Aufbruch bereit machten, waren ihm schon vor Monaten in Fleisch und Blut übergegangen.
Dann versetzte er seinem Boot einen kräfitgen Stoß, sodass es zum Rauros getragen wurde. Das gleiche machte er mit dem Boot der beiden Hobbits. So würde es für Verfolger noch schwerer werden, ihre Spur zu finden.
Kurz folgte sein Blick den Fußabdrücken der zwei, wie sie sich vom Ufer entfernten und östlich den Hang erklommen. Er hoffte inständig, dass es beiden gut ergehen und er sie vielleicht eines Tages wiedersehen würde.
Dann wandte Thrain sich nach Norden und er begann seinen Heimweg.
Nach einigen Stunden hatte er die Kuppe der Hügelkette neben dem Fluss erreicht. Zu seiner Rechten erhoben sich die Berge der Emyn Muil und vor ihm konnte er undeutlich am Horizont die braunen Lande erblicken, die südlich des Erebor lagen. Von dort war es immer noch eine weite Strecke bis zum langen See und seiner Heimat.
Die Sonne versank im Westen und mit ihr auch Thrains Zuversicht. Was hatte er sich da vorgenommen? Wochen, wenn nicht sogar Monate, würde er unterwegs sein. Wie sollte er da rechtzeitig zum einsamen Berg kommen, um seiner Familie beistehen zu können?
Ratlos suchte er sich einen Lagerplatz und entzündete ein Feuer. Die Nacht brach herein und noch immer tief in Gedanken nahm Thrain etwas Lembasbrot zu sich.
Ihm fiel einfach keine Lösung für sein Dilemma ein. Alles, was ihm blieb war, so schnell wie es ihm nur möglich war, gen Norden zu reisen. Er hatte genug Vorräte für eine gewisse Zeit, sodass er also nicht genötigt war, jagen zu müssen. Doch es würde dennoch lange dauern, bis er sein Ziel erreichte.
Die ganze Nacht hindurch warf Thrain sich nachdenklich von einer Seite auf die andere. Schlaf wollte sich nicht so recht einstellen. Denn wie er es auch drehte und wendete, er würde zu spät kommen!
Der Morgen brach an und schnell machte der Zwerg sich zum Aufbruch bereit. Er verbarg das restliche Feuer unter Erde und richtete seinen Mantel. Da streiften seine Finger über die kleine Phiole, die ihm Galadriel geschenkt hatte. Und mit einem Mal verharrte Thrain in der Bewegung, als die Worte der Elbin in ihm nachhallten.
„Die Zeit deiner Entscheidung steht dir noch bevor. Du wirst Hilfe benötigen, Thrain, Thorins Sohn. Wenn die Zeit reif ist, zerbreche dieses Glas. Doch nutze es weise, denn nur einmal wird Hilfe zu dir eilen können."
Nun verstand er. Damals hatte er nicht gewusst, wovon Galadriel gesprochen hatte. Aber jetzt war er sich sicher, dass sie bereits geahnt hatte, dass er sich dazu entscheiden würde, heimzukehren.
Rasch nestelte er die Phiole hervor und sah nachdenklich darauf hinab. Hilfe würde zu ihm kommen, wenn er dieses Glas zerbrach.
Was für Hilfe? Wer würde kommen? Und würden sie ihm helfen, zum Erebor zu gelangen?
Seine Finger strichen über die zarten Federgravuren und lange betrachtete er den wirbelnden blauen Dunst in der Phiole. Eine vage Vermutung stieg in ihm auf, wer zu ihm kommen würde.
Mit klopfendem Herzen legte er die Hände um das Glas. Nur einmal wird Hilfe zu ihm eilen können... Sollte er es sich nicht lieber aufheben? Wäre es nicht weiser, zu warten?
„Ich muss nach Hause.", flüsterte er zu sich selbst, dann zerbrach er die Phiole.
Der blaue Dunst entwich dem Glas und verflog wie zarter Nebel unter der Morgensonne. Einen Moment passierte gar nichts und Thrain ließ bereits enttäuscht den Kopf sinken.
Da zerriss der schrille Schrei eines Adlers die Luft und der Zwerg hob den Blick.
Tatsächlich, da kam einer der riesenhaften Adler, von dem seine Mutter ihm erzählt hatte, auf ihn zu geflogen.
Noch nie hatte Thrain ein derart gewaltiges Tier gesehen. Selbst seine kühnsten Vorstellungen, die er sich von den Adlern Manwes gemacht hatte, wurden übertroffen. Mit mächtigen Flügelschlägen näherte der Adler sich Thrain, sodass ein wahrer Sturm auf der Kuppe auf der Thrain sich befand entfesselt wurde.
Instinktiv duckte Thrain sich, während er mit weit aufgerissenen Augen nach oben blickte. Der Adler bremste nun seinen Flug ab, dann landete er direkt vor dem Zwerg. Seine Krallen kratzten mit einem Quietschen über den Stein und zogen tiefe Furchen in die Erde. Er legte die Flügel an und blickte auf Thrain hinab.
Dieser schluckte und zwang sich dem Blick aus den goldenen Augen, die ihn eindringlich über den scharfen Schnabel hinweg mustertern, stand zu halten.
Die Adler hatten in der Schlacht der fünf Heere gekämpft, also würde dieser hier ihm freundlich gesinnt sein, oder?
„Wie ist diese Phiole in deine Hände gelangt, Zwerg?", erklang da die dunkel grollende Stimme des Adlers. Seine Schnabel klackte bedrohlich nah vor Thrains Gesicht, als sich das mächtige Tier zu ihm hinab beugte. „Wie kommst du dazu, einen der unseren herbei zu rufen, um dir zu Diensten zu sein?"
Thrain neigte den Kopf. Auf der flachen Hand hielt er dem Adler die zerbrochene Phiole entgegen. Dann, einem Impuls folgend, sank er auf ein Knie hinab.
„Ich weilte diesen Winter in Lothlorien. Die Herrin Galadriel nahm mich auf und als ich ihr Reich vor einigen Tagen verließ, überreichte sie mir diese Phiole als Geschenk, zusammen mit diesem Mantel und einem alten Schwert, das einst von einem meiner Vorfahren geschmiedet wurde.", erklärte er mit ehrfürchtiger Stimme. Inständig hoffte er, dass der Adler ihm glaubte und ihn nicht des Diebstahls bezichtigte.
Langsam hob er den Kopf und sah den Vogel an.
Der betrachtete ihn lange nachdenklich. Sein Blick glitt über die Phiole in Thrains Hand und die Brosche, die den grauen Elbenmantel des Zwerges zusammen hielt.
„Mein Name ist Thrain, Sohn Thorin Eichenschilds. Ich bin Prinz unter dem Berge und will nach langer Zeit in meine Heimat zurück kehren.", fuhr er fort, „Die Herrin gab mir diese Phiole und sagte, wenn ich Hilfe brauche, solle ich sie zerbechen."
Der Adler richtete sich wieder auf und raschelte leise mit den Federn. „Keine Lüge liegt in deinen Augen, Thrain, Thorins Sohn. Einen Adler Manwes kann man nicht hinters Licht führen. Wenn du unter dem Schutz der Herrin standest, werden auch die Adler dir ihre Hilfe nicht verweigern. Was ist also dein Begehr?"
Von ungluablicher Erleicherterung durchflutet richtete Thrain sich wieder auf.
„Ich muss den Erebor erreichen, bevor die Dunkelheit über den Berg herein bricht. Doch habe ich Angst, zu spät zu kommen.", erwiderte er.
Und tatsächlich ging der Adler vor ihm in die Knie, breitete die Flügel aus und sagte: „Steig auf, Thrain. Ich werde dich gen Norden tragen."
Für einen Moment war Thrain zu überrascht, um zu reagieren. Dann beeilte er sich, der Anweisung Folge zu leisten und näherte sich dem Vogel, der so viel größer war als er selbst. Umständlich kletterte er auf den Rücken des Adlers und rückte seine Sachen zurecht. „Reiß nicht an den Federn!", warnte ihn dieser scharf, doch das musste er Thrain nicht sagen, der bereits verzweifelt überlegte, wo er sich festhalten sollte.
Dann stieß sich der Adler bereits ab und schoss in die Höhe.
Nur mit Mühe unterdrückte Thrain einen überraschten Schrei, als er so in die Luft katapultiert wurde. Hektisch klammerte er sich fest, fürchtete, herunter zu rutschen und in die Tiefe zu trudeln.
„Ich lass dich schon nicht fallen!", rief der Adler verärgert, „Hör auf so zu klammern wie ein verängstigtes Eichhörnchen!"
Vollkommen überwältigt rang Thrain nach Atem. Sein Puls raste. Eiskalter Wind schlug ihm ins Gesicht und ließ seine länger werdenden Haare und den Mantel hinter ihm her flattern. Sie waren so hoch oben... Es rauschte ihm in den Ohren. Unter sich spürte er die kraftvollen Flügelschläge des Vogels.
Ganz vorsichtig beugte er sich ein Stück nach vorne und spähte nach unten. Sofort wurde ihm übel. Da war ihm jeder Mallornbaum in Caras Galadhon lieber!
Er riss den Kopf wieder zurück und konzentrierte sich auf den Kopf des Adlers vor ihm.
Und so sah Thrain nicht, wie klein die mächtigen Argonath plötzlich von oben waren, welch schmales Band der Anduin doch war, während er sich durch die Lande schlängelte und wie Wälder, Hügel und Seen unter ihnen dahin schrumpften.
Zu seiner Linken erblickte er die Kette der Nebelberge, immer noch größtenteils in Schnee gehüllt. Bald würde auch in den Bergen der Frühling einkehren.
Der Adler folgte dem Verlauf des Anduin nach Norden. Seine mächtigen Flügel rauschten durch die Luft und trugen ihn schnell fort vom Rauros Wasserfall.
Das Reich von Lothlorien blieb als schimmernder Wald hinter ihnen zurück und Wilderland breitete sich vor ihnen aus, wo Thrain in Nebelgrund gelebt hatte und bei den Beorningern zu Gast gewesen war.
Der eiskalte Wind schlug Thrain ins Gesicht. Sie flogen durch niedrig hängende Wolken und bald war seine Kleidung klamm und kalt, sodass er leicht zu frösteln begann.
Vorsichtig wagte er nun wieder, sich umzusehen, auch wenn er noch immer etwas verkrampft auf dem Rücken des Adlers saß und es vermied, direkt nach unten zu sehen.
Er war so weit oben, die Welt lag so klein und tief unter ihm. Es war seltsam so von oben auf die Lande Mittelerdes hinab zu blicken. Dinge, die ihm vorher riesig erschienen waren, schienen nun eher unbedeutend und klein zu sein. Von hier oben stellte sich die ganze Welt anders dar und er konnte verstehen, warum die Adler es bevorzugten, zurück gezogen in ihren Horsten zu leben und sich nicht in die Belange der Völker Mittelerdes einmischten.
Er sah hinab auf das Tal des Anduin, wo der Fluss in trägen Schleifen sich seinen Weg ziwschen Hügeln, kleinen Wäldern und vereinzelten Feldern suchte. Hin und wieder erspähte er eine kleine Ansammlung an Häusern, Bewohner konnte er aus der Entfernung jedoch nicht erkennen.
„Dort ist der Düsterwald.", sagte der Adler plötzlich und ruckte mit dem Schnabel zu seiner Rechten hin. Dabei flog er eine Kurve und näherte sich dem Nebelgebirge.
Thrains Blick ging in die gewiesene Richtung, hin zum Südzipfel des Waldes. Zwar war er nur teilweise elbischen Blutes, doch konnte er ohne Mühe erkennen, dass dieser Teil des Düsterwaldes krank war. Die Bäume sahen verkümmert aus und ein Schatten schien zwischen ihnen zu wabern. Ein Gefühl von Kälte ergriff Thrain, wie er so zu dem Wald hinüber blickte. Der Adler hielt deutlich Abstand von dem Wald, der so offensichtlich nun vom Bösen beherrscht wurde und folgte weiter dem Fluss.
Plötzlich fiel Thrains Blick auf einen Hügel, der sich zwischen den Bäumen des Düsterwaldes erhob. Auf dessen Spitze thronte eine zerfallene Festung, deren bloßer Anblick bei Thrain Gänsehaut auslöste. Dunkelheit lag über diesen Türmen, die wie ein Gerippe sich gen Himmel streckten. Böses lauerte dort.
Schaudernd wandte Thrain den Blick ab. Er musste nicht den Adler fragen, um zu wissen, welche Festung er dort gesehen hatte. Das war Dol Guldur, wo sein Großvater ermordet wurde und Gandalf, der Freund seiner Eltern, in Gefangenschaft gewesen war.
Sie flogen weiter und die Stunden verstrichen. Dol Guldur war bereits hinter ihnen zurückgefallen, als der Adler endlich nach Osten abbog und den Anduin hinter sich ließ.
Unter ihnen breitete sich nun der grüne Ozean des Düsterwaldes aus. Ruhig und kraftvoll schlugen die Flügel des Adlers und trug ihn weiter über den Wald hinweg.
Thrain richtete den Blick gen Horizont und da erblickte er ihn.
Zum ersten Mal seit über einem Jahr sah er den Erebor vor sich. Majestätisch, so wie er ihn in Erinnerung hatte, reckte sich der einsame Berg gen Himmel, die schneebedeckte Spitze von Wolken verhüllt. Thrain meinte schon, das Horn des Berges hören zu können.
Noch war der Erebor weit entfernt, doch kam er mit jedem Flügelschlag näher.
Eine Sturmflut an Gefühlen brach über Thrain herein. Dort war sein Zuhause. Er konnte es kaum erwarten, wieder durch das große Portal des Erebor zu gehen, wieder durch die Hallen des Berges zu gehen, das vertraute Gestein unter seinen Fingern zu spüren. Und seine Familie... Wie sehr er sie doch alle vermisste. Doch wie würden sie ihn willkommen heißen? Und wie war es ihnen ergangen in den letzten Monaten, in denen auch sie zweifellos unter dem Krieg gelitten hatten.
Atemlos hielt er den Blick auf den Berg gerichtet, der langsam immer näher kam, während der Adler den Wald überquerte.
Sie waren nicht mehr weit vom Ostrand des Düsterwaldes entfernt und Thrain sah bereits den langen See in all seiner Größe vor sich, als der Adler plötzlich mit dem Schnabel nach Süden deutete.
„Dort wird gekämpft!", sagte der Vogel. Alarmiert drehte Thrain den Kopf und konnte auf einer Lichtung Kämpfer ausmachen, die in ein wildes Gefecht verstrickt waren. Er sah die dunklen Mäntel von Elben und die brutal um sich schlagenden Orks. Voller Entsetzen erkannte er auch Spinnen unter den Kämpfenden.
„Ein Zwerg ist unter den Elben.", stellte der Adler verwundert fest.
„Ein Zwerg?", echote Thrain und kniff die Augen zusammen. Er war sich sicher, dass dies ein Zwerg des Erebor sein würde. Soweit er es von hier oben feststellen konnte, sah es für die Verteidiger des Düsterwaldes nicht übermäßig gut aus.
„Flieg hin!", rief er dem Adler zu, „Ich muss ihnen helfen!"
Er war mittlerweile nahe genug am Erebor, schnell würde er den Berg erreichen. Doch hier wurde gekämpft und er konnte einfach nicht tatenlos weiterziehen!
Sofort drehte der Adler nach Süden ab und ging in einen raschen Sinkflug. Thrain zog seine Axt, während sie sich dem Kampf schnell näherten. Unter ihm neigte sich der Vogelkörper gen Erde, der Wald kam immer näher. Jetzt wurden Rufe laut, man hatte sie gesehen. Pfeile schossen an dem Adler vorbei, der mit einem Krachen am Rand der Lichtung aufsetzte.
Thrain glitt vom Rücken des Tieres und rollte sich unter dem ersten Schlag eines Angreifers hindurch, kam auf die Füße und hieb mit seiner Axt nach dem ungeschützten Rücken des Orks.
Hinter ihm ging der Adler mit einem wilden Kreischen zum Angriff über.
Thrains Blick schoss über die Lichtung. Elben, in die typischen grünen und braunen Mäntel der Waldelben gekleidet, kämpften verbissen gegen eine riesige Horde Orks. Spinnen, Trolle und Warge bedrängten die Verteidiger ebenso.
Voller Überraschung erkannte Thrain, dass nicht nur Elben, sondern auch Tiere sich den Feinden entgegen stellten. Da waren vier Wölfe, die knurrend auf einen Warg los gingen. Ein riesiger Hirsch rammte sein Geweih in den Bauch einer Spinne und sicher ein dutzend Marder gruben ihre spitzen kleinen Zähne in die Beine eines Trolles.
Doch noch bevor er sich weiter wundern konnte, rannte ein weiterer Troll mit lautem Brüllen auf ihn zu. Auch eine Gruppe Orks näherten sich ihm und dem Adler, der mittlerweile von mehreren Seiten attackiert wurde.
„Durin!", schrie Thrain und warf sich dem Troll entgegen. Eine riesige Keule kam auf ihn zugerauscht. Er riss den Kopf nach unten weg, tauchte unter dem Schlag durch und hieb mit voller Kraft seine Axt gegen die Knie des Trolls. Dieser brüllte voller Zorn auf und bückte sich nach dem Zwerg, der jedoch zu schnell für ihn war. Thrain war schon hinter dem Troll. Er sprang auf einen Felsblock und von da an den Rücken seines Gegners.
Wild schüttelte der sich und versuchte, Thrain zu greifen. Verzweifelt klammerte er sich fest und zog sich weiter nach oben. Dann führte er einen Streich seiner Axt gegen den Hals des Trolls. Blut sprudelte hervor, als sich die Axt in das Trollfleisch grub. Der Koloss wankte und kippte dann auf die Knie.
Thrain wurde von seinem Rücken geschleudert und purzelte auf den Boden. Hart schlug er auf und für einen Moment drückte es ihm die Luft aus den Lungen.
Blinzelnd rappelte er sich hoch und sah sich um. Der Troll lag erschlagen am Boden. Nicht weit von ihm entfernt schlug der Adler einen Angreifer nach dem nächsten zu Boden und dahinter erblickte Thrain den Zwerg, den der Vogel vorhin schon gesehen hatte.
Sein Herz schien fast stehen zu bleiben.
„Rhon!", schrie er. Sein jüngster Bruder wurde von drei Orks immer weiter zurück gedrängt. Er wehrte sich nach Leibeskräften, doch war er nach wie vor kein übermäßig guter Kämpfer.
Thrain dachte nicht nach. Er stand auf und rannte los.
Mit einem zornigen Brüllen warf er sich auf die Orks, die seinen kleinen Bruder bedrohten. Wild schlug er mit der Axt um sich, fällte einen von ihnen sofort und baute sich schützend vor Rhon auf.
Die anderen beiden sahen ihn an und entschieden, dass der junge Zwerg es nicht wert war, sich gegen diesen wütenden Krieger zu behaupten und wandten sich zur Flucht.
Sie waren nicht die Einzigen. Die Ankunft Thrains und des Adlers hatte das Blatt gewendet und überall flohen die Angreifer nun wieder in den Wald.
Erleichtert ließ Thrain die Axt sinken und drehte sich um. Sein Bruder starrte ihn an, als würde er einen Geist sehen.
„Th... Thrain?", stammelte er.
Doch er kam nicht weiter. Mit einem Schritt war Thrain bei seinem Bruder und zog Rhon in eine knochenbrechende Umarmung.
„Rhon!", sagte er, „Bei Mahal, bin ich froh, dass es dir gut geht!"
Rhon erwiderte die Umarmung und für einen Moment standen die beiden Brüder einfach nur da und hielten sich fest.
Dann löste Rhon sich von Thrain und sah ihn noch immer voller Verwirrung an. Thrain musterte den kleinen Bruder.
Rhon war in den letzten Monaten deutlich erwachsener geworden, auch wenn er genau genommen noch immer minderjährig war. Gekleidet war er wie ein Elb, das lange schwarze Haar hatte er in einfachen Flechten nach hinten gebunden und eine Ernsthaftigkeit lag in seinem Blick, die nicht zu seinem zarten Alter passte.
„Was machst du hier?", fragte Rhon, „Wo warst du all die Monate?"
Thrain öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Ihm fehlten die Worte.
„Rhon...", begann er dann leise und legte eine Hand auf die Schulter seines Bruders, „Es tut mir so leid. Ich... Ich kann nicht wieder gut machen, dass ich fort gegangen bin. Vater und ich hatten einen entsetzlichen Streit und ich hätte nicht einfach euch alle verlassen sollen. Ich hoffe, dass ihr mir irgendwann verzeihen könnt."
Er verstummte und suchte den Blick seines Bruders.
„Warum bist du nun hier?", fragte dieser.
„Ich weiß jetzt, wo ich hingehöre. Es hat lange gedauert, bis ich erkannt habe, dass mein Platz bei euch ist, im Erebor, bei meinem Volk und meiner Familie. Und deswegen bin ich zurück gekehrt.", antwortete Thrain und tatsächlich sah er ein schwaches Lächeln im Gesicht Rhons.
„Warum bist du hier im Düsterwald?", fragte er nun.
„Vater bat mich, hier an Kilis Stelle ihn als seinen Diplomaten zu vertreten. Nun, da auch die Elben angegriffen werden, bin ich aber schon seit einigen Monaten mehr Krieger als Botschafter.", erklärte Rhon.
„Komm mit mir!", sagte Thrain, „Komm mit mir nach Hause, Rhon!"
Doch der junge Zwerg wandte den Kopf zur Seite zu den Elben, die nun auf der Lichtung hin und her gingen und nach Verwundeten suchten.
„Ich... ich kann nicht, Thrain.", erwiderte er, „Weißt du... Ich gehöre auch hierher."
In dem Moment kam eine rothaarige Elbin auf sie zugelaufen. „Rhon! Rhon, bist du verletzt?", rief sie und Thrain ahnte, was sein Bruder ihm eben versucht hatte, zu sagen.
Da sah er sich die Elbin genauer an und erkannte voller Staunen die Frau, die ihn vor über einem Jahr durch den Düsterwald geführt hatte, Amaya.
Auch sie erblickte ihn nun und zog verwirrt die Stirn kraus.
„Amaya!", sagte Rhon, „Dies ist mein Bruder, Thrain, der Thronfolger des Erebor."
Amaya blieb vor ihnen stehen und sah auf Thrain hinab. „Wir kennen einander.", sagte sie und Rhon sah verwirrt zwischen ihnen hin und her. „Warum habt ihr euch nicht zu erkennen gegeben, Thrain?", fragte die Elbin nun.
Thrain presste die Lippen aufeinander, dann erwiderte er: „Ich wollte nicht, dass man weiß, wer ich bin."
Einen Moment schwiegen die drei, da erklang plötzlich die Stimme des Adlers.
„Ich werde dich nun verlassen, Thorins Sohn.", sagte der Vogel und blickte auf Thrain hinab, „Du bist deinem Ziel nun sehr nahe."
„Habt Dank für alles.", erwiderte Thrain und verneigte sich ehrfürchtig vor dem Adler, der mit einem letzten Blick auf sie alle sich in die Lüfte erhob.
„Du solltest aufbrechen.", sagte Rhon da, „Sie brauchen dich im Berg."
Thrain sah seinen Bruder an. „Bist du sicher, dass du mich hier nicht brauchst oder dass du nicht mitkommen willst?", fragte er.
Rhon schüttelte lächelnd den Kopf. „Wir kommen hier gut zurecht. Beeil dich Thrain. Ich halte dir hier den Rücken frei.", erwiderte er.
Die zwei Brüder umarmten sich ein letztes Mal, Thrain nickte Amaya kurz zu, dann wandte er sich gen Osten und trabte im Laufschritt in den Wald hinein.
Er war nicht lange unterwegs, bis endlich die Bäume des Düsterwaldes zur Seite wichen und Thrain auf eine freie Fläche trat.
Kurzes braunes Gras bedeckte den harten Boden und ein noch recht frischer Wind wehte. Denn der Frühling war noch nicht in diesem nördlichen Teil Mittelerdes eingekehrt. Vereinzelte Schneefelder erinnerten noch an den Winter, der schnell wieder zurück kehren könnte.
Nicht weit entfernt von Thrain lag das Ufer des langen Sees. Leise schwappte das Wasser, dahin getrieben vom Wind. Der Geschmack des Sees lag in der Luft. Voller Schrecken erkannte Thrain die Ruinen dessen, was einst Seestadt gewesen war. Die Stadt musste gebrannt haben, schwarz ragten die Überreste der Häuser in die Höhe. Es konnte nicht lange her gewesen sein.
Hinter dem Zwerg versank die Sonne im Westen, ihre Strahlen tauchten die Hügel hinter dem langen See in goldenes Licht.
Und dahinter erhob sich der Erebor, Thrains Heimat. Er war zuhause.
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