32.2. ... und Exmatrikulationsbescheinigung
"Der Tanz … war heiß", kommentierte Olivia. "Ihr würdet ein gutes Paar abgeben."
Annabella verdrehte lediglich die Augen. Hätte Olivia den Tanz von Vitus und Annabella damals im Anker gesehen, hätte sie andere Maßstäbe für heiß angelegt. Doch statt ihr das auch noch unter die Nase zu reiben, suchte Annabella den Saal nach Vitus ab. Wo war er?
Als Ricardo ein wenig zerpflückt und desorientiert wirkend im Saal auftauchte, ereilte Annabella ein leiser Verdacht. Vitus war seit Beginn der Rede verschwunden und so kam sie zu dem Schluss, dass sich die beiden Männer getroffen hatten - mit den Fäusten, im Gesicht.
"Ich komme gleich wieder", informierte sie ihre Tante, erhob sich und eilte aus dem Saal.
Wer wusste, was Eifersucht aus einem Menschen machte. Vielleicht hatte Ricardo einen Dolch gezückt. Vielleicht hatte er Vitus etwas angetan, nachdem er hatte einsehen müssen, dass sich ein anderer Mann in ihr Herz geschlichen hatte.
Annabella folgte dem Korridor in den Nordflügel, da in diesem die Gaslampen brannten. "Vitus? Wo bist du?"
Sie bog um die Ecke und erkannte, dass aus der Tür zu Gustavs Schreibstube ein schmaler Lichtstreifen fiel. Dies war seltsam, immerhin war diese Tür seit dem Tod des verblichenen Gouverneurs eigentlich verriegelt.
Hastig trabte Annabella zur Schreibstube, schob die Tür auf und erblickte ihren Verehrer. "Vitus."
Er stand mit hinter dem Rücken verschränkten Händen vor dem Gemälde von Großmutter Inga und hielt irgendwelche Papiere zwischen den Fingern. "Tut mir leid", erwiderte er ohne seinen Blick vom Gemälde abzuwenden. "Die Tür stand offen. Dein Verflossener hat hier etwas gesucht und ich hab ihn gebeten, es sein zu lassen."
Bei Annabella fiel sofort der Fuchsling. Statt zu fragen, was Ricardo gewollt hatte, trat sie atemlos neben Vitus. "Hat er es gefunden?" Sie ahnte, dass nun auch Vitus davon wusste. Ihr Herz raste und Annabella versuchte, die in ihr aufwallende Panik zu unterdrücken.
Ihr Ehevertrag, abgeschlossen von Gustav, in Kombination mit dem Wissen, dass der alte Gouverneur ermordet worden war, war der Beweis für Annabellas Mordmotiv.
Vitus wusste von ihrer Abneigung gegenüber dem Eheleben - besonders vor einem solchen mit Ricardo. Und Vitus wusste auch, dass der Gouverneur ermordet worden war. Es passte perfekt zusammen: Die Enkelin, die ihren Großvater getötet hatte, um einer arrangierten Ehe zu entgehen.
Kopfschüttelnd beschwichtigte Vitus: "Keine Sorge. Dafür ist er zu dumm." Dann wurde er heiser. "Aber ich …"
Anhand der Papiere in seinen Händen, die Vitus vor seinem Körper zusammenführte, wurde ihr bewusst, dass statt Ricardo er den Ehevertrag gefunden hatte. Annabella erstarrte und gaffte in die Leere, die sie umgab. Schweigen war Gold. Worte wollten ihr ohnehin keine einfallen. Obwohl sie unschuldig war, fühlte es sich an, als hätte Vitus sie soeben überführt.
Er wandte sich ihr zu. "Pure Ironie, dass Inga dir dein Studium ermöglicht hat, ihr Porträt aber das Geheimnis deiner Zukunft verwahrt hat, nicht wahr?"
"Ist er das?", fragte sie mit brüchiger Stimme und nickte zum Papier. Der letzte Keim Hoffnung, dass Vitus vielleicht doch ein anderes Dokument gefunden hatte, wollte nicht erblühen.
Vitus neigte die Schriftstücke zu ihr. Im schummrigen Lampenschein konnte sie die Überschriften der Dokumente zwar kaum lesen, doch die kalligrafisch geschwungenen Lettern erkannte sie.
Exmatrikulationserklärung.
Ehevertrag.
"Du hast es gefunden. Ich wusste nicht, wo er es versteckt hat." Verzweifelt blickte Annabella von den Papieren auf, direkt in sein mitleidig dreinblickendes Gesicht.
Vitus legte den Kopf schief und leckte sich über die Oberlippe. Sein Mund stand kurz offen, als er einatmete und offenbar nach den richtigen Worten suchte. "Mir fiel wieder ein, dass Gustav und Inga einen Machtkampf geführt haben. Es scheint fast so, als hätte er ihr unter die Nase reiben wollen, dass er deine Zukunft nach seinen Wünschen gestaltet hat. Deswegen hat er die Dokumente, die deine vermeintliche Zukunft besiegeln würden, in einem Fach im Bilderrahmen versteckt."
Annabella schossen die Tränen in die Augen. Ihre Knie schlotterten, als hätte sie seit Tagen nichts mehr gegessen. Sie senkte den Blick auf den roten Teppich mit der ausgefransten Goldbordüre, genau wie damals, als Gustav ihr verkündet hatte, dass er ihre Exmatrikulation aus der Universität unterschrieben hatte und am nächsten Tag dem Dekan übergeben würde. Noch schlimmer aber war der Ehevertrag zwischen ihr und Ricardo. Annabella fühlte sich auch jetzt noch wie ein Stück Vieh, das ihr Großvater verkauft hatte.
Gustav hatte seine Enkelin nicht nur um ihr Juradiplom bringen, sondern aus ihr auch noch ein gehorsames Eheweib machen wollen, das für die Vergnügen ihres Mannes parat stand.
Damals wie heute war Annabella nichts weiter als ein geschlagener Hund, der winselnd den Schwanz einzog und sich mit keinen Worten der Welt mehr herauszureden wusste. Ihre Unterlippe bebte und Tränen nässten ihre Wangen.
Annabella schluchzte und japste nach Luft. Ein Kloß in ihrem Hals erstickte ihre Stimme. "Ich … hab ihn nicht ermordet. Er wollte mein Leben zerstören, ja, aber ich hätte mich anders gewehrt. Ihn verklagt", quietschte sie, ähnlich wie die ungeölten Angeln einer Tür. Natürlich hatte sie nicht gewusst, ob das funktioniert hätte und letztlich war Gustavs Tod ein Glücksfall gewesen, doch kampflos hätte sie nie aufgegeben.
Der Boden unter ihren Füßen verschwand und Annabella fiel in ein schwarzes Loch, das sich um sie drehte.
Gerade, als die über sie hereinbrechende Welle der Schwäche Annabella in die Knie zwingen wollte, fing Vitus sie auf und drückte sie an sich. Welche Wege ging das Schicksal, dass sie ausgerechnet den Mann in ihre Nähe gelassen hatte, der klug genug war, um das perfekte Mordmotiv zu enthüllen?
"Ich weiß, Annabella", krächzte Vitus.
Seine Nähe und Wärme verleiteten sie dazu, ihren Tränen freien Lauf zu lassen, ähnlich der Neumondnacht vor eineinhalb Wochen. Allzu schnell wollte sie ihn nicht loslassen, wusste sie doch nicht, was Vitus als nächstes vorhatte. Sie verhaften und in den Kerker werfen. Als Kriminalbeamter wäre das seine oberste Pflicht. Außerdem würde eine solche Verhaftung seine Chancen auf das Amt des Prinzipals geradezu beflügeln.
In ihrem Ohr raschelte Papier und Annabella wandte ihren Blick zur Seite. Während Vitus sie im Arm hielt, las er den Ehevertrag zwischen ihr und Ricardo vasta Thalbach.
"Warum wollte er dich mit diesem Tonto verheiraten?", fragte Vitus, den Blick auf die Papiere geheftet. "Ich dachte, die Thalbachs haben finanzielle Probleme - zumindest haben das unsere Ermittlungen gezeigt. Meinetwegen gehören sie der Oberschicht an, aber sie sind auf einem absteigenden Ast. Mit einer zweitklassigen Partie wäre Gustav doch nicht zufrieden gewesen"
Annabella schniefte. "Du vergisst, dass er mich gehasst hat. Die rebellische Enkelin, die sich gegen seine Ansichten mit Händen und Füßen gewehrt hat. Wahrscheinlich hätte es ihn gefreut, wenn ich in der Gosse lande."
Als sie wieder selbständig stehen konnte, löste sich Vitus aus der Umarmung, legte eine Hand ans Kinn und trat unter den flackernden Lichtschirm. "Unterschrieben hat nicht Werner vasta Thalbach, der Vater des Glücklichen und Betreiber des Thalbach-Kutschunternehmens."
"Sondern Ricardo selbst?", fragte Annabella mit großen, nassen Augen. Als er den Kopf schüttelte, runzelte sie die Stirn. "Wer dann?"
"Regina vasta Thalbach."
"Die Mutter?"
Vitus' Hand wanderte hinauf zu seiner Stirn und in Erkenntnis knetete diese. "Wir haben kürzlich Werner vasta Thalbachs Schreibstube durchsucht, weil Ricardo als Drogenkurier tätig ist und wir deswegen einen hinreichenden Verdacht hatten, dass der Vater der Koordinator des Ganzen sei. Dass er der Drogenbaron von Manava ist.
Aber … es ist seine Frau."
Annabella runzelte die Stirn. "Wie kommst du denn darauf?"
"Weil alles, jeder Vertrag und jede Vereinbarung, unter den männlichen Familienmitgliedern geschlossen wird. Einfach, weil Frauen keine Geschäfte regeln. Dass so etwas Wichtiges wie der Ehevertrag des eigenen Sohnes nicht vom Vater sondern von der Mutter unterzeichnet wurde, ist ein Indiz für Reginas Geschäftssinn.
Und dass sie außerdem bei mir der Stube war und gedroht hat, mich zu vernichten, ist ein Hinweis darauf, dass sie sich von mir in die Ecke gedrängt fühlt. Es sind zwar keine Beweise, aber sie muss es sein. Es ergibt alles einen Sinn: Deswegen haben wir bei Werner nichts gefunden. Weil alles seine Frau im Hintergrund gedeichselt hat. Sie ist der Baron, den wir solange gesucht haben." Er unterdrückte ein Lächeln und seufzte mit einer Zufriedenheit, als hätte er den Gipfel des Mauna Noe erklommen. Fast schon gerührt sagte er: "Die Alte ist heute Abend hier."
"Ja, die Thalbachs sind eingeladen. Oberschicht", entgegnete Annabella und zog die Nase hoch.
In seinen Augen funkelte lodernde Entschlossenheit. "Wenn das mal nicht der perfekte Zeitpunkt für eine Hausdurchsuchung und für eine Verhaftung ist."
"Du willst sie hier und jetzt in Ketten legen?"
Vitus steckte den Ehevertrag und die Exmatrikulationsbescheinigung in die Innentasche seines Jacketts. "Gewiss doch! Die Alte ist der Baron und wenn sie verhaftet ist, dann war kein anderes Gouverneursfest je von größerer Bedeutung als das heutige!"
Als er sich zur Tür wandte, erschien eine kleine Silhouette im Türrahmen. "Diesen Ausdruck verbitte ich mir!", sagte eine Frau mit strenger Stimme. Sie stand verborgen im Schatten und doch erkannte Annabella, um wen es sich handelte.
Die Dame trat ins Licht und zeigte ihr Gesicht. Regina vasta Thalbach. "Schließlich bin ich keine Alte!"
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